Leitsatz (amtlich)
Der Tag, an dem die Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wird, bleibt für den Beginn des Krankengeldes (RVO § 182 Abs 3 S 1) jedenfalls dann maßgebend, wenn es dem Versicherten nicht objektiv unmöglich war, die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit am Tage ihres Eintritts zu erlangen.
Leitsatz (redaktionell)
Die Vorschrift des RVO § 182 Abs 3 S 1, wonach Krankengeld von dem Tage an zu gewähren ist, der dem Tage der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgt - bei Arbeitsunfall oder Berufskrankheit vom Feststellungstage an -, ist auch dann anzuwenden, wenn der Versicherte den Arzt nicht angetroffen hat und die Arbeitsunfähigkeit deshalb erst einige Tage später ärztlich festgestellt wurde.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 3 Fassung: 1961-07-12
Tenor
Die Sprungrevision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28. Mai 1962 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger suchte wegen gesundheitlicher Beschwerden am Freitag, dem 22. September 1961, die Praxis des Arztes Dr. med. Sch. in W auf. Dort wurde ihm von der Sprechstundenhilfe mitgeteilt, daß der Arzt abwesend sei und erst am Montag, dem 25. September 1961, wieder praktiziere. Der Kläger begab sich an diesem Tage erneut in die Praxis. Dr. Sch. stellte seine Arbeitsunfähigkeit seit dem 23. September 1961 fest. Die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) gewährte dem Kläger daraufhin Krankengeld vom 26. September 1961 an.
Der Kläger ist der Auffassung, daß ihm auch für den 25. September 1961 Krankengeld zustehe, da die Arbeitsunfähigkeit bereits für den 23. September 1961 ärztlich bestätigt worden sei; aus der Abwesenheit des Arztes, die er nicht zu vertreten habe, dürften ihm keine Rechtsnachteile erwachsen. Sein Widerspruch gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten wurde durch Bescheid vom 14. Dezember 1961 zurückgewiesen.
Mit der Klage hat der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen,
an ihn 20,02 DM zu zahlen.
Die Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt. Sie ist unter Hinweis auf § 182 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle vom 12. Juli 1961 (BGBl I 913) der Auffassung, daß ein Anspruch auf Krankengeld erst vom 26. September 1961 an bestehe, da die Arbeitsunfähigkeit des Klägers erst am 25. September 1961 festgestellt worden sei.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen (Urteil vom 28. Mai 1962). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:
Anstelle des früheren Anknüpfungspunktes des Gesetzes (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 RVO aF), nämlich des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit, sei nunmehr nach § 182 Abs. 3 Satz 1 RVO die ärztliche Feststellung für den Anspruch auf Krankengeld maßgebend. Wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergebe, sollte eine rückwirkende Feststellung der Arbeitsunfähigkeit generell ausgeschlossen und die bisherige Möglichkeit der Zurückdatierung der Arbeitsunfähigkeit beseitigt werden.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger mit Einwilligung der Beklagten Sprungrevision eingelegt mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sowie den Ablehnungsbescheid der beklagten AOK vom 26. September 1962 idF des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 1961 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 20,02 DM zu zahlen. Zur Begründung seiner Revision hat der Kläger ausgeführt: Der Wortlaut der hier strittigen Vorschrift sei eindeutig. Er werde auch durch die Entstehungsgeschichte sowie den Sinn und Zweck der Vorschrift bestätigt.
Das Gericht habe aber eine Überprüfung der Gesetzesvorschrift im Hinblick auf Art. 20 des Grundgesetzes (GG) unterlassen. Hiernach sei die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Es sei zu prüfen, ob das positive Gesetz mit dem weiteren Begriff des Rechts vereinbar sei. Auch das öffentliche Recht unterstehe der Herrschaft von Treu und Glauben. Mit den Grundsätzen von Treu und Glauben sei es aber nicht vereinbar, daß der Versicherte unter der Härte des Gesetzes leiden solle, wenn er unverschuldet an der rechtzeitigen Inanspruchnahme des Arztes zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit gehindert gewesen sei. Insoweit stehe das Recht über dem Gesetz und zwinge dazu, bei solchen Ausnahmetatbeständen die Grundsätze von Treu und Glauben anzuwenden.
Die Beklagte hat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil des SG für zutreffend.
Die Sprungrevision des Klägers ist nicht begründet. Die beklagte AOK hat den vom Kläger erhobenen Anspruch auf Krankengeld für den 25. September 1961 mit Recht abgelehnt.
Anspruchsgrundlage ist § 182 Abs. 3 RVO idF des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle vom 12. Juli 1961, in Kraft getreten am 1. August 1961 (vgl. Art. 9 des Gesetzes). Danach wird Krankengeld, sofern es sich nicht um einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung handelt, von dem auf die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgenden Tage an gezahlt.
Wie auch die Revision einräumt, ist die Fassung des § 182 Abs. 3 Satz 1 RVO idF des Gesetzes vom 12. Juli 1961 klar. Beruht die Arbeitsunfähigkeit weder auf einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit - wie im vorliegenden Fall -, so beginnt das Krankengeld mit dem Tag, der auf den Tag folgt, an dem die Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wird. Daß der Wortlaut den Sinn und Zweck der Vorschrift unverkürzt zum Ausdruck bringt, bestätigt ihre Entstehungsgeschichte. Zum Unterschied von der bisherigen Regelung, die auf den Eintritt der Arbeitsunfähigkeit abgestellt und damit auch rückwirkende Feststellungen der Arbeitsunfähigkeit mit den sich daraus ergebenden Zweifeln ermöglicht hatte, war im Entwurf der neuen Regelung von vornherein vorgesehen, daß an die Stelle des tatsächlichen Eintritts der Arbeitsunfähigkeit deren Feststellung treten sollte. Durch Beschluß des Ausschusses für Sozialpolitik wurde das Wort "ärztliche" (Feststellung) eingefügt (vgl. den schriftlichen Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik, BT-Drucks. 2748, 3. Wahlperiode). Diese Änderung führte zur Anrufung des Vermittlungsausschusses durch den Bundesrat mit der Begründung, diese Regelung erscheine bedenklich: Der Zeitpunkt der ärztlichen Feststellung könne aus Gründen, die der Kranke nicht zu vertreten habe, erheblich später liegen als der tatsächliche Eintritt der Arbeitsunfähigkeit; in diesen Fällen wäre eine Benachteiligung des erkrankten Arbeitnehmers unvermeidbar; darüber hinaus sollte das ärztliche Attest kein ausschließlicher Beweis für das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit sein (vgl. BT-Drucks. 2864, 3. Wahlperiode und die Verhandlungen des Bundesrats, 234. Sitzung vom 16. Juni 1961 S. 156 D). In den Beratungen des Vermittlungsausschusses vertrat die Minderheit wie der Bundesrat die Ansicht, daß entsprechend dem bisherigen Recht der Tag des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit maßgebend bleiben solle und der Arzt somit auch in Zukunft eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigen könne, die vor der ärztlichen Inanspruchnahme eingetreten sei. Die Mehrheit dagegen war der Auffassung, daß eine rückwirkende Bescheinigung des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit generell ausgeschlossen werden müsse, auch wenn das im Einzelfall zu Härten führe. Dementsprechend wurde die heutige Fassung Gesetz (vgl. die Verhandlungen des Bundesrats, 235. Sitzung vom 30. Juni 1961 S. 163 D).
Diese Regelung verstößt nicht gegen das GG. Zu Unrecht meint die Revision, gegenüber dem positiven Recht müsse der Grundsatz von Treu und Glauben als höherwertiges Recht in dem Sinne durchgreifen, daß ein Versicherter nicht unter der Härte des Gesetzes leiden dürfe, wenn er unverschuldet an der rechtzeitigen Inanspruchnahme des Arztes zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit gehindert sei. Der Grundsatz von Treu und Glauben ist ein allgemeiner Rechtsgedanke, der mißbräuchlicher Rechtsanwendung im Rechtsverkehr - sei es im privaten, sei es im öffentlichen Recht - steuern soll; er kann aber nicht dem Gesetzgeber vorgehalten werden. Eher könnte in diesem Zusammenhang an den Verfassungsgrundsatz der Sozialstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG) gedacht werden. Wie immer aber auch die Grenze zu ziehen ist, die durch diese "Grundsatznorm" des GG (vgl. BVerfG 6, 55, 71) dem Gesetzgeber vorgezeichnet ist, so kann sie jedenfalls nicht im Sinne einer allgemeinen Härteklausel verstanden werden (vgl. BSG 15, 71, 76; 19, 88, 92; 20, 41, 45). Der Gesetzgeber hat bei der Frage, ob für den Krankengeldanspruch auf das Ereignis selbst, nämlich die Arbeitsunfähigkeit, oder besser auf dessen Feststellung abzustellen sei, aus Gründen der Praktikabilität und der Mißbrauchsbekämpfung dieser Lösung den Vorzug gegeben und die sich dabei im Einzelfall ergebenden Härten gesehen und in Kauf genommen. Solche Vereinfachungen und Vergröberungen sind im Rahmen einer generalisierenden Regelung unvermeidlich und nach dem GG zulässig (vgl. BVerfG 13, 21, 29).
Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die sich aus der derzeitigen Krankengeldregelung für den Versicherten ergebende Obliegenheit, die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit möglichst am Tage ihres Eintritts zu erlangen, gerade im vorliegenden Fall nicht zu sonderlichen Härten für den Kläger geführt hat. Der Kläger hätte unschwer anstelle seines am 22. September 1961 nicht erreichbaren Hausarztes einen anderen Kassenarzt zur Feststellung seiner Arbeitsunfähigkeit aufsuchen können, was nach Lage der Umstände auch nach § 368 d Abs. 2 und 3 RVO zu vertreten gewesen wäre. So verständlich es ist, daß der Kläger seine Arbeitsunfähigkeit gerade von seinem behandelnden Arzt festgestellt wissen wollte, so wäre es doch keine unzumutbare Belastung gewesen, ausnahmsweise einen anderen Kassenarzt in Anspruch zu nehmen, wie sich ja auch sonst im Falle der Verhinderung des behandelnden Arztes diese Notwendigkeit ergeben kann.
Ob im Falle objektiver Unmöglichkeit, die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit rechtzeitig zu erreichen, § 183 Abs. 3 Satz 1 RVO erweiternd auszulegen ist, hat der Senat hier nicht zu entscheiden; diese Frage bleibt offen.
Demnach mußte die Sprungrevision des Klägers als unbegründet zurückgewiesen werden. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen