Entscheidungsstichwort (Thema)
Widerstreit zwischen Bindungs- und Rechtskraftwirkung eines Urteils und dem Postulat der materiellen Gerechtigkeit. wiederholtes Zugunstenverfahren
Orientierungssatz
1. Das Gebot der Rechtssicherheit in § 141 Abs 1 SGG ist gleichrangig mit dem Postulat der materiellen Gerechtigkeit. Beide Gebote geraten dann in Widerstreit, wenn sich nachträglich herausstellt, daß die ergangene Verwaltungsentscheidung von Anfang an, dh zum Zeitpunkt ihres Erlasses mit dem seinerzeit geltenden Recht nicht übereinstimmte. Zur Lösung dieses Konfliktes eröffnet § 40 KOVVfG der Verwaltungsbehörde die Möglichkeit, eine Korrektur vorzunehmen (Festhaltung an BSG 1980-01-30 9 RV 40/79 = SozR 1500 § 78 Nr 16). An dieser Rechtslage ändert sich nichts dadurch, daß zuvor schon einmal oder gar wiederholt die Verwaltung abgelehnt hat, einen Zugunstenbescheid zu erteilen, und dies durch rechtskräftige Gerichtsurteile als rechtmäßig bestätigt worden ist (vgl BSG 1981-01-28 9 RV 29/80 = SozR 3900 § 40 Nr 15).
2. § 40 KOVVfG und § 44 SGB 10 stimmen insoweit überein, als dem Berechtigten ein neuer Bescheid zu erteilen ist, wenn die rechtsverbindlich gewordene Regelung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unrichtig ist und nicht der materiellen Rechtslage entspricht.
Normenkette
SGG § 141 Abs 1 Fassung: 1953-09-03; SGB 10 § 44 Abs 1; KOVVfG § 40 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 11.02.1981; Aktenzeichen L 11 V 123/78) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 08.05.1978; Aktenzeichen S 25 V 246/77) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt in einem wiederholten Zugunstenverfahren die Feststellung weiterer Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen.
In dem Bescheid vom 30. November 1951 wurden als Schädigungsfolgen des Klägers anerkannt:
1. Hautnarben am rechten Oberarm und rechten Oberschenkel
mit oberflächlich gelegenen kleinen Stecksplittern.
2. Ausgedehnte Narbenbildungen in der Innenseite des linken
Unterschenkels; geringe Bewegungseinschränkung im linken
Fußgelenk; Durchblutungsstörungen am linken Fuß nach
Unterbindung der hinteren Schienbeinschlagader.
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wurde um 30 vH angenommen.
Mit dem Antrag vom 16. Juli 1970 machte der Kläger geltend, er habe starke Schmerzen im linken Unterschenkel und ein Druckgefühl in der Leistengegend, außerdem seien Durchblutungsstörungen im rechten Bein als Folge seiner Kriegsverletzung aufgetreten; auf der Basis der anerkannten Durchblutungsstörungen im linken Bein sei es zu Krämpfen und starken Ermüdungserscheinungen in diesem Bein sowie zu Krampfaderbildungen im linken Unterschenkel gekommen. Das Versorgungsamt lehnte mit Bescheid vom 9. November 1971 - gestützt auf ein Gutachten von Prof. Dr. C - eine Neufeststellung ab, weil die geltend gemachten Beschwerden nicht schädigungsbedingt seien. Widerspruch, Klage und Berufung hiergegen blieben erfolglos.
Der Kläger beantragte am 19. November 1973 abermals, die aufgetretenen starken Krampfaderbildungen als Schädigungsfolgen anzuerkennen. Das beklagte Land lehnte mit Bescheid vom 22. November 1973 einen Zugunstenbescheid ab, weil der frühere Bescheid vom 9. November 1971 nicht unrichtig sei. Die dagegen erhobene Klage wies das Sozialgericht Duisburg (SG) - S 22 V 49/74 - durch Urteil vom 27. Oktober 1975 ab, nachdem es auf Antrag des Klägers ein Gutachten von Prof. Dr. E eingeholt hatte. Die Berufung des Klägers wurde zurückgewiesen.
Mit einem erneuten Antrag vom 30. November 1976 zielte der Kläger auf Erhöhung der schädigungsbedingten MdE auf 60 vH. In diesem Antrag bestritt er insbesondere die Richtigkeit des Gutachtens von Prof. Dr. E. Nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme lehnte die Versorgungsverwaltung mit Bescheid vom 25. Mai 1977 eine Erhöhung der anerkannten MdE ab, weil sich die Kriegsfolgeschäden nicht verschlimmert hätten. Außerdem lehnte die Verwaltung mit Bescheid vom 24. Mai 1977 den Erlaß eines Zugunstenbescheides ab, weil der Bescheid vom 9. November 1971 nicht unrichtig sei. Der gegen diese beiden Bescheide eingelegte Widerspruch wurde mit Bescheid vom 18. Juli 1977 zurückgewiesen. Die Klage hiergegen hat das SG durch Urteil vom 8. Mai 1978 abgewiesen. Es hat dazu ausgeführt, nach den in den früheren Verfahren eingeholten Gutachten seien die Durchblutungsstörungen in den Beinen und die Krampfaderbildung nicht schädigungsbedingt; dies sei auch in dem vorhergegangenen Gerichtsverfahren festgestellt worden. Eine Verschlimmerung der bereits anerkannten Schädigungsfolgen sei nicht eingetreten.
Mit der Berufung gegen dieses Urteil hat der Kläger auf unterschiedliche Beschreibungen der Narbengröße in früheren Gutachten hingewiesen. Ferner hat er darauf aufmerksam gemacht, daß bei den Feststellungen der Umfangmaße der Beine rechts und links verwechselt worden seien.
Vor dem Landessozialgericht (LSG) hat der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 8. Mai 1978
abzuändern und das beklagte Land unter Aufhebung des
Bescheides vom 24. Mai 1977 sowie des Widerspruchsbescheides
vom 18. Juli 1977 zu verurteilen, als weitere Schädigungsfolgen
Krampfaderbildungen am linken Bein, Schäden am rechten Bein
und Durchblutungsstörungen in beiden Beinen anzuerkennen und
ihm wegen sämtlicher Schädigungsfolgen ab 1. November 1976
Rente nach einer MdE von 60 vH zu zahlen.
Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen und dazu die Ansicht vertreten, das SG hätte die Klage als unzulässig abweisen müssen, da über denselben tatsächlichen und rechtlichen Sachverhalt rechtskräftig entschieden worden sei. Der Kläger habe in diesem Verfahren und auch in dem früheren Verfahren S 22 V 49/74 (SG Duisburg) / L 7 V 194/75 (LSG für das Land Nordrhein-Westfalen) zur Begründung jeweils vorgetragen, daß den ablehnenden Bescheiden und den diese Bescheide bestätigenden Urteilen unzutreffende ärztliche Gutachten zugrundegelegen hätten. Auf die Behauptung des Klägers, der von Prof. Dr. C zugrundegelegte Operationsbericht aus dem Kriegsgefangenenlazarett T sei erst nachträglich angefertigt worden, sei das LSG in seinem Urteil vom 6. Mai 1976 näher eingegangen und habe diese Behauptung als nicht stichhaltig zurückgewiesen. Soweit der Kläger im jetzigen Verfahren außerdem noch geltend mache, die verschiedenen ärztlichen Gutachter und Sachverständigen hätten über die Größe der bei ihm vorliegenden Narbenbildungen unterschiedliche Feststellungen getroffen und teilweise rechts und links verwechselt, sei dieser Vortrag von vornherein nicht geeignet, die sachliche Richtigkeit der Gutachten im Hinblick auf den hier bedeutsamen Sachverhalt in Frage zu stellen.
Der Kläger hat die von dem LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt die Verletzung der §§ 77, 128 und 141 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und trägt vor, der Streitgegenstand sei mit dem früheren Verfahren nicht identisch. Das LSG habe auch gegen § 141 SGG verstoßen, weil es zu Unrecht davon ausgegangen sei, daß die Rechtskraft des im vorhergehenden Verfahren ergangenen Urteils für die Beteiligten zu beachten sei. Nach § 77 SGG werde ein Verwaltungsakt für die Beteiligten in der Sache bindend, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt sei; § 40 Abs 1 Verwaltungsverfahrensgesetz-KOV bestimme aber ausdrücklich etwas anderes.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil nebst dem Urteil des
Sozialgerichts Duisburg vom 8. Mai 1978 sowie die
Bescheide des Versorgungsamtes Essen vom 24. und
25. Mai 1977 idF des Widerspruchsbescheides des
Landesversorgungsamtes Nordrhein-Westfalen vom 18. Juli 1977
aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, beim
Kläger auch die Krampfaderbildung am linken Bein sowie die
Durchblutungsstörungen in beiden Beinen als Schädigungsfolgen
iS des § 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) anzuerkennen und
die dadurch bedingte MdE auf 60 vH einzustufen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist zurückzuweisen. Zwar ergeben die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils eine Gesetzesverletzung, die Entscheidung stellt sich jedoch im Ergebnis aus anderen Gründen als richtig dar (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG). Das LSG hätte nicht die Klage als unzulässig beurteilen dürfen. Es hätte ebenso wie das SG aufgrund einer Sachprüfung entscheiden müssen. Dies hat die Revision mit Recht beanstandet. Gleichwohl kann das Revisionsgericht aufgrund von ausreichenden Feststellungen im Berufungsurteil, an die das Bundessozialgericht (BSG) mangels zulässiger und begründeter Revisionsrügen (§ 163 SGG) gebunden ist, über die Sache befinden.
Der Kläger erstrebt in diesem Verfahren, daß die Krampfaderbildung am linken Bein sowie Durchblutungsstörungen in beiden Beinen als Schädigungsfolgen anerkannt und die bisher festgesetzt MdE erhöht werde. Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß es sich bei diesem Begehren um ein Zugunstenverfahren handelt, weil schon in einem früheren Verfahren verbindlich festgestellt worden ist, daß keine Schädigungsfolgen geltend gemacht worden sind.
Die Klage ist nicht etwa deshalb unzulässig, weil bereits über dasselbe Sachbegehren ablehnend mit Rechtskraftwirkung entschieden worden ist (vgl BSG in SozR 3900 § 40 Nr 15). Urteile binden zwar die Beteiligten nach § 141 Abs 1 SGG, soweit über den Streitgegenstand befunden worden ist. Das schließt aber eine neue Sachprüfung nach § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) oder § 44 des 10. Buches des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) nicht aus. Der gegenteiligen Meinung des LSG vermag der Senat nicht zuzustimmen. Der Senat hat bereits früher ausgeführt, daß gegebenenfalls "der Beklagte einen neuen Zugunstenbescheid nach § 40 KOVVfG erteilen müßte, was auch nach Gerichtsurteilen zulässig wäre" (BSG 9 RV 46/78, Urteil vom 19. September 1979). In einem weiteren Urteil hat der Senat ausgeführt, rechtskräftige Urteile binden die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist (§ 141 Abs 1 SGG); diese Bindungs- und Rechtskraftwirkung ist Ausdruck des Gebots der Rechtssicherheit. Dieses Gebot ist gleichrangig mit dem Postulat der materiellen Gerechtigkeit. Beide Gebote geraten dann in Widerstreit, wenn sich nachträglich herausstellt, daß die ergangene Verwaltungsentscheidung von Anfang an, dh zum Zeitpunkt ihres Erlasses mit dem seinerzeit geltenden Recht nicht übereinstimmte. Zur Lösung dieses Konfliktes eröffnet § 40 KOVVfG der Verwaltungsbehörde die Möglichkeit, eine Korrektur vorzunehmen (9 RV 40/79 vom 30. Januar 1980 = SozR 1500 § 78 Nr 16). Im Anschluß an diese Urteile hat der Senat in dem Urteil vom 28. Januar 1981 (9 RV 29/80 = SozR 3900 § 40 Nr 15) ausgesprochen, daß sich an dieser Rechtslage nichts dadurch ändert, daß zuvor schon einmal oder gar wiederholt die Verwaltung abgelehnt hat, einen Zugunstenbescheid zu erteilen, und dies durch rechtskräftige Gerichtsurteile als rechtmäßig bestätigt worden ist. An dieser Rechtsprechung wird festgehalten.
Der Senat kann jedoch in der Sache entscheiden und die Revision zurückweisen. Das angefochtene Urteil enthält genügend Feststellungen, um das Begehren des Klägers zu überprüfen. Dabei kann es dahinstehen, ob diese Überprüfung nach § 40 KOVVfG oder nach § 44 SGB X zu erfolgen hat (vgl dazu BSG SozR 3900 § 40 Nr 15 und 9 RV 39/80 vom 5. März 1981). Denn beide Vorschriften stimmen insoweit überein, als dem Berechtigten ein neuer Bescheid zu erteilen ist, wenn die rechtsverbindlich gewordene Regelung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unrichtig war und nicht der materiellen Rechtslage entsprach. Das ist aber hier gerade nicht der Fall. Die auch jetzt wieder von dem Kläger als Schädigungsfolgen geltend gemachten Krankheiten sind bereits mit Bescheid vom 9. November 1971 als nicht schädigungsbedingt angesehen worden. Auf diesen Bescheid hat sich der Beklagte sowohl mit dem negativen Zugunstenbescheid vom 22. November 1973 als auch jetzt mit dem angefochtenen Bescheid vom 24. Mai 1977 berufen. Das LSG hat in dem hier angefochtenen Urteil ausdrücklich darauf hingewiesen, daß bereits 1976 die Einwände des Klägers im einzelnen als nicht stichhaltig zurückgewiesen worden sind. In dieser Beurteilung ist ein Fehler nicht zu erkennen. Auch soweit der Kläger in diesem Verfahren außerdem noch geltend gemacht hat, die verschiedenen ärztlichen Gutachter und Sachverständigen hätten über die Größe der bei ihm vorhandenen Narbenbildungen unterschiedliche Feststellungen getroffen und teilweise rechts und links bei der Messung des Umfangs seiner Beine verwechselt, hat das LSG nach Überprüfung der Sachlage entschieden, daß in diesen Umständen keine Verbindung zum entscheidungserheblichen Sachverhalt gesehen werden könne, dh daß die Umstände einen Ursachenzusammenhang der Krampfaderbildung und der Durchblutungsstörungen an den Beinen des Klägers nicht darzutun vermöchten. Die hiergegen vorgebrachten Rügen sind nicht genügend substantiiert. Schließlich hat die Revision auch keine durchgreifenden Angriffe gegen die Feststellung vorgetragen, daß eine Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen nicht eingetreten sei.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen