Entscheidungsstichwort (Thema)
Kriegsopferversorgung. Versorgungsrente. Berichtigungsbescheid. freie Beweiswürdigung
Orientierungssatz
Das Gericht überschreitet sein Recht auf freie Beweiswürdigung, wenn es bei der Feststellung der Voraussetzungen für den Entzug einer Versorgungsrente hinsichtlich der Beurteilung, ob ein Herzklappenfehler als Folge einer im Krieg erlittenen Schädigung anzusehen ist, einem ärztlichen Gutachten folgt, das Widersprüche aufweist und nicht den Anforderungen genügt, die eine "außer Zweifel" im Sinne von KOVVfG § 41 stehende Entscheidung ermöglichen.
Normenkette
KOVVfG § 41; SGG §§ 128, 162 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 10.02.1965) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 16.02.1956) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen vom 10. Februar 1965 abgeändert.
Auf die Klage wird der Berichtigungsbescheid vom 4. Juli 1957 aufgehoben.
Soweit das Landessozialgericht die Klage gegen den Neufeststellungsbescheid vom 12. Juni 1956 abgewiesen hat, wird die Revision des Klägers zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger 1/5 der außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
Der 1925 geborene Kläger stellte am 12. Februar 1949 erstmals Versorgungsantrag wegen eines Herzleidens, das er sich beim Reichsarbeitsdienst (RAD) und im Wehrdienst während des zweiten Weltkrieges zugezogen habe. Das Versorgungsamt (VersorgA) D gewährte ihm mit Bescheid vom 17. Mai 1950 wegen eines "Herzklappenfehlers (hervorgerufen)" Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H. vom 1. März 1949 an. Der Umanerkennungsbescheid vom 19. April 1952 übernahm unverändert die festgestellte Schädigungsfolge sowie die Höhe der MdE. Mit Neufeststellungsbescheid vom 18. April 1953 wurde die Rente vom 1. Juni 1953 an entzogen, weil sich das Leiden wesentlich gebessert und das EKG "völlig normale Werte" auch bei Belastung ergeben habe. Der Widerspruch des Klägers hatte zwar keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 18. Januar 1954), das Sozialgericht (SG) Dortmund hob aber den Neufeststellungsbescheid durch Urteil vom 16. Februar 1956 auf, weil seit der Zustellung des letzten Feststellungsbescheides noch nicht zwei Jahre abgelaufen gewesen seien (§ 62 Abs. 2 Satz 1 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG aF -). Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt. Er hat zugleich mit dem Ausführungsbescheid den Neufeststellungsbescheid vom 12. Juni 1956 erlassen, welcher dem Kläger die Rente vom 1. August 1956 an entzog, weil die MdE weniger als 25 v. H. betrage. Weiter hat er gemäß § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) mit Berichtigungsbescheid vom 4. Juli 1957 die Bescheide vom 17. Mai 1950, 19. April 1952 und 18. April 1953 aufgehoben, weil die Anerkennung des Herzklappenfehlers nach dem nachträglich gefundenen Untersuchungszeugnis über die Fliegertauglichkeit des Klägers vom 3. Februar 1943 zweifelsfrei unrichtig gewesen sei.
Schließlich hat das VersorgA gemäß § 42 VerwVG den Anfechtungsbescheid vom 6. Dezember 1961 erlassen, mit dem es wehrdienstbedingte Schädigungsfolgen verneint hat. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 10. Februar 1965 das erstinstanzliche Urteil abgeändert. Es hat den Anfechtungsbescheid vom 6. Dezember 1961 aufgehoben, weil die für seine Zulässigkeit in § 43 Abs. 2 Satz 2 VerwVG bestimmte Frist von fünf Jahren bereits verstrichen gewesen sei. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen, soweit sie sich gegen den Neufeststellungsbescheid vom 12. Juni 1956 und gegen den Berichtigungsbescheid vom 4. Juli 1957 richtete. Es hat die Rentenbescheide ohne Zweifel für tatsächlich und rechtlich unrichtig gehalten, weil die Sachverständigen -Oberarzt Dr. S (Gutachten vom 9. Oktober 1961) und Prof. Dr. U (Gutachten vom 25. Mai 1964) - einen Herzklappenfehler ausgeschlossen hätten. Das Berufungsgericht hat die Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Leistungen bereits vom 1. Juni 1953 an und nicht erst vom 1. April 1955 an für gerechtfertigt angesehen. Der Kläger habe wegen unzutreffender Angaben die Unrichtigkeit der Bescheide verschuldet; er könne daher keinen Vertrauensschutz genießen (BSG 15, 81; BVerfG 10, 309).
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des Gesetzes bei der Beurteilung der Zusammenhangsfrage. Das LSG habe unberücksichtigt gelassen, daß die Gutachter Dr. S und Prof. Dr. U eine sichere Diagnose wegen des Herzklappenfehlers nicht gestellt hätten. Um zu einer sicheren Diagnose zu gelangen, hätte das Berufungsgericht eine Herzkatheterisierung durchführen lassen müssen, zumal sich der Kläger dazu bereiterklärt hätte.
Im übrigen sei das Vorbringen des Klägers nicht widerlegt, daß das Herzleiden zumindest durch den Wehrdienst verschlimmert worden sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 10. Februar 1965 aufzuheben, die Berufung des Beklagten zurückzuweisen und die Bescheide vom 12. Juni 1956, 4. Juli 1957 und 6. Dezember 1961 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen.
Er hält die Entscheidung des LSG für richtig. Die Revision habe nicht dargelegt, daß eine weitere Sachaufklärung zu einer anderen Entscheidung hätte führen können; denn in der Revisionsbegründung sei nicht angegeben, zu welchem Ergebnis eine Herzkatheterisierung geführt hätte.
Die Beteiligten haben sich schriftlich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie wäre daher nur statthaft, wenn der Kläger mit Erfolg rügt, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) oder das LSG habe bei der Beurteilung der Zusammenhangsfrage (§ 1 BVG) das Gesetz verletzt (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Da der gerügte Verfahrensmangel vorliegt, ist die Revision statthaft und zulässig. Sie ist jedoch nur zum Teil begründet.
Das LSG ist bei seiner Entscheidung von § 41 VerwVG ausgegangen. Diese Vorschrift setzt für die Aufhebung eines Bescheides seine tatsächliche und rechtliche Unrichtigkeit voraus. Auf Grund der Gutachten der Sachverständigen Dr. S und Prof. Dr. U hat das LSG festgestellt, daß ein Herzklappenfehler beim Kläger zur Zeit des Erlasses der aufgehobenen Bescheide vom 17. Mai 1950, vom 19. April 1952 und vom 18. April 1953 nicht bestanden haben könne. Sonst hätten seit 1944 unübersehbare Umbauvorgänge des Herzens eintreten müssen; solche Umbauvorgänge fehlten aber im Herzen des Klägers. Wie die Revision mit Recht rügt, haben indes die Sachverständigen in dieser "zweifelsfreien Bestimmtheit" einen Herzklappenfehler nicht ausgeschlossen. Oberarzt Dr. S hat in seinem mündlichen Gutachten zur Sitzung vor dem LSG vom 9. Dezember 1960 dargelegt, daß nach seiner Ansicht ein "kleiner Ventrikel-septum-Defekt des Herzens" vorliege und eine Mitralinsuffizienz, die bisher angenommen worden sei, unwahrscheinlich sei. Eine Diphterie sei nicht geeignet, einen Herzklappenfehler hervorzurufen. Der Ventrikel-Defekt sei sicher angeboren und wahrscheinlich schon bei der Fliegertauglichkeitsprüfung (3. Februar 1943) in Form eines systolischen Geräusches aufgefallen. Eine Verschlimmerung dieses Herzfehlers durch Belastung des Wehrdienstes sei unwahrscheinlich. In seinem schriftlichen Gutachten vom 9. Oktober 1961 hat der Sachverständige erwähnt, daß der Kläger während des Arbeitsdienstes eine schwere Angina durchgemacht habe. Während dieser Erkrankung sei ein Herzgeräusch aufgefallen. Chronisch entzündete Tonsillen führten jedoch in den seltensten Fällen zu einer isolierten Reaktion der Herzinnenhaut. Ein Herzklappenfehler sei daher zu Unrecht als "durch WBD verursacht" anerkannt worden. Ein Ventrikel-Defekt hätte zu anderen chronischen Umbauveränderungen des Herzens geführt. Tatsächlich habe sich nur eine "leichte Vergrößerung des linken Vorhofes" gefunden. Am ehesten handele es sich um ein Ventrikel-septum-Defekt. Eine sichere Diagnose ließe sich jedoch nur durch Katheterisierung des Herzens und durch Sondierung des Defekts feststellen. Aber auch insoweit müßte eine Wehrdienstbeschädigung (WDB) verneint werden. Die MdE des Klägers betrage seit Mai 1953 O v. H.. Prof. Dr. U hat im Gutachten vom 25. Mai 1964 ein systolisches Geräusch über der Herzspitze bestätigt, jedoch kein Zeichen einer Leistungsminderung gefunden. Im Herz beständen keinerlei Zeichen einer Unausgeglichenheit, jedoch sei eine sichere Diagnose nur mittels Herzkatheterisierung möglich. Da das Herzgeräusch schon 1943 bestanden habe, sei das Leiden außer Zweifel zu Unrecht als durch den Wehrdienst bedingt angesehen worden.
Eine rheumatische Erkrankung hätte massive Krankheitsumbauveränderungen am Herzen in den vergangenen Jahren verursacht, die im EKG und im Röntgenbild sichtbar geworden wären.
Diese gutachtlichen Äußerungen reichen für die Feststellung des LSG, daß der von der Versorgungsverwaltung anerkannte Herzklappenfehler zweifelsfrei tatsächlich nicht bestanden habe, nicht aus. Zwar sind beide Gutachter zu dem Ergebnis gekommen, daß der Herzfehler außer Zweifel zu Unrecht anerkannt worden sei. Sie haben aber diese Feststellung nicht frei von Widerspruch getroffen. Denn beide Gutachter haben mehrfach auch den Wahrscheinlichkeitsmaßstab gelten lassen, um ihre Diagnose zu stützen. Das reicht aber nicht aus. Denn "außer Zweifel stehen" in § 41 VerwVG bedeutet nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), daß der Entscheidende von der "tatsächlichen und rechtlichen Unrichtigkeit" der zu berichtigenden Bescheide so weit überzeugt ist, daß er jede aus dem festgestellten Sachverhalt sich ergebende, wenn auch fernliegende Möglichkeit, es könne anders sein, als ausgeschlossen ansieht (BSG in SozR VerwVG § 41 Nr. 1). Von dieser rechtlichen Beurteilung ist auch das LSG bei seiner Beweisanordnung ausgegangen. Es hat sich auf die Voraussetzungen des § 41 VerwVG bezogen und damit eine zweifelsfreie Feststellung gewollt. Hiernach genügen die beiden Gutachten vom 9. Oktober 1961 und 25. Mai 1964 nicht, um zweifelsfrei darzutun, daß ein Herzklappenfehler beim Kläger nicht bestanden hat. Hinzu kommt, daß es vorliegend vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG nicht so sehr darauf ankommt, ob beim Kläger gerade ein "Herzklappenfehler" als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 BVG vorgelegen hat. Zwar ist nur ein "Herzklappenfehler" anerkannt worden; maßgebend ist vielmehr immer der den Beschwerden zugrunde liegende Leidenszustand, der auch ein Ventrikel-septum-Defekt (Kammerscheidenwandfehler) gewesen sein kann (s. dazu SozR VerwVG § 41 Nr. 16; BVG § 1 Nr. 66). Selbst wenn der Fehler auch angeboren sein mag, so müßte bei zweifelsfreiem Fehlen einer wehrdienstbedingten Schädigungsfolge auch eine Verschlimmerung von Anfang an durch den Wehrdienst ausgeschlossen werden (vgl. BSG 18, 260).
Die Feststellung, daß der anerkannte Herzklappenfehler (oder der diesen Beschwerden zugrunde liegende Leidenszustand) nicht (auch nicht in der Form einer Verschlimmerung) bestanden hat, läßt sich - wie bereits dargelegt - aus den Gutachten - jedenfalls in der Form der Zweifelsfreiheit - nicht herleiten. Das LSG hat mithin die Grenzen seines Beweiswürdigungsrechts (§ 128 SGG) überschritten. Dieser Verfahrensmangel ist wesentlich; er macht die Revision statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Sie ist insoweit auch begründet; denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG bei zutreffender Beweiswürdigung teilweise anders entschieden hätte.
Der Senat konnte trotz dieses Verfahrensfehlers in der Sache selbst entscheiden, weil das LSG im unbestrittenen Sachverhalt festgestellt hat, daß "chronisch entzündete Tonsillen" nur in den seltensten Fällen eine isolierte Reaktion der Herzinnenhaut herbeiführen. Diese, von dem LSG festgestellte, aus dem Gutachten des Dr. S übernommene entfernte Möglichkeit läßt im Hinblick auf die oben angeführte Rechtsprechung des BSG zu § 41 VerwVG nicht mehr zu, den Berichtigungsbescheid vom 7. April 1957 aufrechtzuerhalten. Damit hat das LSG die Klage gegen den Berichtigungsbescheid zu Unrecht abgewiesen und das angefochtene Urteil war daher insoweit abzuändern.
Soweit sich die Revision gegen den Neufeststellungsbescheid vom 12. Juni 1956 richtete, reichen die Feststellungen des LSG aus, um die Entscheidung zu tragen; denn für die Tatsache des Wegfalls der wehrdienstbedingten Gesundheitsstörung (Herzklappenfehler) sind andere Voraussetzungen erforderlich als bei einem auf § 41 VerwVG gestützten Bescheid. Dies hat das LSG ausreichend dargetan, weil gegenüber den Vergleichsgutachten - bei der Rentenbewilligung - der damals angenommene Herzklappenfehler oder dessen Grundleiden nicht mehr nachweisbar und die Leistungsfähigkeit des Klägers in keiner Weise mehr beeinträchtigt war (vgl. die vom LSG übernommenen Gutachten der versorgungsärztlichen Untersuchungsstelle vom 23. Oktober 1952 und des Obermedizinalrats Dr. P vom 1. Dezember 1954). Dieser Zustand ist schon in dem Neufeststellungsbescheid vom 18. April 1953, in dem die MdE mit weniger als 20 v. H. angenommen worden war, festgehalten worden. Wirksam ist diese Neufeststellung jedoch erst durch den Neufeststellungsbescheid vom 12. Juni 1956 geworden, der die Rente mit Wirkung vom 1. August 1956 an entzogen hat. Dieser Neufeststellungsbescheid kann nach den tatsächlichen Feststellungen nur dahin verstanden werden, daß dem anerkannten Schädigungsleiden nur noch eine geringe Bedeutung zukommt und die MdE daher unter 25 v. H. liegt.
Die ebenfalls gerügte Gesetzesverletzung in der Beurteilung der Zusammenhangsfrage (§ 1 BVG) liegt nicht vor, weil das LSG nicht über den ursächlichen Zusammenhang, sondern bei dem Neufeststellungsbescheid lediglich über die Höhe der MdE zu entscheiden hat. Die hiernach erhobene Rüge nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG greift daher nicht durch.
Auf die Revision des Klägers war daher das Berufungsurteil vom 10. Februar 1965 dahin abzuändern, daß neben dem Anfechtungsbescheid vom 6. Dezember 1961 auch der Berichtigungsbescheid vom 4. Juli 1957 aufgehoben wird. Dagegen war der Neufeststellungsbescheid vom 12. Juni 1956 aufrechtzuerhalten. Das bedeutet, daß dem Kläger wegen des im Sinne der Entstehung anerkannten Herzklappenfehlers Versorgung nach einer MdE um 30 v. H. bis zum 31. Juli 1956 zusteht. Darüber hinaus war das Klagbegehren unbegründet.
Da für den Kläger ein Rentenanspruch für die Zeit nach dem 31. Juli 1956 entfällt, ist er - wirtschaftlich gesehen - im Rechtsstreit im wesentlichen unterlegen. Es erscheint angemessen, daß der Beklagte ihm ein Fünftel der außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten hat.
Fundstellen