Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 20.08.1996) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 20. August 1996 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Rechtsstreit betrifft die Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg) ab 16. Juli 1993.
Der 1941 geborene Kläger ist ledig und deutscher Staatsangehöriger. Er war vom 1. Juni 1979 bis 31. Dezember 1991 als Manager bei einem Unternehmen in Belgien tätig, das ihm nach seinen Angaben Vergütungen bis 30. Juni 1992 erbrachte. Am 16. Juli 1993 meldete er sich, nachdem er sich nicht bei einem belgischen Arbeitsamt (ArbA) arbeitslos gemeldet hatte, beim ArbA I Berlin arbeitslos und beantragte Alg. Dieses lehnte den Antrag unter Hinweis auf Art 67 Abs 3 der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, vom 14. Juni 1971 (EWGV 1408/71) mit der Begründung ab, der Kläger habe nicht unmittelbar vor der Arbeitslosmeldung/Antragstellung eine beitragspflichtige Beschäftigung im Geltungsbereich des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) ausgeübt (Bescheid vom 27. Januar 1994; Widerspruchsbescheid vom 14. März 1994). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage – nach Vernehmung des Mitarbeiters G. der Beklagten als Zeugen – abgewiesen (Urteil vom 20. Januar 1995). Das Landessozialgericht (LSG) hat Termin zur mündlichen Verhandlung auf “Dienstag, den 20. August 1996, 10.40 Uhr” anberaumt. Durch ein Kanzleiversehen hieß es in der dem Bevollmächtigten des Klägers zugegangenen Terminsmitteilung, Termin zur mündlichen Verhandlung werde bestimmt auf “Dienstag, den 29. August 1996,10.40 Uhr”. Unter dem 1. August 1996 teilte der Kläger-Bevollmächtigte dem LSG unter dem Betreff: “Termin 29. August 1996” mit, er werde zum Termin zur mündlichen Verhandlung nicht anreisen; voraussichtlich werde der Kläger persönlich erscheinen. Das LSG hat im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 20. August 1996, an dem weder der Kläger noch sein Bevollmächtigter zugegen waren, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückgewiesen (Urteil vom 20. August 1996).
Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Alg oder Arbeitslosenhilfe. Er habe nicht die erforderlichen Anwartschaftszeiten erfüllt. Die in Belgien zurückgelegten Zeiten stünden in Deutschland zurückgelegten Zeiten nicht gleich, weil der Kläger weder zu den echten oder unechten Grenzgängern gehöre noch unmittelbar vor der Erfüllung der sonstigen Anspruchsvoraussetzungen in der deutschen Arbeitslosenversicherung beitragspflichtig beschäftigt gewesen sei. Schließlich könne er nicht im Wege des sog sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so gestellt werden, als hätte er vor dem 16. Juli 1993 eine beitragspflichtige Tätigkeit in Deutschland ausgeübt.
Mit der (zugelassenen) Revision rügt der Kläger eine Verletzung von Art 103 Abs 1 Grundgesetz (GG) und § 62 iVm § 110 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowie §§ 103, 106 Abs 1 SGG. Das LSG habe ihn in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt; er habe nicht die Möglichkeit gehabt, in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG (Ladung: 29. August 1996; tatsächliche Verhandlung: 20. August 1996), an der er habe teilnehmen wollen, zur Frage der unechten Grenzgängereigenschaft Tatsachen vorzutragen. Des weiteren habe das LSG gegen die Pflichten zur Amtsermittlung und Aufklärung verstoßen. Im übrigen hätte es ihn wegen fehlerhafter Beratung des ArbA im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so stellen müssen, als hätte er eine beitragspflichtige Beschäftigung in Deutschland ausgeübt.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 27. Januar 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 1994 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 16. Juli 1993 Alg zu gewähren, hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die zweitinstanzliche Entscheidung für in der Sache zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist iS der Aufhebung der zweitinstanzlichen Entscheidung und der Zurückverweisung an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das angefochtene Urteil beruht auf einem vom Kläger ordnungsgemäß gerügten Verfahrensmangel (§§ 162, 164 Abs 2 Satz 3 SGG).
Die Rüge des Klägers, das LSG habe ihn in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG; § 62 SGG) und auf ordnungsgemäße Mitteilung des Termins zur mündlichen Verhandlung (§§ 110 Abs 1 Satz 1, 153 Abs 1 SGG) verletzt, greift durch.
Ausdruck des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist, daß die jeweils Beteiligten zum gerichtlichen Verfahren herangezogen werden und Gelegenheit erhalten, sich vor Erlaß der Entscheidung zum Prozeßstoff zu äußern (BVerfGE 46, 185, 187; 60, 175, 210; 64, 135, 143 f; Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Komm zum GG, Art 103 Abs 1 Rzn 66 ff; Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl 1993, § 62 Rz 2). Demgemäß bestimmt der Vorsitzende Zeit und Ort der mündlichen Verhandlung und teilt sie den Beteiligten (in der Regel zwei Wochen vorher) mit (§ 110 Abs 1 Satz 1 SGG). Auf diese Weise soll sichergestellt werden, daß das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt wird, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 SGG).
Gegen diese Grundsätze hat das LSG, wie vom Kläger schlüssig dargetan, verstoßen. Obwohl der Vorsitzende Termin zur mündlichen Verhandlung auf “Dienstag, den 20. August 1996, 10.40 Uhr” bestimmt hatte, hieß es in der dem Bevollmächtigten des Klägers zugegangenen Terminsmitteilung vom 16. Juli 1996, Termin zur mündlichen Verhandlung werde auf “Dienstag, den 29. August 1996, 10.40 Uhr” anberaumt. Hierdurch ist dem Kläger die Möglichkeit genommen worden, den Termin zur mündlichen Verhandlung am “Dienstag, den 20. August 1996, 10.40 Uhr”, an dem er sowohl nach seinem eigenen Vorbringen als auch nach dem Inhalt des Schriftsatzes seines Bevollmächtigten vom 1. August 1996 teilnehmen wollte, wahrzunehmen. Damit erhielt er nicht die eigens erbetene Gelegenheit, sich vor Erlaß der Entscheidung zum Prozeßstoff zu äußern.
Ohne Bedeutung ist, daß es in dem an das LSG zurückgelangten Empfangsbekenntnis in vorgedruckter Form ua hieß: “Terminsmitteilung zum 20. August 1996 um 10.40 Uhr”. Dieses mit Datum vom 22. Juli 1996 und Unterschrift des Kläger-Bevollmächtigten versehene Empfangsbekenntnis diente lediglich als Nachweis der Zustellung der eigentlichen Terminsmitteilung (vgl § 5 Abs 2 Verwaltungszustellungsgesetz). Ebensowenig ist erheblich, daß die falsche Terminsmitteilung nicht auf ein Versehen des Vorsitzenden Richters, sondern der Kanzlei zurückzuführen ist. Das rechtliche Gehör ist schon dann verletzt, wenn das Gericht den Vortrag eines Beteiligten nicht hinreichend berücksichtigt (BVerfGE 40, 101, 104 f; 42, 364, 367 f). Auf Verschulden kommt es nicht an; denn das Gericht insgesamt ist dafür verantwortlich, daß dem Gebot des rechtlichen Gehörs Rechnung getragen wird (BVerfGE 46, 185, 187 f; Meyer-Ladewig, aaO, § 62 Rz 7).
Das die Berufung des Klägers zurückweisende Urteil des LSG beruht auch auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs und der nicht ordnungsgemäßen Terminsmitteilung. Es ist durchaus möglich, daß sich der Kläger, wie er schlüssig aufgezeigt hat, zu Dauer und Zweck seiner Tätigkeit für das belgische Unternehmen sowie zum Umfang ggf beibehaltener gesellschaftlicher Bindungen zu seinem ersten Wohnsitz in B.… (wohnhaft dort: Vater, Stiefmutter, Sohn) und eventueller sonstiger Bindungen zu einem weiteren Wohnsitz in L.… (wohnhaft dort: Lebensgefährtin) geäußert hätte, entsprechendes Beweismaterial vorgelegt und entsprechende Zeugen benannt hätte, wenn er zu der vom LSG für rechtserheblich erachteten Frage der unechten Grenzgängereigenschaft (Art 71 Abs 1 Buchst b ii EWGV 1408/71) gehört worden wäre. Demzufolge ist auch nicht auszuschließen, daß das LSG aufgrund der von ihm selbst zitierten einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung (EUGHE I 1990, 4163 = SozR 3-6050 Art 71 Nr 1; BSGE 68, 75 = SozR 3-6050 Art 71 Nr 2) und nach ggf weiteren Ermittlungen in tatsächlicher Hinsicht zu einem dem Kläger günstigen Ergebnis, nämlich zur Annahme des Bestehens eines Anspruchs auf Alg ab 16. Juli 1993, gelangt wäre.
Offenbleiben kann, ob die weiteren vom Kläger geltend gemachten Verfahrensmängel vorliegen und zu einer Aufhebung der zweitinstanzlichen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG führen würden.
Bei seiner neuen Entscheidung wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen