Entscheidungsstichwort (Thema)
Entziehung einer Berufsunfähigkeitsrente aus der knappschaftlichen Rentenversicherung wegen einer Änderung der Verhältnisse. maßgeblicher Zeitpunkt
Orientierungssatz
Bei der Entziehung einer Berufsunfähigkeitsrente aus der knappschaftlichen Rentenversicherung wegen einer Änderung der Verhältnisse sind die Verhältnisse des Versicherten im Zeitpunkt der Entziehung mit denjenigen zur Zeit der Bewilligung der Knappschaftsrente nicht oder zur Zeit der Bewilligung der Knappschaftsvollrente, zu vergleichen.
Normenkette
RKG § 54; RVO § 1293; RKG § 35
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 23.10.1958) |
SG Köln (Entscheidung vom 30.10.1957) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. Oktober 1958 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der 1901 geborene Kläger war von 1918 bis 1944 im Braunkohlenbergbau hauptberuflich im wesentlichen als Rangierer tätig; Ende 1944 verlor er bei einem Luftangriff auf seinen Betrieb den rechten Unterschenkel; für diese Schädigung bezieht er seitdem eine Versorgungsrente in Höhe von 50 v.H. Vom 1. August 1945 an gewährte die Beklagte ihm aus demselben Anlaß die Knappschaftsvollrente.
Seit Januar 1947 wurde der Kläger von seiner früheren Arbeitgeberin (Grube Liblar) wieder, und zwar als Schreibgehilfe im Versandbüro beschäftigt; die Beklagte entzog ihm darauf durch Bescheid vom 12. Mai 1947 mit Ablauf des Monats Mai 1947 die Knappschaftsvollrente, da er nach ärztlicher Begutachtung zu sitzender Tätigkeit über Tage wieder in der Lage sei und das gesetzliche Lohndrittel verdienen könne; gleichzeitig gewährte sie ihm vom 1. Juni 1947 an die Knappschaftsrente alten Rechts.
Die Mitteilung, der Kläger werde seit Mai 1955 als Portier beschäftigt, veranlaßte die Beklagte zur Überprüfung seiner Berufsfähigkeit; durch Bescheid vom 3. Februar 1956 entzog sie dem Kläger die Knappschaftsrente, weil er nach ärztlicher Feststellung ohne Schädigung seiner Gesundheit als Portier eine dem früheren Rangiererberuf wirtschaftlich gleichwertige und gleichartige Tätigkeit verrichten und zudem als Signal- oder Schrankenwärter arbeiten könne. Diese Auffassung hielt die Beklagte auch in ihrem Widerspruchsbescheid vom 2. Juni 1956 aufrecht.
Das Sozialgericht Köln wies die gegen diesen Bescheid erhobene Klage am 30. Oktober 1957 ab.
Auf die Berufung des Klägers verurteilte das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen die Beklagte, dem Kläger die Knappschaftsrente alten Rechts über den Zeitpunkt der Entziehung hinaus zu gewähren.
Das LSG legte seiner Beurteilung, ob die Rentenentziehung zu Recht erfolgt ist, als Entziehungsvorschrift § 54 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) aF in Verbindung mit § 1293 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF zugrunde. Eine Rentenentziehung sei nur zulässig, wenn der Kläger infolge einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse nicht mehr berufsunfähig im Sinne des § 35 RKG aF sei. Vorliegend fehle es jedoch an jeder wesentlichen Änderung in den Verhältnissen gegenüber dem Zeitpunkt der Rentenbewilligung im Jahre 1947.
Im medizinischen Befund seien ausweislich der vorliegenden Gutachten, wie auch die Beklagte einräume, keine irgendwie wesentlichen Voraussetzungen eingetreten.
Auch eine Anpassung und Gewöhnung, die als wesentliche Änderung angesehen werden könne, liege entgegen der Annahme der Beklagten nicht vor. Aus den ärztlichen Gutachten ergebe sich vielmehr eindeutig, daß der Kläger sich im Mai 1947 schon vollkommen an die Schädigungsfolgen gewöhnt habe (er habe damals seine Prothese bereits 18 Monate ohne Störungen getragen), so daß nach jenem Zeitpunkt eine weitere Anpassung und Gewöhnung nicht mehr in Frage gekommen sei.
Schließlich könne auch daraus, daß der Kläger seine Arbeit erst kurz vor der Rentenbewilligung, nämlich im Januar 1947, wiederaufgenommen habe, nicht gefolgert werden, daß die mögliche optimale Gewöhnung und Anpassung des Klägers nicht bereits vorher eingetreten sei. Aus den Gutachten ergebe sich vielmehr, daß der Kläger schon vor Mai 1947 für fähig gehalten worden sei, Pförtner-, Weichensteller- und andere ähnliche Arbeiten zu verrichten. Demnach sei, da diese Arbeiten gleichwertig und gleichartig mit denen eines Rangierers gewesen wären, der Kläger schon vor der Bewilligung der Knappschaftsrente wieder berufsfähig im Sinne des § 35 RKG aF gewesen.
Dann aber könne die Rente, auch wenn dies der Beklagten unbillig erscheine, nicht wieder entzogen werden.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 21. April 1959 zugestellte Urteil vom 23. Oktober 1958, an dem zwei Sozialgerichtsräte als weitere Berufsrichter mitgewirkt hatten, am 12. Mai 1959 unter Antragstellung die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und diese am 15. Juni 1959 begründet.
Sie rügt eine Verletzung des § 86 RKG nF und Art. 3 § 2 des Knappschaftsversicherungs-Neuregelungsgesetzes (KnVNG).
Da nach § 2 aaO (abgesehen von der Sondervorschrift des Art. 3 § 6 aaO) am 1. Januar 1957 alle dem KnVNG entgegenstehenden oder gleichlautenden Vorschriften außer Kraft getreten seien, sei damals auch an Stelle der bisherigen Entziehungsvorschriften (§ 54 RKG aF i.V.m. § 1293 RVO) die Neuregelung des § 86 RKG getreten. Diese Bestimmung sei sogar unmittelbar anzuwenden, da nach Art. 2 § 24 Abs. 1 KnVNG die Knappschaftsrente alten Rechts in Bergmannsrenten neuen Rechts umgestellt worden seien.
Zwar seien nach § 31 Abs. 1 aaO die alten Renten weiterzuzahlen, solange die bisherigen Voraussetzungen für ihre Gewährung vorlägen, die Knappschaftsrente alten Rechts also, solange Berufsunfähigkeit nach § 35 aaO bestehe. Umgekehrt sei daraus jedoch zu folgern, daß die Entziehung sich nach neuem Recht richte. Der Kläger erziele als Portier bzw. Telefonist auf Grund neuer Erkenntnisse und Fähigkeiten einen Entgelt, der der für ihn maßgeblichen Bemessungsgrundlage entspreche. Die Rentenentziehung sei daher nach § 86 Abs. 2 RKG gerechtfertigt.
§ 31 Abs. 1 aaO habe hier schon deshalb außer Betracht zu bleiben, weil diese Bestimmung nur die Entziehung von Leistungen verbiete, deren Voraussetzungen sich durch das neue Recht geändert hätten, hier jedoch alle Tätigkeiten des Klägers ohnehin als gleichartig anzusehen seien.
Die Beklagte beantragt, die Berufung gegen das sozialgerichtliche Urteil unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt demgegenüber kostenpflichtige Zurückweisung der Revision. Er hält die Begründung des angefochtenen Urteils für zutreffend und trägt noch vor, auch der erkennende Senat habe durch seine Entscheidungen (BSG 6, 25 und 8, 242) die Anwendung der Entziehungsvorschriften alten Rechts auf alte Rentenfälle gebilligt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist frist- und formgerecht unter Antragstellung eingelegt und begründet worden. Sie ist vom LSG zugelassen und daher statthaft.
Der Umstand, daß das angefochtene Urteil von einem ordnungswidrig - mit zwei Hilfsrichtern - besetzten Senat des LSG erlassen wurde, ist als Verfahrensmangel nicht gerügt worden und nach der inzwischen ständig gewordenen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht von Amts wegen zu berücksichtigen.
Sachlich ist die Revision nicht begründet.
Die Entziehung ist durch die Bescheide vom 3. Februar und 2. Juni 1956 erfolgt. Da irgendwelche in dieser Hinsicht rückwirkende Vorschriften in dem KnVNG nicht enthalten sind, richtet sich die Berechtigung dieser Entziehung zu dem genannten Zeitpunkt nach den damals geltenden Vorschriften (§ 54 RKG aF i. V. m. § 1293 RVO aF), wonach eine Knappschaftsrente alten Rechts nur entzogen werden konnte, wenn der Berechtigte infolge einer wesentlichen Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig im Sinne des § 35 RKG aF war. Hierbei sind entgegen der Ansicht der Beklagten die Verhältnisse des Versicherten im Zeitpunkt der Entziehung mit denjenigen zur Zeit der Bewilligung der Knappschaftsrente, nicht aber zur Zeit der Bewilligung der Knappschaftsvollrente, zu vergleichen.
Nach den mit zulässigen Revisionsrügen nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist in dem Gesundheitszustand des Klägers seit der Bewilligung der Knappschaftsrente bis zu ihrem Entzug keine Änderung eingetreten. Der chirurgische Zustand des Beinverlustes - neben dem sonstige Leiden nicht bestehen - ist vielmehr unverändert geblieben. Auch eine Gewöhnung und Anpassung an die Stumpfbeschwerden und das Tragen einer Prothese seit der Rentenbewilligung wird von dem LSG mit der Begründung verneint, daß die eine abschließende endgültige Stumpfbildung herbeiführende Nachoperation zur Zeit der Rentenbewilligung bereits 27 Monate zurückgelegen habe und der Kläger sich an seine Prothese, die er ständig getragen habe, zu jenem Zeitpunkt bereits hinreichend gewöhnt habe. Spätestens in der Zeit zwischen der Arbeitsaufnahme im Januar 1947 und der Rentenbewilligung im Mai 1947 sei die optimale Gewöhnung und Anpassung des Klägers eingetreten. Das LSG hat hieraus in Verbindung mit den vorliegenden Gutachten mit Recht den Schluß gezogen, daß der Kläger die ihm jetzt zugemuteten, dem Rangierer unstreitig im wesentlichen gleichartigen und Wirtschaftlich gleichwertigen Tätigkeiten - insbesondere die eines Pförtners und Weichenstellers - auch damals bereits habe verrichten können, daß der Kläger also bereits zur Zeit der Rentenbewilligung tatsächlich nicht berufsunfähig im Sinne des alten Rechts gewesen sei. Danach erweist sich der Entziehungsbescheid als widerrechtlich.
Abschließend sei lediglich noch bemerkt, daß entgegen der Ansicht der Beklagten auch dann, wenn im vorliegenden Fall § 86 RKG nF anzuwenden wäre, das Ergebnis nicht anders sein könnte, weil auch diese Vorschrift für die Entziehung stets eine Änderung der Verhältnisse voraussetzt und die von der Beklagten vorgetragene Auffassung, ein Rangierer müsse zur Verrichtung der - ungelernten - Arbeiten eines Portiers, Telefonisten usw. neue Kenntnisse und Fertigkeiten im Sinne des § 86 Abs. 2 aaO erwerben, unrichtig ist.
Die Revision war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen