Leitsatz (amtlich)
Sind aus einem nach dem WFVG ergangenen Bescheid Schädigungsfolgen und Grad der MdE ohne ärztliche Untersuchung in einem Bescheid gemäß SVD 27 N 14 Abs 2 und 3 als maßgebend angenommen und sind sie sodann - ebenfalls ohne ärztliche Untersuchung - in einem Umanerkennungsbescheid nach BVG § 86 Abs 3 übernommen worden, so ist für die Frage , ob und seit wann eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen im Sinne des BVG § 62 eingetreten ist, von dem Zeitpunkt auszugehen, zu dem der nach dem WFVG erteilte Bescheid ergangen ist (Fortführung BSG 1960-01-21 8 RV 549/58 = BSGE 11,2 36-242.
Normenkette
BVG § 62 Fassung: 1950-12-20, § 86 Abs. 3 Fassung: 1950-12-20; SVD 27 § 14 Abs. 2-3; WFVG
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 15. Januar 1960 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln, Zweigstelle Aachen, vom 28. Juni 1957 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen
Gründe
Im November 1941 erlitt der Kläger als Soldat einen Autounfall und wurde am 21. August 1942 aus dem Wehrdienst entlassen. Ihm war durch Bescheid vom 29. September 1942 auf Grund des Wehrmachtsfürsorge- und -versorgungsgesetzes (WFVG) vom 26. August 1938 wegen "Folge nach Quetschung des linken Armnervengeflechts und einer leichten Gehirnerschütterung" Versehrtengeld nach Stufe I und nach dem Einsatzfürsorge- und -versorgungsgesetz vom 6. Juli 1939 Versehrtengeldzulage I gewährt worden. Die Rente fiel mit Ablauf des Monats Juli 1946 auf Anordnung der Militärregierung fort. Durch Bescheid vom 7. April 1948 wurde dem Kläger ohne ärztliche Untersuchung auf Grund der Sozialversicherungsdirektive (SVD) 27 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. wegen der gleichen Körperschäden gewährt. Der Umanerkennungsbescheid vom 3. Juli 1951 hat die Schädigungsfolgen sowie die Höhe der MdE ohne ärztliche Untersuchung übernommen. Durch Bescheid vom 29. November 1955 entzog das Versorgungsamt (VersorgA) die Rente mit Wirkung vom 31. Januar 1956 an gemäß § 62 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), weil nach dem Ergebnis einer Untersuchung durch den Nervenarzt Dr. Sch... Schädigungsfolgen i.S. des § 1 BVG nicht mehr vorlägen. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 14. Dezember 1955).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage nach Einholung eines Gutachtens von den Ärzten der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität B... mit einem Nebengutachten des Dozenten Dr. L... von der Universitäts-Augenklinik B... abgewiesen, weil die bisher anerkannt gewesenen Kriegsleiden in ihren Folgen ausweislich der ärztlichen Gutachten nicht mehr vorhanden seien.
Der Kläger hat Berufung eingelegt. Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 30. Januar 1959 hat das VersorgA den Bescheid vom 13. Juli 1959 erteilt. Durch ihn ist im Anschluß an den Entziehungsbescheid vom 29. November 1955 die Rentenentziehung auch noch auf die Vorschrift des § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) gestützt worden. Durch Urteil vom 15. Januar 1960 hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG wie folgt abgeändert:
"Der Widerspruchsbescheid des Versorgungsamts vom 14. Dezember 1955, der Bescheid des Versorgungsamts vom 29. November 1955 und der Berichtigungsbescheid vom 13. Juli 1959 werden aufgehoben."
Das Berufungsgericht hat zunächst festgestellt, daß keine Leiden mehr vorliegen, die auf den Wehrdienst oder den Unfall vom November 1941 zurückgeführt werden könnten; die anerkannten Schädigungsfolgen seien abgeheilt. Es hat dann aber ausgeführt, es lasse sich nicht feststellen, ob die wesentliche Änderung in den Verhältnissen vor oder nach dem 3. Juli 1951 (Datum des Umanerkennungsbescheides) eingetreten sei. Infolgedessen könne § 62 BVG nicht angewendet werden. Eine Berichtigung nach § 41 VerwVG sei ebenfalls nicht zulässig, weil nicht außer Zweifel stehe, daß der Umanerkennungsbescheid bereits zur Zeit seines Erlasses hinsichtlich der anerkannten Schädigungsfolgen unrichtig gewesen sei. Eine wahlweise Feststellung scheitere schon daran, daß die formellen Voraussetzungen des Entziehungsbescheides nach § 62 BVG und des Berichtigungsbescheides nach § 41 VerwVG verschieden seien und daß die Wirksamkeit der beiden Bescheide im vorliegenden Falle zu verschiedenen Zeitpunkten eintrete. Es hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zugelassen.
Der Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
1.) das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts vom 15. Januar 1960 aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen,
2.) hilfsweise unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Er ist der Ansicht, der Entziehungsbescheid gemäß § 62 BVG sei wirksam, weil hier auf den Bescheid nach dem WFVG zurückgegriffen werden müsse, um die wesentliche Besserung festzustellen. Er hält aber auch einen Bescheid auf Grund wahlweiser Feststellung für zulässig, weil jedenfalls feststehe, daß die seinerzeit anerkannten Schädigungsfolgen nicht mehr vorliegen.
Der Kläger ist nicht durch einen gemäß § 166 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten.
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und mithin zulässig. Das Rechtsmittel ist auch begründet.
Der Streit geht in erster Linie um die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 29. November 1955 über eine Neufeststellung auf Grund des § 62 BVG. Nach dieser Vorschrift ist der Anspruch neu festzustellen, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung des Anspruchs auf Versorgung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Beklagte ist der Ansicht, hier sei deshalb eine wesentliche Änderung eingetreten, weil nach dem Gutachten des Nervenarztes Dr. Sch... die erlittene Hirnerschütterung sicher abgeklungen und eine Quetschung des Nervengeflechts des linken Armes nicht mehr nachweisbar seien. Das LSG hat zwar festgestellt, daß nach diesem Gutachten gegenüber den Verhältnissen, welche im Bescheid vom 29. September 1942 bezeichnet sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Es hat aber die Anwendung des § 62 BVG deshalb für unzulässig gehalten, weil nicht festgestellt werden könne, ob diese Änderung in den Verhältnissen vor oder nach dem Erlaß des Umanerkennungsbescheides nach dem BVG vom 3. Juli 1951 eingetreten sei. Diese Auffassung ist nicht frei von Rechtsirrtum.
Durch den Bescheid vom 29. September 1942 waren als Körperschäden bezeichnet: "Folge nach Quetschung des linken Armnervengeflechts und einer leichten Gehirnerschütterung". Wenn auch sämtliche ärztlichen Unterlagen, welche zu diesem Bescheid, der Bezeichnung der Körperschäden und der Höhe der Versorgungsleistung geführt hatten, vernichtet sind, so steht doch jedenfalls die Leidensbezeichnung und die Höhe der Versorgung fest. Dies hat ausgereicht, die Zahlung der Versorgungsleistungen auf Grund der SVD 27 wieder aufzunehmen. Nach § 14 II dieser Direktive war ein neuer Antrag für den zu erteilenden Bescheid nicht erforderlich; vielmehr war es möglich, die Entscheidung über den Zusammenhang der Beschädigung mit den in § 4 der SVD 27 bezeichneten Ursachen und über den Grad des Verlustes der Erwerbsfähigkeit vorläufig - vorbehaltlich anderer Anordnungen - als maßgebend anzunehmen; ein neuer Bescheid war damals an sich nicht erforderlich. Hiermit stimmt Nr. 24 der Sozialversicherungsanordnung 11 überein.
Dieser Umanerkennung nach § 14 SVD 27 ohne ärztliche Nachuntersuchung ist eine zweite - ebenfalls ohne ärztliche Untersuchung - nach § 86 BVG gefolgt. Wegen dieser Eigenart des vorliegenden Sachverhalts ist für die Anwendung des § 62 BVG zunächst zu prüfen, wie während der Geltungsdauer der Direktive bei einer Neufeststellung der Rente des Klägers wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse, die für die Feststellung der Versorgung maßgebend gewesen waren, verfahren werden mußte (vgl. § 608 der Reichsversicherungsordnung - RVO - i.V.m. § 1 SVD 27). Der Senat ist dabei von der Rechtsprechung des Reichsversorgungsgerichts (RVG) zur Frage der Umstellung der Renten auf Grund des Gesetzes über die Versorgung der vor dem 1. August 1914 aus der Wehrmacht ausgeschiedenen Militärpersonen und ihrer Hinterbliebenen in der Fassung vom 30. Juni 1923 (RGBl I 1923, 542) - Altrentnergesetz (ARG) - ausgegangen. Das RVG hat bei der Auslegung des § 57 Reichsversorgungsgesetz (RVG) entschieden, daß die nach § 2 ARG ohne Nachuntersuchung erlassenen Umanerkennungsbescheide hinsichtlich ihrer Bedeutung und Wirkung den auf Grund einer Nachuntersuchung erlassenen Bescheiden völlig gleich seien; sie seien vollgültige Feststellungsbescheide. Das gleiche gelte hinsichtlich ihres Inhalts. Die in § 2 ARG geregelte Übernahme der bisherigen Bewertung bedeute, daß das Untersuchungsergebnis der letzten Rentenfeststellung auch für den Umanerkennungsbescheid maßgebend sein solle. Der letzte unter der Herrschaft der bisherigen Versorgungsgesetze ergangene Bescheid und der Umanerkennungsbescheid seien also durch die Vorschrift des § 2 ARG dergestalt zu einer Einheit verschmolzen, daß das frühere Untersuchungsergebnis und seine Bewertung auch die Unterlage für die Bemessung der Rente nach dem ARG bilde. Dieses Untersuchungsergebnis und seine Bewertung stelle also bei den ohne Nachuntersuchung ergangenen Bescheiden die Verhältnisse dar, die für die Feststellung maßgebend gewesen seien (vgl. RVG 5, 24, 27; 6, 117). Der Senat tritt diesen Grundsätzen bei. Ihre Anwendung auf den vorliegenden Fall hat zur Folge, daß der letzte vor der SVD 27 ergangene Bescheid - nämlich der Bescheid vom 29. September 1942 und der auf Grund des § 14 II und III SVD 27 ergangene Bescheid vom 7. April 1948 derartig zu einer Einheit verbunden sind, daß das frühere Untersuchungsergebnis vom Jahre 1942 die Unterlage für die Bemessung der Rente nach der SVD 27 bildet. Dieses frühere Untersuchungsergebnis stellte also bei dem ohne Nachuntersuchung ergangenen Bescheid vom 7. April 1948 die Verhältnisse dar, die für die Bescheiderteilung nach der SVD 27 maßgebend waren. Der Zustand des Beschädigten zur Zeit des Erlasses dieser ersten Umanerkennung war dagegen nicht maßgebend.
Da die schon nach der SVD 27 ohne neue ärztliche Untersuchung übernommenen Grundlagen des Bescheides vom 29. September 1942, nämlich die Anerkennung der Schädigungsfolgen und die Höhe der MdE wieder durch den Umanerkennungsbescheid vom 3. Juli 1951 ohne ärztliche Untersuchung übernommen worden sind, ist in Anwendung der Entscheidung des Senats vom 21. Januar 1960 (BSG 11, 236 ff, 241-242) der SVD-Bescheid mit seinem ganzen Inhalt mit dem Umanerkennungsbescheid vom 3. Juli 1951 zu einer solchen Einheit verschmolzen worden, daß bei Anwendung des § 62 BVG auf die nach den ärztlichen Feststellungen im Jahre 1942 maßgebenden Verhältnisse zurückgegangen werden kann. Infolgedessen kommt es für die Neufeststellung nach § 62 BVG auf die Verhältnisse an, die zur Zeit des Erlasses des Bescheides vom 29. September 1942 maßgebend gewesen sind.
Das LSG hat hier den vom Nervenarzt Dr. Sch... erhobenen Befund mit ärztlichen Unterlagen aus der Zeit vor dem September 1942 nicht vergleichen können, weil diese mit den alten Versorgungsakten durch Kriegseinwirkungen vernichtet worden sind. Es hat trotzdem festgestellt, daß in den Verhältnissen, die damals für die Gewährung von Versorgung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Gegen diese Feststellung sind Revisionsrügen nicht erhoben worden. Dies ist im vorliegenden Falle zwar nicht allein maßgebend, weil die angefochtene Entscheidung nicht auf dieser Feststellung beruht. Die Feststellung des LSG ist aber ihrem Inhalt nach unbedenklich. Grundsätzlich bilden die Ereignisse ärztlicher Untersuchungen die Grundlage für die Nachprüfung, ob sich die bei der Feststellung der Versorgung maßgebenden gesundheitlichen Verhältnisse i.S. des § 62 BVG geändert haben. Die ärztlichen Unterlagen aus dem Jahre 1942 sind im vorliegenden Falle durch Kriegseinwirkungen vernichtet. Dies führt hier aber nicht dazu, daß eine wesentliche Änderung der Verhältnisse nicht nachweisbar wäre und mithin in Anwendung des Grundsatzes der objektiven Beweislast (vgl. BSG 6, 70 ff) der Beklagte die Folgen der objektiven Beweislosigkeit einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse zu tragen hätte. Vielmehr ist das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung in der Leidensbezeichnung des Bescheides vom 29. September 1942 so eindeutig mitgeteilt, daß dies für einen Vergleich mit dem später ermittelten Zustand ausreicht. Infolgedessen standen dem LSG für seine Feststellung, gegenüber den für die Rentenfeststellung vom 29. September 1942 maßgebenden Verhältnissen sei eine wesentliche Änderung eingetreten, hinreichende Grundlagen zur Verfügung, so daß diese Feststellung des Berufungsgerichts das Revisionsgericht bindet.
Demnach sind die Voraussetzungen für die Anwendung des § 62 BVG gegeben. Da die Erwerbsfähigkeit nicht mehr in einem die Gewährung von Rente begründenden Grade herabgesetzt ist, ist auch die Entziehung der bisherigen Versorgungsrente durch den Bescheid vom 29. November 1955 bedenkenfrei. Bei dieser Sach- und Rechtslage kann und braucht auf die Frage der Rechtsgültigkeit des auf Grund des § 41 VerwVG erteilten Bescheides vom 13. Juli 1959 und auf die Frage, ob eine wahlweise Feststellung - Wirksamkeit der Rentenentziehung auf jeden Fall (§ 62 Abs. 1 BVG oder § 41 VerwVG) - zulässig ist, nicht eingegangen zu werden.
Das angefochtene Urteil beruht also auf einer unrichtigen Anwendung des § 62 BVG und ist nach § 170 Abs. 2 SGG aufzuheben. Der Rechtsstreit ist auf Grund der tatsächlichen Feststellung des Berufungsgerichts entscheidungsreif; denn der Bescheid vom 29. November 1955 ist richtig. Mithin war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Köln, Zweigstelle Aachen, vom 28. Juni 1957 zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193
Fundstellen