Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachträgliche Aufstockung von Beiträgen. individuelle Beratungs- und Hinweispflicht. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch. Irrtumsanfechtung einer Beitragsnachentrichtung
Orientierungssatz
1. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist die tatsächliche Entrichtung von Beiträgen die äußerste Grenze, jenseits deren eine nachträgliche Aufstockung der Beiträge grundsätzlich ausgeschlossen ist (vgl BSG 1980-03-27 12 RK 61/79).
2. Eine begehrte Erhöhung von Beiträgen der Klasse 100 auf die Klasse 800 bis 1000 läßt sich nicht damit begründen, daß der Rentenversicherungsträger im Wege des sozialversicherungsrechtlichen Schadensersatzes zur Herstellung dieses Zustandes verpflichtet wäre. Ein Herstellungsanspruch ist nur dann begründet, wenn der Versicherungsträger die sich aus dem Versicherungsverhältnis ergebende Nebenpflicht zur individuellen Beratung verletzt hat (vgl BSG 1975-12-18 12 RJ 88/75 = BSGE 41, 126, 127). Diese individuelle Beratungs- und Hinweispflicht hat jedoch Grenzen. Sie besteht grundsätzlich nicht von Amts wegen, sondern setzt in der Regel ein Auskunftsersuchen des Versicherten voraus (vgl BSG 1976-09-28 3 RK 7/76 = BSGE 42, 224, 227).
3. Zur Frage der Anfechtbarkeit eines Nachentrichtungsantrages und der Beitragsnachentrichtung wegen Irrtums in entsprechender Anwendung des § 119 BGB.
4. Zur Umdeutung eines Nachentrichtungsantrages in entsprechender Anwendung des § 140 BGB.
Normenkette
ArVNG Art 2 § 51a Abs 2 Fassung: 1972-10-16; BGB § 119 Fassung: 1896-08-18, § 140 Fassung: 1896-08-18; SGB 10 § 43 Fassung: 1980-08-18
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 05.10.1979; Aktenzeichen L 4 J 83/79) |
SG Köln (Entscheidung vom 12.04.1979; Aktenzeichen S 11 J 15/79) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger berechtigt ist, gemäß Art 2 § 51a Abs 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) nachentrichtete Beiträge auf höhere Beitragsklassen aufzustocken.
Auf den Antrag vom Dezember 1974 bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 22. Januar 1975 dem Kläger die Nachentrichtung von 42 Monatsbeiträgen der Klasse 100 für die Zeit von Juli 1961 bis Dezember 1964 und 93 Monatsbeiträgen der Klasse 1000 für die Zeit von Januar 1965 bis September 1972 im Gesamtbetrag von 17.496,-- DM. Dies entsprach dem im Antrag gemachten Belegungsangebot. Gleichzeitig mit dem Antrag hatte der Kläger mitgeteilt, daß ihm ein Rentenberater den Nachzahlungsbetrag ausgerechnet habe. Am 28. Februar 1975 zahlte der Kläger den Gesamtbetrag ein. Die Beklagte bestätigte den Eingang mit Schreiben vom 27. März 1975 und teilte dem Kläger die dem Bescheid vom 22. Januar 1975 entsprechende Verrechnungsweise mit. Am 7. September 1976 schrieb der Kläger an die Beklagte, er sei von dem Rentenberater falsch beraten worden. Dieser habe ihm in der Annahme, die 42 Monatsbeiträge vor 1965 würden mit einem höheren Tabellenwert angerechnet, die Beitragsentrichtung in der Klasse 100 empfohlen. Die Beklagte habe ihm keinen Hinweis gegeben, daß dies unsinnig oder fehlerhaft sei. Er habe dies nicht gewußt. Anderenfalls hätte er auch für diese Zeit Beiträge der Klasse 1000 entrichtet. Mit Bescheid vom 16. Januar 1978 lehnte die Beklagte eine Änderung der Beitragsklassen unter Hinweis auf die Bindung des Bescheides vom 27. März 1975 als unzulässig ab. Der als Klage dem Sozialgericht (SG) Köln zugeleitete Widerspruch und die Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Urteil des SG vom 12. April 1979; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. Oktober 1979). Das LSG hat unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) die nachträgliche Aufstockung bereits entrichteter Beiträge für unzulässig gehalten. Einen Herstellungsanspruch auf Nachentrichtung weiterer Beiträge hat es mit der Begründung verneint, die Beklagte habe die ihr dem Kläger gegenüber obliegende Beratungspflicht nicht verletzt. Der Kläger habe mit seinem Antrag der Beklagten eine bestimmte, von ihm gewünschte Nachentrichtung von Beiträgen unterbreitet und keine spezielle Beratung gewünscht. Vielmehr habe er mit seinem Schreiben vom 2. Dezember 1974 darauf hingewiesen, daß er sich von einem Rentenberater habe beraten lassen. Die Beklagte habe den Kläger schließlich noch vor Durchführung der Nachentrichtung darauf hingewiesen, daß ihm das Versicherungsamt behilflich sei, falls er Fragen habe. Es sei für die Beklagte auch nicht ohne weiteres erkennbar gewesen, welche Vorstellungen der Kläger bei der Verteilung und Wahl der Beiträge und Beitragsklassen gehabt habe. Insbesondere habe sie nicht erkennen können, daß der Kläger von einer falschen Vorstellung hinsichtlich des Anwendungsbereiches des § 1255a der Reichsversicherungsordnung (RVO) ausgegangen sei. Sie habe nicht damit zu rechnen brauchen, daß der Kläger angenommen habe, die Tabellenwerte nach § 1255a Abs 1 Ziff 1 Satz 2 RVO, die nach dem klaren Wortlaut nur für die Bewertung von Ersatz- und Ausfallzeiten heranzuziehen seien, würden auch für die von ihm bis 1964 entrichteten freiwilligen Beiträge gelten. Zwar habe der Kläger in seinem Schreiben vom 12. Mai 1975 seine Beunruhigung über den in einer ihm von der Beklagten übersandten Informationsschrift gelesenen Satz "Beitragszeiten werden mit den eingetragenen Beitragsklassen angerechnet" zum Ausdruck gebracht. Jedoch habe er in diesem Zusammenhang auch nur "eine bestimmte Vorschrift" erwähnt, die nach der Mitteilung seines Rentenberaters angewandt werden sollte. Hätte der Kläger damals die Überlegungen seines Rentenberaters dargelegt, so wie sie etwa in dessen Schreiben an den Kläger vom 25. Oktober 1974 enthalten seien, wäre eine Aufklärung des Irrtums möglich gewesen. Die von dem Kläger beabsichtigte Gestaltungsmöglichkeit sei für die Beklagte demnach keineswegs ohne weiteres erkennbar gewesen. Die Voraussetzungen für eine Anfechtung der Beitragsentrichtung wegen Irrtums sowie für eine Umdeutung des Nachentrichtungsbescheides hinsichtlich der darin festgesetzten Beitragsklasse hat das LSG ebenfalls verneint.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Das Urteil des LSG beruhe auf einer Verkennung der Voraussetzung für einen Herstellungsanspruch (Folgenbeseitigungsanspruch). Die Beklagte habe ihre Aufklärungs-, Hinweis- und Beratungspflicht ihm gegenüber verletzt. Zwar sei für sie nicht ohne weiteres erkennbar gewesen, welche Vorstellungen er bei der Wahl der Beiträge und Beitragsklassen gehabt habe. Seine Beitragswahl sei aber so ungewöhnlich und völlig sinnlos gewesen, daß die Beklagte sie nicht einfach hätte hinnehmen dürfen, ohne wenigstens eine kurze Rückfrage zu halten. Eine seinem tatsächlichen Willen entsprechende Richtigstellung der Beitragswahl sei nur deshalb unterblieben, weil die Beklagte ihre Sorgfaltspflichten nicht eingehalten habe.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG und des SG abzuändern und
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom
16. Januar 1978 zu verurteilen, 42 Beiträge für
die Zeit vom Juli 1961 bis Dezember 1964 in der
höchsten Beitragsklasse entgegenzunehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen.
Das LSG hat einen Anspruch des Klägers auf nachträgliche Erhöhung der von ihm bereits entrichteten Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung für die Zeit vom Juli 1961 bis Dezember 1964 zu Recht verneint. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist die tatsächliche Entrichtung der Beiträge die äußerste Grenze, jenseits deren eine nachträgliche Aufstockung der Beiträge grundsätzlich ausgeschlossen ist (Urteile des Senats vom 13. September 1979 - 12 RK 39/78 -, vom 22. Februar 1980 - 12 RK 12/79 - und vom 27. März 1980 - 12 RK 7/79 und 12 RK 61/79 -).
Die vom Kläger begehrte Erhöhung der Beiträge der Klasse 100 auf die Klasse 800 bzw 1000 läßt sich auch nicht damit begründen, daß die Beklagte im Wege des sozialversicherungsrechtlichen Schadensersatzes zur Herstellung dieses Zustandes verpflichtet wäre. Das LSG hat rechtlich zutreffend darauf abgehoben, daß nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ein Herstellungsanspruch nur dann begründet ist, wenn der Versicherungsträger die sich aus dem Versicherungsverhältnis ergebende Nebenpflicht zur individuellen Beratung verletzt hat (BSGE 41, 126, 127 mwN). Diese individuelle Beratungs- und Hinweispflicht hat jedoch Grenzen. Sie besteht grundsätzlich nicht von Amts wegen, sondern setzt in der Regel ein Auskunftsersuchen des Versicherten voraus (BSGE 42, 224, 227). Ein konkreter Anlaß, der den Versicherungsträger ausnahmsweise von Amts wegen zur Erteilung eines Hinweises verpflichtet, kann sich andererseits auch bei der Prüfung eines Antrages ergeben, sofern dabei Gestaltungsmöglichkeiten zutage treten, deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig erscheint, daß sie ein verständiger Versicherter mutmaßlich nutzen würde (BSGE 41, 126; BSG SozR Nr 3 zu § 1233 RVO; SozR 2200 § 1286 Nr 3; BSGE 46, 124 = SozR 2200 § 1290 Nr 11). Aufgrund der vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die von der Revision nicht mit wirksamen Verfahrensrügen angegriffen worden sind und an die deshalb das Revisionsgericht gebunden ist (§ 163 SGG), müssen die Voraussetzungen eines Herstellungsanspruchs verneint werden. Nach den bindenden Feststellungen des LSG hat der Kläger mit seinem Antrag ein bestimmtes Nachentrichtungsbegehren unterbreitet, keine spezielle Beratung gewünscht und auf die Beratung durch einen Rentenberater hingewiesen. Die Beklagte hat ihrerseits den Kläger noch vor Durchführung der Nachentrichtung auf die Möglichkeit der Hilfe des Versicherungsamtes aufmerksam gemacht. Auch mit der Feststellung, es sei für die Beklagte nicht ohne weiteres erkennbar gewesen, welche Vorstellungen der Kläger bei der Verteilung und Wahl der Beiträge und Beitragsklassen gehabt habe, insbesondere habe sie nicht erkennen können, daß der Kläger von einer falschen Vorstellung ausgegangen sei, hat das LSG lediglich Tatsachenfeststellungen getroffen, an die das BSG mangels durchgreifender Verfahrensrügen gebunden ist. Die rechtliche Schlußfolgerung des LSG, daß die Voraussetzungen eines Herstellungsanspruchs nicht gegeben sind, ist frei von Rechtsirrtum, denn der festgestellte Sachverhalt ergibt keinen Anhalt dafür, daß die Beklagte bei der Behandlung des Nachentrichtungsantrages eine günstigere Gestaltungsmöglichkeit hätte erkennen und den Kläger dementsprechend hätte beraten müssen.
Im Ergebnis hat das LSG auch zu Recht die Voraussetzungen für eine Anfechtbarkeit des Nachentrichtungsantrages des Klägers vom Dezember 1974 und der Beitragsnachentrichtung wegen Irrtums in entsprechender Anwendung des § 119 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) verneint. Insoweit fehlt es schon an einer auf die Nichtigkeit bzw Teilnichtigkeit der früheren Willenserklärung gerichteten Anfechtungserklärung. Dem Vorbringen des Klägers kann eine solche nicht entnommen werden; auch in der Revisionsbegründung sind weder tatsächliche noch rechtliche Ausführungen zur Frage einer Irrtumsanfechtung gemacht worden. Im übrigen könnte allenfalls ein grundsätzlich unbeachtlicher Motivirrtum in Betracht kommen. Mit seiner irrigen Vorstellung über eine Auswirkung des § 1255a RVO auf die Bewertung der bis Dezember 1964 entrichteten niedrigen Beiträge hat sich der Kläger hinsichtlich eines Umstandes geirrt, den er der Beklagten erst am 7. September 1976, also nach Erteilung des Bescheides vom 22. Januar 1975 und Eintritt seiner Bindung, kundgetan hat; schon deshalb kann die fehlerhafte Annahme des Klägers nicht zum erklärten Inhalt seines Antrages vom Dezember 1974 und auch nicht der tatsächlichen Beitragsentrichtung am 28. Februar 1975 geworden sein, so daß ein zur Anfechtung berechtigender Erklärungsirrtum nicht angenommen werden kann. Ein beachtlicher Erklärungsirrtum iS eines Rechtsfolgeirrtums liegt ebenfalls nicht vor, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat. Der Irrtum über die Auswirkungen der entrichteten niedrigen Beiträge auf die Rentenhöhe betrifft nicht unmittelbar die beabsichtigte und durchgeführte Nachentrichtung, sondern die spätere Rentenberechnung als eine unabhängig vom Willen des Erklärenden durch die Rechtsordnung an die vorgenommene Rechtsgestaltung geknüpfte Rechtsfolge (vgl Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 5. Aufl, S 341).
Schließlich kommt auch eine Umdeutung des Nachentrichtungsantrages vom Dezember 1974 oder des Bescheides vom 22. Januar 1975 nicht in Betracht. Für eine Umdeutung des Antrages in entsprechender Anwendung des § 140 BGB fehlt es mangels einer durchgreifenden Irrtumsanfechtung schon an der Voraussetzung der Nichtigkeit einer umdeutungsfähigen Erklärung. Der Umdeutung des Bescheides vom 22. Januar 1975 steht entgegen, daß eine Umdeutung nur bei fehlerhaften Verwaltungsakten vorgesehen ist (vgl jetzt § 43 Abs 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches und auch § 47 Abs 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes). Der Bescheid vom 22. Januar 1975 ist aber zu Recht ergangen und nicht fehlerhaft.
Die Revision des Klägers kann sonach keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen