Entscheidungsstichwort (Thema)
Wesentliche Änderung der Verhältnisse durch Vergleich des gegenwärtigen mit dem ursprünglichen Zustand. entsprechende Neufeststellung. funktionelle Betrachtungsweise bei der Bildung der Gesamt-MdE. Zusammenwirken von Behinderungen
Orientierungssatz
1. Nach BVG § 62 Abs 1 S 1 der gemäß SchwbG § 3 Abs 1 S 2 im Schwerbehindertenrecht bei der Feststellung der Behinderungen und der MdE entsprechend anzuwenden ist, ist eine Neufeststellung nur erlaubt, wenn und soweit sich die Verhältnisse, die für eine rechtsverbindliche Entscheidung (SchwbG § 3 Abs 1 und 5) maßgebend waren, nachträglich wesentlich geändert haben. Ob dies zutrifft, muß durch einen Vergleich des gegenwärtigen mit dem ursprünglich anerkannten Zustand der Behinderungen festgestellt werden. Denn BVG § 62 ermächtigt nur zu einer neuen Entscheidung "entsprechend" dem Ausmaß der eingetretenen Veränderung (ständige Rechtsprechung des BSG - vgl ua BSG vom 1978-07-27 9 RV 32/77 = SozR 3100 § 62 Nr 16 und BSG vom 1980-07-09 9 RV 38/79).
2. Geht die Versorgungsverwaltung bei der Neufeststellung nicht von einer wesentlichen Änderung aller, im Erstbescheid genannten Behinderungen aus, verbleibt es bei der unverändert bestehenden Behinderungen insoweit bei der bisherigen Anerkennung. Diese umfaßt auch die damalige objektive Sachverhaltsfeststellung und ihre Bewertung (vgl ua BSG vom 1978-07-27 9 RV 32/77 = SozR 3100 § 62 Nr 16 und BSG vom 1980-01-30 9 RV 62/78). Daraus folgt, daß die Gesamt-MdE nicht allein nach dem gegenwärtigen Stand aller Behinderungen neu festzustellen ist. Vielmehr ist hinsichtlich der unverändert bestehenden Behinderungen vom bisherigen Umfang der Leistungsminderung auszugehen.
3. Aus BVG § 62 Abs 1 S 1 ergibt sich die Befugnis, das Versorgungsrechtsverhältnis nur "entsprechend" neu festzustellen. Diese Vorschrift eröffnet nicht die Möglichkeit, eine völlig neue - originäre - Bewertung vorzunehmen (vgl BSG vom 1980-07-09 9 RV 38/79).
4. Zur Bildung einer Gesamt-MdE nach SchwbG § 3 Abs 3 beim Zusammentreffen verschiedener Behinderungen (vgl BSG vom 1979-03-15 9 RVs 6/77 = SozR 3870 § 3 Nr 4 und BSG 1979-03-15 9 RVs 16/78 = SozR 3870 § 3 Nr 5).
Normenkette
BVG § 62 Abs 1 S 1 Fassung: 1966-12-28; SchwbG § 3 Abs 1 S 2; SchwbG § 3 Abs 3; SchwbG § 3 Abs 5
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 11.10.1979; Aktenzeichen L 12 Vs 1121/79) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 18.05.1979; Aktenzeichen S 12/5 Vs 415/78) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt, ihm über den 30. September 1977 hinaus die Schwerbehinderteneigenschaft (§ 1 des Gesetzes zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft - Schwerbehindertengesetz -SchwbG-) zu belassen.
Die Versorgungsverwaltung hatte beim Kläger zunächst an Behinderungen 1) Zustand nach Bandscheibenoperation mit jetzt noch rezidivierenden Beschwerden, 2) Magenschleimhautentzündung, 3) Leberfunktionsstörung und Leberschwellung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH festgestellt. Der Kläger begehrte, neben der Verlängerung des Schwerbehindertenausweises zusätzlich einen Leistenbruch rechts sowie Kreislaufbeschwerden anzuerkennen. Entsprechend dem versorgungsärztlichen Gutachten beließ es die Versorgungsbehörde bei den Behinderungen zu 1) und 2). Es ging jedoch hinsichtlich der Behinderung zu 3) von einer wesentlichen Besserung aus, weshalb diese in Fortfall kam, anerkannte aber statt dessen als weitere Behinderung einen Leistenbruch rechts (versorgungsärztlicherseits mit 10 vH bewertet) und setzte die Gesamt-MdE auf 40 vH herab (Bescheid vom 1. August 1977). Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 2. Februar 1978).
Das Sozialgericht (SG) hat nach Einholung eines orthopädischen und eines internistischen Gutachtens (Dr R, Dr S) die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat, nachdem der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vergleichsweise "leichte hypotone Kreislaufregulationsstörungen" als weitere Behinderung anerkannte, die Berufung zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, der Kläger sei nicht mehr Schwerbehinderter, obwohl eine weitere Behinderung hinzugekommen sei. Das Leberleiden habe eine wesentliche Besserung erfahren. Die deswegen erfolgte Herabsetzung der MdE auf 40 vH sei nicht zu beanstanden. Im Schwerbehindertenrecht erfordere die Vergleichsgrundlage nach § 62 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht in jedem Falle ein ärztliches Gutachten.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen und formellen Rechts (§ 3 Abs 1 SchwbG, § 62 BVG, § 34 Abs 1 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - SGB 1 -, § 128 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Er meint, bei der Neufeststellung müsse berücksichtigt werden, daß anstelle des wegen wesentlicher Besserung weggefallenen Leberleidens als zusätzliche Behinderungen ein Leistenbruch rechts sowie eine hypotone Kreislaufregulationsstörung hinzugekommen seien. Nur insoweit sei eine partielle Änderung eingetreten. Außerdem hätte für die zusätzlich zugestandenen Behinderungen eine Gesamt-MdE gebildet werden müssen. Die Versorgungsverwaltung habe es auch versäumt, den Kläger vor Erlaß des Neufeststellungsbescheides zu hören.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG abzuändern, das Urteil des
SG sowie die angefochtenen Verwaltungsbescheide
aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, beim
Kläger über den 1. Oktober 1977 hinaus eine
Gesamt-MdE um 50 vH anzuerkennen; hilfsweise,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses
Gericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision hat insoweit Erfolg, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen ist.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, die die Revision nicht mit Verfahrensrügen angegriffen hat und die daher für das Revisionsgericht verbindlich sind (§ 163 SGG), haben sich die Behinderungen gegenüber der früheren Anerkennung in tatsächlicher Hinsicht nachträglich wie folgt geändert: Das ursprünglich als Behinderung zu 3) anerkannte Leberleiden besteht nicht mehr, jedoch sind zwischenzeitlich ein rechtsseitiger Leistenbruch sowie leichte hypotone Kreislaufregulationsstörungen aufgetreten.
Ob diese gesundheitlichen Veränderungen die angefochtene Neufeststellung rechtfertigen, wonach der Kläger nicht mehr als Schwerbehinderter im Sinne des § 1 SchwbG anerkannt wird, hat das LSG nicht nach zutreffenden Rechtsmaßstäben überprüft. Zudem hat es den Sachverhalt nicht zureichend durch Befragen geeigneter medizinischer Sachverständiger aufgeklärt (§ 103 SGG). Dies bedingt eine Zurückverweisung an das Tatsachengericht.
Nach § 62 Abs 1 Satz 1 BVG idF seit dem Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts (1. Neuordnungsgesetz) vom 27. Juni 1960 (BGBl I S 453), der gemäß § 3 Abs 1 Satz 2 SchwbG im Schwerbehindertenrecht bei der Feststellung der Behinderungen und der MdE entsprechend anzuwenden ist, ist eine Neufeststellung nur erlaubt, wenn und soweit sich die Verhältnisse, die für eine rechtsverbindliche Entscheidung (§ 3 Abs 1 und 5 SchwbG) maßgebend waren, nachträglich wesentlich geändert haben. Ob dies zutrifft, muß durch einen Vergleich des gegenwärtigen mit dem ursprünglich anerkannten Zustand der Behinderungen festgestellt werden. Denn § 62 BVG ermächtigt nur zu einer neuen Entscheidung "entsprechend" dem Ausmaß der eingetretenen Veränderung (ständige Rechtsprechung des BSG: vgl SozR 3100 § 62 Nr 16 S 39; Urteil des erkennenden Senats vom 9. Juli 1980 - 9 RV 38/79 -).
Von einer wesentlichen Änderung der im Erstbescheid zu 1) und 2) genannten Behinderungen ist die Versorgungsverwaltung nicht ausgegangen. Mithin verbleibt es insoweit bei der bisherigen Anerkennung. Diese umfaßt auch die damalige objektive Sachverhaltsfeststellung und ihre Bewertung (BSGE 7, 8, 12; BSG SozR Nr 20 und 24 zu § 62 BVG; BSG SozR 3100 § 62 Nr 15 und 16; Urteil des erkennenden Senats vom 30. Januar 1980 - 9 RV 62/78 -). Daraus folgt für den Fall des Klägers, daß die Gesamt-MdE nicht allein nach dem gegenwärtigen Stand aller Behinderungen neu festzustellen ist. Vielmehr ist hinsichtlich der Behinderungen zu 1) und 2) vom bisherigen Umfang der Leistungsminderung auszugehen. Dies haben die Vorinstanzen nicht genügend beachtet.
Soweit dabei die unanfechtbar gewordene Anerkennung auf einer oberflächlichen medizinischen Sachaufklärung beruhte, zB auf der bloßen Mitteilung von Diagnosen und nicht näher begründeten MdE-Sätzen, stellt sich - entgegen der Ansicht des LSG - die Rechtslage im Schwerbehindertenrecht grundsätzlich nicht anders dar als im Recht der Kriegsopferversorgung. Auch in diesem Gebiet können sich Vergleichsschwierigkeiten ergeben, sofern die Schädigungsfolgen in den ersten Nachkriegsjahren, als die Versorgungsverwaltung durch Massenverfahren überlastet war, anerkannt worden sind. In jedem Fall ist rückschauend möglichst sorgfältig durch Befragen von Ärzten, die den Schwerbehinderten in der Zeit um die Anerkennung untersucht haben, der wirkliche damalige Zustand der Behinderung, auf dem die Verwaltungsentscheidung beruhte, umfassend aufzuklären. Die früher angenommenen MdE-Werte zeigen dabei an, in welchem Maße die anerkannten Behinderungen damals zu Funktionsausfällen geführt hatten. Sie bieten wertvolle Entscheidungsmerkmale.
Das LSG hat nach der Zurückverweisung entsprechend diesen rechtlichen Maßstäben medizinisch aufzuklären, wie der Zustand der Behinderungen zur Zeit der Anerkennung war und ob und gegebenenfalls in welchem Umfang er sich durch das Abklingen des Leberleidens und infolge des Hinzutretens des rechtsseitigen Leistenbruchs sowie der leichten hypotonen Kreislaufregulationsstörung in seiner Gesamtheit geändert hat. Die bisher eingeholten Sachverständigengutachten bieten hierfür keine ausreichende Entscheidungsgrundlage. Die darin - allerdings unter Ausklammerung der nachträglich vergleichsweise hinzugekommenen Behinderung - gefundene Gesamt-MdE um 40 vH widerstreitet der sich aus § 62 BVG ergebenden Befugnis, das Versorgungsrechtsverhältnis nur "entsprechend" neu festzustellen. Diese Vorschrift eröffnet nicht die Möglichkeit, eine völlig neue -originäre- Bewertung vorzunehmen (Urteil des erkennenden Senats vom 9. Juli 1980 - 9 RV 38/79 -). Gerade hiervon sind aber die Sachverständigen ausgegangen und haben bei der Bildung der Gesamt-MdE das Ausmaß der verbindlich gebliebenen Behinderungen nicht unverändert übernommen. Ob insoweit aus heutiger Sicht objektiv ein anderer Zustand angenommen werden kann, mag dahinstehen. Jedenfalls hat dies unbeachtet zu bleiben. Neufeststellungen nach § 62 BVG können nämlich nur gemäß dem Umfang einer Änderung, der im Streit steht, vorgenommen werden.
Soweit es das Zusammentreffen verschiedener Behinderungen anbetrifft, hat das Berufungsgericht in rechtlicher Hinsicht die Urteile des erkennenden Senats vom 15. März 1979 - 9 RVs 6/77 (BSGE 48, 82, 84 f = SozR 3870 § 3 Nr 4) und 9 RVs 16/78 (SozR 3870 § 3 Nr 5) zu beachten. Sie haben die Bildung einer Gesamt-MdE nach § 3 Abs 3 SchwbG zum Inhalt. Zur Feststellung einer Gesamt-MdE ist jedwede Rechenmethode, die sich auf die für die einzelnen Behinderungen angesetzten Einzel-MdE-Grade stützt, ein ungeeignetes Mittel. Zur Gesamtwürdigung des Gesundheitszustandes sind die durch die jeweilige Behinderung bewirkten Funktionsausfälle, soweit sie rechtlich zu beachten sind, gesondert und außerdem in ihrem Zusammenwirken möglichst genau zu ermitteln. Sodann ist der frühere Gesamtzustand an Leistungseinbuße, der in einer funktionellen "Gesamt-Beurteilung" (§ 3 Abs 3 Satz 2 SchwbG) zu erfassen ist, mit dem jetzigen zu vergleichen. Dabei wird es allerdings nicht ausbleiben können, daß mit dem Wandel der Verhältnisse auch die bisher als verbindlich geltenden funktionellen Auswirkungen möglicherweise an Bedeutung verlieren. Denn auch das Zusammenwirken der fortgefallenen und der hinzugekommenen mit den unverändert gebliebenen Behinderungen kann sich funktionell verändert haben. Dies könnte - wie etwa beim Kläger - der Fall sein, wenn eine Behinderung auf internistischem Gebiet fortgefallen und statt dessen andersartige innere Störungen und eine Behinderung chirurgischer Art aufgetreten sind.
Nicht nur die bisherige Rechtsprechung des erkennenden Senats über die Bildung einer Gesamt-MdE ist auf die Neufeststellung entsprechend § 62 Abs 1 BVG zu übertragen. Es sind auch die Grundsätze zu beachten, die der Senat insbesondere im Hinblick auf die Eignung von Sachverständigen bei der Gesamtbeurteilung im Urteil vom 15. März 1979 (SozR 3870 § 3 Nr 5) aufgestellt hat.
Die weiterhin erhobene Rüge, die Versorgungsverwaltung habe vor Herabsetzung der Gesamt-MdE ihre Anhörungspflicht nach § 34 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB 1) verletzt, greift nicht durch. Richtig ist zwar, daß es im vorliegenden Falle einer Anhörung bedurft hätte (BSGE 46, 57, 58 = SozR 1200 § 34 Nr 3). Eine solche kann nicht mehr im Klageverfahren (BSGE 44, 207 = SozR 1200 § 34 Nr 2), wohl aber noch im Widerspruchsverfahren nachgeholt werden (BSG SozR 1200 § 34 Nr 1 und 7). Der Kläger hatte im Widerspruchsverfahren Gelegenheit, seine Einwendungen vorzubringen. Hiervon hat er Gebrauch gemacht. Damit ist der Anhörungspflicht iS der genannten Gesetzesvorschrift genügt.
Das Berufungsgericht hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen