Entscheidungsstichwort (Thema)
Freie Beweiswürdigung. wesentlicher Verfahrensmangel
Orientierungssatz
Das Gericht überschreitet die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung, wenn es einem ärztlichen Gutachten eine Erklärung entnimmt, die nach seinem klaren Wortlaut nicht darin enthalten ist, und infolgedessen zu unrichtigen Schlußfolgerungen gelangt (vgl BSG 1956-11-13 10 RV 370/54 = SozR SGG § 128 Nr 12).
Normenkette
SGG §§ 128, 162 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 22.02.1961) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 22. Februar 1961 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Das Versorgungsamt erkannte mit Bescheid vom 22. Januar 1953 "reizlose Weichteilnarben an der Stirn, leichte Durchblutungsstörungen an den Zehen beider Füße nach Erfrierung und eine unbedeutende Narbe am rechten Unterarm" als Schädigungsfolgen beim Kläger an, gewährte aber eine Rente nicht. Eine Anerkennung der sonst noch geltend gemachten Gesundheitsstörungen lehnte es ab, weil diese teils nicht festgestellt, teils als anlagebedingt nicht auf den Wehrdienst zurückgeführt werden könnten. Im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) Marburg wurden Abschriften von Gutachten der Universitätsnervenklinik Marburg vom 28. Januar 1953 und der Medizinischen Klinik der Universität Marburg vom 30. November 1954 beigezogen, die von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Hessen in dem Rechtsstreit des Klägers über Ansprüche aus der Invalidenversicherung vorgelegt worden waren und in denen eine schwere Wesensveränderung mit Intelligenzdefekt nach stumpfer Schädelverletzung und Zeichen einer vegetativen Übererregbarkeit mit einer dadurch bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v. H. festgestellt worden waren. Nachdem Frau Dr. C in einem weiteren Gutachten den Zusammenhang dieser Gesundheitsstörungen mit einer im Wehrdienst erlittenen Hirnverletzung festgestellt hatte, erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 12. Juni 1957 "reaktionslose Stirnnarbe links mit flacher Knochennarbe, reizlose Hautnarbe in der rechten Augenbrauengegend mit geringen Wesensänderungen und vegetativen Regulationsstörungen, leichte Durchblutungsstörungen an den Zehen beider Füße nach Erfrierung und unbedeutende Narbe am rechten Unterarm" als Schädigungsfolgen mit einer MdE um 40 v. H. an. Der Kläger beantragte dann, den Beklagten unter Abänderung dieses Bescheides noch zur zusätzlichen Anerkennung eines Asthmas, einer Wirbelsäulenveränderung sowie eines Schußbruches am linken Fuß und zur Zahlung einer Rente nach einer MdE um 60 v. H. zu verurteilen. Das SG wies die Klage ab, weil ein Asthma nicht vorliege, der Bronchialkatarrh und die Veränderungen der Lendenwirbelsäule nicht kriegsbedingt und Folgen eines Schußbruches nicht festzustellen seien. Das Landessozialgericht (LSG), das vom Krankenbuchlager Berlin noch die Fotokopie einer Meldung über die Behandlung des Klägers wegen Asthma bronchiale im Jahre 1943 erhalten hatte, wies die Berufung durch Urteil vom 22. Februar 1961 zurück. Es führte aus, ein Asthma habe schon die Medizinische Klinik Marburg im Jahre 1954 nicht feststellen können. Sie habe auch keinen ausgesprochenen Bronchialkatarrh gefunden, sondern nur bronchitische Geräusche. Die Eintragung im Krankenbuch über eine Behandlung des Klägers wegen eines Asthma bronchiale im Jahre 1943 beruhe entweder auf einer Fehldiagnose oder die Erscheinungen eines solchen Asthmas seien durch die Behandlung wieder verschwunden. Ein Schußbruch am linken Fuß habe ärztlich nicht festgestellt werden können. Die Veränderungen der Lendenwirbelsäule hingen nicht mit dem Wehrdienst zusammen, im übrigen hatte der Kläger deren Anerkennung nach der Niederschrift über die Sitzung des LSG vom 22. Februar 1961 auch gar nicht mehr geltend gemacht. Die Revision wurde nicht zugelassen.
Der Kläger hat gegen das ihm am 3. März 1961 zugestellte Urteil am 29. März 1961 Revision eingelegt. Er beantragt,
die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils vom 22. Februar 1961 zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hessische LSG zurückzuverweisen und die Entscheidung über die Kosten dem Endurteil vorzubehalten.
In der Revisionsbegründung vom 23. Mai 1961, die innerhalb der bis zum 3. Juni 1961 verlängerten Begründungsfrist am 25. Mai 1961 beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen ist, rügt der Kläger Verletzung der §§ 103, 106 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Er meint, dem LSG seien bei den Feststellungen zum Asthmaleiden Verfahrensmängel unterlaufen. Das Gericht habe die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten, wenn es sich bei Auslegung eines ärztlichen Zeugnisses in einem offenbaren Irrtum über seinen klaren Inhalt befunden oder seine Entscheidung auf ein Gutachten gegründet habe, in dem bewußt und ausdrücklich keine Feststellung über die zu entscheidende Frage getroffen worden sei. Wenn das LSG ausgeführt habe, daß schon die Medizinische Klinik Marburg im Jahre 1954 kein Asthma, sondern nur bronchitische Geräusche gefunden habe, so sei schon diese erste Feststellung als unrichtig anzusehen und beruhe auf einer Verkennung des erwähnten Gutachtens, das zu der Frage eines Asthmaleidens und seines Zusammenhangs mit dem Wehrdienst überhaupt nicht Stellung genommen habe. Die Ausführungen des LSG bestünden insoweit lediglich in Vermutungen und Folgerungen, zu denen das Gericht mangels ausreichender medizinischer Sachkunde nicht befugt gewesen sei. Nach der vom Krankenbuchlager Berlin übersandten Fotokopie und der in den Versorgungsakten befindlichen Auskunft der deutschen Dienststelle vom 18. Juli 1952 sei der Kläger bereits während des Wehrdienstes wegen eines Asthma bronchiale behandelt worden, und zwar zuerst in einem Feldlazarett, vom 29. Oktober 1943 an in einem rückwärtigen Lazarett und vom 14. Dezember 1943 bis zum 4. Februar 1944 im Reservelazarett Bad Münster. Bei Berücksichtigung dieser Tatsachen hätte das LSG nicht zu dem Schluß kommen dürfen, die Eintragung im Krankenbuch über die Behandlung wegen eines solchen Leidens beruhe auf einer Fehldiagnose, zumal die Diagnose durch eine mehrmonatige stationäre Behandlung bestätigt worden sei. Ferner habe das LSG die unter diesen Umständen glaubhaften Angaben des Klägers nicht berücksichtigt, daß er wegen des gleichen Leidens schließlich noch mehrere Monate in dem Reservelazarett "Drei Ähren" im Elsaß behandelt worden sei. Das LSG habe auch nicht beachtet, daß sich keiner der Gutachter der Universitätskliniken zu der Entstehung des Asthmaleidens und dessen Zusammenhang mit dem Wehrdienst geäußert habe. Die versorgungsärztliche Beurteilung vom 5. Juni 1952 könne nicht als ausreichend angesehen werden, weil damals Unterlagen über die monatelange Behandlung wegen eines Asthma bronchiale noch nicht vorgelegen haben. Die ärztlichen Sachverständigen der Universitätsnervenklinik Marburg hätten ausschließlich die in neurologischer Hinsicht in Betracht kommenden Gesundheitsstörungen berücksichtigt und diejenigen der Medizinischen Klinik hätten zwar eine Veränderung der Lungenstruktur und eine erhebliche vegetative Labilität festgestellt, die Erkrankungen des Klägers während des Wehrdienstes aber nicht in Betracht gezogen. Selbst der Beklagte habe im Schriftsatz vom 1. Juli 1960 darauf hingewiesen, daß dieses Gutachten die Frage des Asthma bronchiale nicht behandelt habe, und deshalb den Sachverhalt insoweit nicht als ausreichend geklärt angesehen.
Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 3. Juli 1961 erklärt, eine Äußerung sei nicht beabsichtigt.
Die Revision ist in der gesetzlichen Frist und Form eingelegt und begründet worden. Da sie vom LSG nicht zugelassen worden ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), ist sie nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG gerügt wird (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG).
Der Kläger rügt als wesentliche Verfahrensmängel Verstöße gegen die §§ 103, 106, vor allem aber gegen 128 SGG. Für die Statthaftigkeit der Revision genügt es, wenn eine dieser Verfahrensrügen durchgreift (vgl. BSG in SozR SGG § 162 Bl. Da 36 Nr. 122).
Mit Recht rügt der Kläger, das LSG habe § 128 SGG verletzt. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; in seinem Urteil hat es die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Verfahrensrechtlich fehlerhaft ist die Beweiswürdigung dann, wenn das Gericht die Grenzen seines Rechts, das Gesamtergebnis des Verfahrens frei zu würdigen, überschritten hat. Dabei braucht es nicht ausführlich auf jedes einzelne Vorbringen eines Beteiligten einzugehen und sich ausdrücklich damit auseinanderzusetzen, sofern sich aus dem Urteil ergibt, daß es alle für seine Entscheidung maßgebenden Umstände sachentsprechend gewürdigt hat (vgl. BSG 1, 91). Das Gericht überschreitet die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung auch dann, wenn es einem ärztlichen Gutachten eine Erklärung entnimmt, die nach seinem klaren Wortlaut nicht darin enthalten ist, und infolgedessen zu unrichtigen Schlußfolgerungen gelangt (vgl. BSG in SozR SGG § 128 Bl. Da 5 Nr. 12).
Das LSG hat angenommen, das SG habe die Klage auf zusätzliche Anerkennung eines Asthmaleidens, einer Veränderung der Wirbelsäule und eines Schußbruches am linken Fuß und die Zahlung einer höheren Rente zu Recht abgewiesen und insoweit den Zusammenhang mit Schädigungen durch den Wehrdienst zutreffend abgelehnt. Hinsichtlich des Asthmaleidens ist das LSG dabei davon ausgegangen, daß ein Asthma schon von der Medizinischen Klinik der Universität Marburg im Jahre 1954 nicht habe festgestellt werden können; diese Klinik habe auch keinen ausgesprochenen Bronchialkatarrh, sondern nur bronchitische Geräusche gefunden. Dabei hat das LSG jedoch die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung insoweit überschritten, als es dem Gutachten der Medizinischen Klinik vom 30. November 1954 eine Erklärung entnommen hat, die es nicht enthält, und ist infolgedessen zu irrigen Schlußfolgerungen über die Bedeutung dieses Gutachtens für die Frage gelangt, ob ein Asthma oder eine andere Erkrankung der Bronchien bestanden hat und auf Einflüsse des Wehrdienstes zurückzuführen ist. Die ärztlichen Sachverständigen der Medizinischen Klinik haben das Gutachten vom 30. November 1954 auf Veranlassung der LVA Hessen zur Beurteilung des Anspruchs des Klägers auf Leistungen der Rentenversicherung erstattet. Sie haben eine schwere Wesensveränderung mit Intelligenzdefekt nach stumpfer Schädelverletzung und Zeichen einer vegetativen Übererregbarkeit, eine Magenschleimhautentzündung ohne frischen Ulcus bei narbig verändertem Zwölffingerdarm, eine Veränderung der Lungenstruktur und eine erheblich vegetative Labilität festgestellt, ein Asthma oder einen Bronchialkatarrh aber überhaupt nicht erwähnt. Sie haben auch nicht zu der Frage eines etwaigen Zusammenhangs mit schädigenden Einflüssen des Wehrdienstes Stellung genommen. Unter diesen Umständen hat das LSG dieses Gutachten für seine Entscheidung nicht als maßgebend ansehen können. Es hat daraus nicht den Schluß ziehen können, schon die Medizinische Klinik habe im Jahre 1954 ein Asthma nicht feststellen können und auch keinen ausgesprochenen Bronchialkatarrh gefunden. Insoweit hat das LSG dem Gutachten eine Feststellung entnommen, die nicht darin enthalten ist. Es hat dieses Gutachten auch nicht in dem für seine Entscheidung wesentlichen Umfange gewürdigt. Wenn die ärztlichen Sachverständigen der Medizinischen Klinik "über die ganze Lunge vereinzelt mittelmäßige, feuchte Rasselgeräusche sowie Brummen, Pfeifen und Giemen" festgestellt haben, so hat sich das LSG nicht mit der Feststellung begnügen dürfen, die Klinik habe nur bronchitische Geräusche gefunden. Es hätte vielmehr diese Tatsache bei der Beurteilung der vom Kläger als Asthma geltend gemachten Beschwerden würdigen und die Bedeutung einer Bronchitis für die Entwicklung eines Bronchialasthmas in Betracht ziehen müssen.
Das LSG hat die Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung auch insoweit überschritten, als es angenommen hat, die Eintragung im Krankenbuch über die Behandlung des Klägers wegen eines Asthma bronchiale im Jahre 1943 beruhe entweder auf einer Fehldiagnose oder die Krankheitserscheinungen seien durch die Behandlung wieder verschwunden. Aus den bereits dargelegten Gründen hat das LSG diese Folgerung nicht aus dem Gutachten der Medizinischen Klinik vom 30. November 1954 ziehen und eine solche der Beurteilung medizinischer Sachverständiger vorbehaltene Feststellung auch nicht von sich aus treffen können. Es hat bei der Beurteilung der Eintragung im Krankenbuch den Sachverhalt nicht in dem für seine Entscheidung erforderlichen Umfang gewürdigt. Es hat insbesondere nicht die Mitteilung der deutschen Dienststelle vom 18. Juli 1952 über die weitere Behandlung wegen "Asthma, Bronchitis" und die Angaben des Klägers berücksichtigt, nach denen er wegen dieser Leiden lange Zeit in verschiedenen Lazaretten und nach dem Kriege in der Medizinischen Poliklinik Marburg behandelt worden ist. Es ist schließlich in diesem Zusammenhang auch nicht auf die Tatsache eingegangen, daß die Medizinische Klinik 1954 bronchitische Geräusche gefunden hat.
Die Rüge der Verletzung des § 128 SGG ist somit gerechtfertigt. Als Folge dieses Verfahrensmangels ergab sich für das LSG, daß es eine sonst erforderliche weitere Aufklärung unterließ. Insbesondere die Mitteilung der deutschen Dienststelle und des Krankenbuchlagers Berlin sowie die aus den Akten ersichtlichen Angaben über den weiteren Verlauf des als Asthma bzw. als Bronchitis bezeichneten Leidens hätten das LSG veranlassen müssen, nach den Unterlagen der Lazarette und Krankenhäuser zu forschen, in denen der Kläger wegen dieser Erkrankung behandelt worden ist, um auf Grund dieser Unterlagen eine medizinische Klärung herbeizuführen. Dazu hätte um so mehr Anlaß bestanden, als das vom LSG berücksichtigte Gutachten der Medizinischen Klinik nicht den Versorgungsanspruch des Klägers nach dem BVG betraf und keine für die Beurteilung dieses Anspruches verwertbare Angaben enthalten hat. Die Revision ist somit statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG.
Die Revision ist auch begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf den gerügten Verfahrensmängeln; denn das LSG hätte möglicherweise anders entschieden, wenn es das Gesamtergebnis des Verfahrens - unter Umständen nach weiteren Feststellungen und Ergänzung der medizinischen Beweise - den Grundsätzen des § 128 SGG entsprechend gewürdigt hätte. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Da die tatsächlichen Feststellungen des LSG für eine sachentsprechende Würdigung aller für die Entscheidung wesentlichen Umstände aber nicht ausreichen, konnte der Senat in der Sache selbst nicht entscheiden. Die Sache war deshalb zur erneuten Entscheidung an das Hessische LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen