Entscheidungsstichwort (Thema)

Kriegsopferversorgung. Witwenrente. Versorgungsleiden. Todesursache. Zusammenhangsbeurteilung. freie Beweiswürdigung

 

Orientierungssatz

Ein Gericht, das es unterläßt, den ursächlichen Zusammenhang zwischen einer anerkannten Schädigung und dem Todesleiden nach den Grundsätzen der Wahrscheinlichkeit zu überprüfen, obwohl auf Grund ärztlichen Gutachtens, feststeht, daß der Versorgungsberechtigte mit "hoher" Wahrscheinlichkeit an den Folgen des Versorgungsleidens verstorben ist, verstößt gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs. 3, § 38 Abs. 1; SGG § 128

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 31.03.1965)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 31. März 1965 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Klägerin begehrt Witwenrente nach ihrem am 20. November 1916 geborenen und am 16. Juli 1959 gestorbenen Ehemann. Ihr Ehemann bezog wegen "ausgedehnter Brandnarben am rechten Arm, Rücken und rechten Oberschenkel, Folgezustand nach Thrombosen im rechten Bein mit erheblichen Zirkulationsstörungen und Neigung zu Geschwürsbildungen, Folge von Krampfadern", zuletzt eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 60 v. H..

Das Versorgungsamt (VersorgA) lehnte mit Bescheid vom 18. September 1959 die Witwenrente ab, weil der Ehemann der Klägerin an einem Herzinfarkt verstorben sei, der nicht Schädigungsfolge sei. Der Widerspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 3. November 1959). Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 22. November 1963 den Beklagten u. a. verurteilt, der Klägerin Witwenrente ab 1. Juli 1959 zu gewähren. Das SG hat, gestützt auf das Gutachten von Prof. Dr. B vom 27. Juni 1963, das Versorgungsleiden mit einem Grad an hoher Wahrscheinlichkeit als Ursache für den Tod des Ehemannes angesehen, dagegen einen Herzinfarkt als Todesursache für sehr unwahrscheinlich gehalten. Auf die vom Beklagten hiergegen eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 31. März 1965 das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Klage auf Witwenrente abgewiesen. Ausgehend von § 38 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) hat das LSG ausgeführt, daß der Klägerin gemäß § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG ein Anspruch auf Witwenrente zustände, wenn ihr Ehemann an den Folgen einer Schädigung i. S. von § 1 BVG verstorben wäre. Der erforderliche Zusammenhang wäre bereits dann gegeben, wenn der Ehemann mit der gemäß § 1 Abs. 3 BVG erforderlichen Wahrscheinlichkeit an dem anerkannten Leiden verstorben wäre. Das LSG hält aber den rechtlich erforderlichen, ursächlichen Zusammenhang nicht für gegeben. Vor der Prüfung des Ursachenzusammenhanges zwischen dem anerkannten Schädigungsleiden und dem Tod müsse das Todesleiden mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, also voll bewiesen, festgestellt werden. An dieser Voraussetzung fehle es, weil nach dem Gutachten des Prof. Dr. B, der als Todesleiden mit einem Grad von hoher Wahrscheinlichkeit eine Lungenembolie angenommen habe, ein Herzinfarkt zwar sehr unwahrscheinlich, aber immerhin möglich gewesen sei. Damit fehle der erforderliche "volle Beweis" für die Natur des Todesleidens, so daß schon aus diesem Grunde die Vermutung des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG nicht angewendet werden könne. Der Klägerin stehe daher ein Anspruch auf Witwenrente nicht zu.

Mit der nicht zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verfahrensmängel nach § 103 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Während Prof. Dr. B mit "hoher Wahrscheinlichkeit" eine Lungenembolie als Todesleiden angenommen habe, sei das Berufungsgericht nur von der einfachen "Wahrscheinlichkeit" ausgegangen. Es habe daher das Gutachten ungenügend und unzutreffend gewürdigt. Weiter habe das LSG nicht geprüft, ob die Ausführungen des Prof. Dr. B nicht dahin zu verstehen seien, daß die Lungenembolie "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" das Todesleiden dargestellt habe. Das LSG habe daher sein Beweiswürdigungsrecht verletzt. Es hätte außerdem den Gutachter noch zu einer näheren Erläuterung seiner Feststellungen auffordern müssen, da der Beweisbeschluß am 9. April 1963 nicht ausführlich genug gewesen sei. Damit sei § 103 SGG verletzt.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin als unzulässig zu verwerfen.

Es sei der Würdigung des Gerichts vorbehalten, ob ein Sachverständiger richtige Schlüsse gezogen habe. Das LSG habe das Gutachten des Prof. Dr. B weder falsch ausgewertet noch für unzureichend gehalten. Daher habe es die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung nicht überschritten.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs. 2 SGG). Die nicht zugelassene Revision der Klägerin ist in gehöriger Form und Frist erhoben (§ 164 SGG); sie ist auch statthaft, weil die Rüge einer fehlerhaften Beweiswürdigung (§ 128 SGG) durchgreift.

Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Rentenanspruch davon abhängt, ob der Ehemann der Klägerin an den Folgen einer Schädigung i. S. des § 1 BVG verstorben ist. Dies stimmt mit § 38 Abs. 1 BVG überein. Nach dieser Vorschrift hat u a die Witwe Anspruch auf Hinterbliebenenrente, wenn ein Beschädigter an den Folgen einer Schädigung gestorben ist.

Der Tod gilt stets dann als Folge einer Schädigung, wenn ein Beschäftigter an einem Leiden stirbt, das als Folge einer Schädigung rechtsverbindlich anerkannt und für das ihm im Zeitpunkt des Todes Rente zuerkannt war. Bei der Prüfung des Anspruchs der Klägerin hat sich das LSG - entgegen der von ihm angezogenen Vorschrift - darauf beschränkt zu prüfen, ob die Rechtsvermutung der zweiten Alternative durchgreift; es hat, nachdem es diese Frage verneint hat, die Beweiswürdigung abgeschlossen. Dies ist nicht frei von Rechtsirrtum. Vielmehr ist die Beweiswürdigung nach der im angefochtenen Urteil vorangestellten sachlich-rechtlichen Beurteilung und dem Ergebnis der dem LSG vorliegenden Beweisaufnahme unvollständig. Das Berufungsgericht hat nicht gebührend berücksichtigt, daß es außerdem den ursächlichen Zusammenhang zwischen der anerkannten Schädigung und dem Todesleiden nach den Grundsätzen der Wahrscheinlichkeit (§ 1 Abs. 3 BVG) hätte prüfen müssen. Zwar ist bei der Beurteilung von Verfahrensmängeln vom sachlich-rechtlichen Standpunkt der Tatsacheninstanz auszugehen (SozR SGG § 103 Nr. 7). Der vom LSG vorstehend dargelegte sachlich-rechtliche Standpunkt war aber ohne Einschränkung darauf erstreckt, daß der Klägerin dann Anspruch auf Witwenrente zustehe, wenn der Ehemann an den Folgen einer Schädigung i. S. des § 1 ff BVG verstorben wäre. Von diesem Standpunkt aus durfte sich das LSG bei der Beweiswürdigung nicht nur auf die Prüfung der Voraussetzung für die unwiderlegbare Rechtsvermutung des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG beschränken, sondern mußte auch seine Aufgabe in der Beweiswürdigung darin sehen, unabhängig von der Beweiserleichterung des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG zu prüfen, ob der Tod des Ehemannes der Klägerin mittelbare oder unmittelbare Schädigungsfolge i. S. des § 1 BVG ist. Von einer derartigen Beweiswürdigung konnte mithin das LSG auch von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus nicht absehen. Eine derartige ausgedehnte Beweiswürdigung hat das LSG unterlassen. Es hätte sich hierzu veranlaßt sehen müssen, weil es bereits die Voraussetzung für die Anwendung der Rechtsvermutung verneint hat und daher mit Hilfe der Beweiserleichterung des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG nicht an das Klageziel herankommen konnte, obgleich niemand den Zusammenhang des Versorgungsleidens mit einem schädigenden Vorgang i. S. des § 1 BVG in Zweifel gezogen hat. Dadurch, daß das LSG die nur für einen Teil der Ansprüche auf Witwenrente bedeutsame Rechtsvermutung auf jeden Anspruch auf Witwenrente ausgedehnt wissen wollte, hat es versäumt, die eigentliche Beweisfrage, ob der Tod des Beschädigten wahrscheinlich Folge des Versorgungsleidens (mittelbare Schädigungsfolge) ist, zu prüfen. Es hat daher seine Aufgabe in der Beweiswürdigung nicht erschöpft und mithin das Gesamtergebnis des Verfahrens unberücksichtigt gelassen. Der Verfahrensmangel ist auch wesentlich, weil bei Würdigung der Beweisfrage, insbesondere unter Würdigung des Gutachtens von Prof. Dr. B, die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, daß das LSG zu einem anderen, nämlich der Klägerin günstigeren Ergebnis gekommen wäre. Wegen dieses Mangels in der Beweiswürdigung (§ 128 SGG) ist die Revision begründet, weshalb das angefochtene Urteil mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben ist.

Da schon die Rüge einer fehlerhaften Beweiswürdigung durchgreift, erübrigt sich für den erkennenden Senat noch zu prüfen, ob auch die Rüge der mangelhaften Sachaufklärung begründet ist. Da dem Revisionsgericht verwehrt ist, selbst Beweise zu würdigen, kann es in der Sache selbst nicht entscheiden. Der Rechtsstreit war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2290967

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