Leitsatz (redaktionell)
1. SGG § 77 ist nicht auf Verwaltungsakte anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten des SGG (1954-01-01) ergangen und nach dem früheren Recht nicht unanfechtbar geworden sind.
2. Äußert sich die KK als Einzugsstelle in einem Einzelfall schriftlich über das Vorliegen von Versicherungspflicht oder -freiheit, so handelt es sich hierbei um einen feststellenden Verwaltungsakt und nicht um eine unverbindliche Auskunft oder ein schlichtes Verwaltungshandeln.
3. SGG § 77 ist auf Bescheide, die vor dem Inkrafttreten des SGG (1954-01-01) ergangen sind, nicht anzuwenden, so daß die Einzugsstelle befugt ist, solche Bescheide jederzeit zu überprüfen und über die Frage der Versicherungspflicht - auch rückwirkend - neu zu befinden.
4. Einer nachträglichen Geltendmachung von Beitragsforderungen zur RV steht der Grundsatz von Treu und Glauben nicht entgegen.
Normenkette
SGG § 77 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der beigeladenen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. Juli 1963 aufgehoben, soweit es die Versicherungs- und Beitragspflicht der Kläger K und W Sch in der Angestelltenversicherung seit dem 1. Januar 1954 betrifft.
In diesem Umfange wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten in der Revisionsinstanz noch darüber, ob die Gesellschafter der Klägerin zu 1) K Sch (Kläger zu 2) und W Sch (Kläger zu 3), seit dem 1. Januar 1954 pflichtversichert zur Angestelltenversicherung sind.
Die klägerische Firma ist eine GmbH. Ihre Gesellschafter sind auf Grund des Gesellschaftsvertrages vom 28. Juli 1949 die vier Brüder K Sch (Kläger zu 2), W Sch (Kläger zu 3) und R Sch (Kläger zu 4) sowie B Sch Ihre Stammeinlage beträgt je 12.500 DM. Geschäftsführer sind auf Grund des Gesellschaftsvertrages die Brüder K und R Sch Mit einem Schreiben an die klägerische Firma vom 13. August 1949 hatte die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) nach Einsicht in den Gesellschaftsvertrag und Prüfung das Vorliegen eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses hinsichtlich aller vier Gesellschafter verneint, weil die vier Brüder die alleinigen Gesellschafter und damit selbst die Unternehmer seien; sie hätten bei gleichem Kapitalanteil das gleiche Stimmrecht und denselben Einfluß auf die Geschäftsführung; es liege deshalb weder ein persönliches noch ein wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis vor.
Auf Anregung der beigeladenen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) führte die beklagte AOK im März 1956 eine Beitragsprüfung durch und stellte durch einen Bescheid vom 16. März 1956 hinsichtlich der Gesellschafter K und W Sch Versicherungspflicht zur Angestellten- und Arbeitslosenversicherung fest; gleichzeitig forderte sie die Klägerin zu 1) auf, diese beiden Gesellschafter rückwirkend vom 1. Januar 1954 an zur Sozialversicherung anzumelden und Beiträge zu entrichten. Der Widerspruch wurde am 25. August 1956 zurückgewiesen: K Sch sei zwar zum Geschäftsführer bestellt worden, ihm sei jedoch kein maßgebender Einfluß auf die Entscheidungen der Gesellschaft eingeräumt worden, so daß er in einem abhängigen Dienstverhältnis stehe. Die Tätigkeit des Gesellschafters W Sch sei nicht im Gesellschaftsvertrag festgelegt und unterliege ebenfalls der Versicherungspflicht.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 25. September 1958 u. a. ausgesprochen, daß die Gesellschafter K und W Sch der Versicherungspflicht zur Angestellten- und Arbeitslosenversicherung mit Ausnahme der Zeit vom 1. August 1956 bis 28. Februar 1957 unterlägen und daß die Klägerin zu 1) verpflichtet sei, ab 17. März 1956 entsprechend Sozialversicherungsbeiträge an die Beklagte zu entrichten.
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der BfA und auf die Anschlußberufung der Kläger das Urteil des SG sowie die Bescheide der Beklagten insoweit aufgehoben, als in ihnen Versicherungs- und Beitragspflicht für die Gesellschafter K und W Sch zur Rentenversicherung der Angestellten festgestellt worden ist. Die weitergehende Berufung und Anschlußberufung hat es zurückgewiesen. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, streitig sei in der Berufungsinstanz nur noch die Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung. Die Beklagte habe in ihrem Schreiben vom 13. August 1949 die Versicherungspflicht dieser beiden Gesellschafter zur Rentenversicherung der Angestellten verneint; daran seien die beklagte AOK und die beigeladene BfA gebunden, selbst wenn dies irrtümlich geschehen sein sollte. Denn dieses Schreiben stelle einen Verwaltungsakt dar. Dieser habe einen Mischcharakter, da er auch einen begünstigenden Inhalt habe. Dieser Verwaltungsakt sei nach § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindend geworden, weil § 405 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a. F., der eine jederzeitige Überprüfung der Versicherungspflicht oder Versicherungsfreiheit ermöglicht habe, durch das SGG aufgehoben worden sei. Diese Bindung erstrecke sich auch auf die beigeladene BfA. Es fehle an einem Gesetz, das die Rücknahme dieses Verwaltungsaktes gestatte. Auch die Beigeladene sei an diese Entscheidung so lange gebunden, als sich die Sach- und Rechtslage nicht geändert habe. Revision ist zugelassen worden.
Die beigeladene BfA hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung des § 77 SGG und trägt vor:
Das Schreiben der Beklagten vom 13. August 1949 sei kein Verwaltungsakt. Zwischen den Beteiligten habe keine Meinungsverschiedenheit über die Versicherungspflicht bestanden. Daher dürfte dieses Schreiben lediglich eine Bestätigung der von der Klägerin vertretenen Rechtsauffassung sein; als solche entbehre das Schreiben des Merkmals einer Einzelregelung. Selbst wenn man aber einen Verwaltungsakt annehme, so unterliege er nicht der Bindungswirkung des § 77 SGG. Denn diese Vorschrift sei nicht auf Verwaltungsakte anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten des SGG (1. Januar 1954) ergangen seien. Vor dem Inkrafttreten seien Bescheide über die Versicherungspflicht nicht bindend geworden, vielmehr hätte nach § 405 Abs. 2 RVO a. F. jederzeit eine Entscheidung des Oberversicherungsamts (OVA) herbeigeführt werden können. Diese Eigenart hätten die nach dem Verfahrensrecht der RVO ergangenen Beitragsbescheide auch über den 31. Dezember 1953 hinaus behalten.
Aber auch bei einer rückwirkenden Anwendung des § 77 SGG sei dieser Bescheid ihr, der Beigeladenen, als dem zuständigen Rentenversicherungsträger gegenüber nicht bindend geworden. Von diesem Bescheid seien nicht nur der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer betroffen, sondern auch der Rentenversicherungsträger. Sie, die Beigeladene, sei seinerzeit über den Bescheid nicht unterrichtet worden, erst im Jahre 1956 sei sie veranlaßt worden, eine Prüfung vorzunehmen. Sie habe deshalb ihr Anfechtungsrecht, das ihr grundsätzlich zustehe, nicht versäumt.
Die beigeladene BfA beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Hildesheim vom 25. September 1958 und des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. Juli 1963 abzuändern und den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 25. August 1956 auch insoweit wiederherzustellen, als er den Beginn der Versicherungspflicht zur Angestelltenversicherung auf den 1. Januar 1954 festsetzt.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Die beigeladene Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BfArb) stellt keinen Antrag.
Die beklagte AOK hat keine Erklärung abgegeben.
II
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Entgegen der Ansicht der Revisionsklägerin handelt es sich bei dem Schreiben der beklagten AOK vom 13. August 1949 um einen feststellenden Verwaltungsakt und nicht um eine unverbindliche Auskunft oder ein schlichtes Verwaltungshandeln. Denn dieses Schreiben regelt seinem Inhalt nach die Versicherungspflicht bzw. die Versicherungsfreiheit der Gesellschafter der Klägerin und schafft damit insoweit eine Regelung für den Einzelfall, die für alle Beteiligten Rechtswirkung erzeugt. Es sind nunmehr keine Beiträge mehr zu entrichten.
Dieser Bescheid ist jedoch nicht nach § 77 SGG bindend geworden, wie das LSG meint, Denn diese Vorschrift ist nicht auf Bescheide anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten des SGG (1. Januar 1954) ergangen sind und die nach dem früheren Recht nicht unanfechtbar geworden sind. Vor dem 1. Januar 1954 konnte vielmehr die Frage der Versicherungspflicht oder Versicherungsfreiheit ohne Rücksicht auf eine solche Entscheidung der Krankenkasse nach der damaligen Vorschrift des § 405 Abs. 2 RVO jederzeit überprüft werden. Da es mithin an einer Bindung an den Bescheid vom 13. August 1949 fehlt, war die beklagte AOK befugt, über die Frage der Versicherungspflicht neu zu befinden (ebenso Urteil des Senats vom 27. August 1965 - 3 RK 74/61 -).
Der nachträglichen Geltendmachung von Beitragsforderungen durch die Einzugsstelle steht auch nicht der für das öffentliche Recht geltende Grundsatz von Treu und Glauben entgegen. Die hiernach gebotene Differenzierung der Beurteilung und Abwägung zwischen den öffentlichen und den privaten Interessen führt in der Rentenversicherung dazu, die Beitragsnachforderungen grundsätzlich für zulässig zu erachten. Das Interesse des Versicherten an der tatsächlichen Beitragsentrichtung überwiegt das des Arbeitgebers auf Schutz vor nachträglicher Inanspruchnahme (vgl. im einzelnen BSG 17, 173 und 21, 52). Es können daher noch die Beiträge zur Angestelltenversicherung nachgefordert werden, soweit sie nicht verjährt sind.
Das Urteil des LSG muß daher aufgehoben werden, soweit es die Versicherungs- und Beitragspflicht der Kläger K und W Sch in der Angestelltenversicherung seit dem 1. Januar 1954 betrifft. Weil tatsächliche Feststellungen fehlen, die dem Senat eine abschließende Entscheidung ermöglicht hätten, muß die Sache in dem genannten Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Das LSG wird daher nunmehr zu prüfen haben, ob die Kläger K und W Sch der Angestelltenversicherungspflicht unterliegen oder nicht.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem LSG überlassen.
Fundstellen