Leitsatz (amtlich)
Für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit sind die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland (einschließlich West-Berlin) - nicht die im Ausland - maßgebend (vergleiche BSG 1971-11-24 4 RJ 459/70 = SozR Nr 98 zu § 1246 RVO); Verfolgten iS des BEG § 1 ist insoweit keine Ausnahmestellung eingeräumt.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; BEG § 1; WGSVG
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 7. Dezember 1973 wird aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Februar 1971 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Es ist umstritten, ob die Klägerin Versichertenrente beanspruchen kann.
Die im Jahre 1915 geborene Klägerin ist Verfolgte im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes. Sie wanderte 1941 in die USA aus. Seit 1946 ist sie dort Staatsangehörige. Bei ihrer Heirat 1939 in Berlin wurden ihr die bis dahin entrichteten Rentenversicherungsbeiträge erstattet. Danach war sie noch bis Anfang 1941 in B als ungelernte Arbeiterin beschäftigt. Für diese Zeit sind Beiträge entrichtet worden. In den USA arbeitete sie als Näherin.
Die Klägerin leidet an Bronchialasthma und exogenem Übergewicht. Sie kann noch leichte bis mittelschwere Arbeiten in möglichst staubfreien Räumen, ohne Zugluft, ohne Heben und Tragen von Lasten über 5 kg, nicht auf Leitern und Gerüsten, täglich 6 Stunden verrichten.
Die Beklagte lehnte die Gewährung von Versichertenrente ab (Bescheid vom 16. Oktober 1969). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. Februar 1971). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin von Februar 1969 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 7. Dezember 1973). - Das LSG hat einen Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bejaht und sinngemäß im wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin sei auf jede Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verweisen. Die in den USA ausgeübte Tätigkeit als Näherin müsse außer Betracht bleiben, weil dafür keine Beiträge zur deutschen Rentenversicherung entrichtet worden seien. Ihr sei bei dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen der allgemeine Teilzeitarbeitsmarkt nicht verschlossen. Maßgebend dafür seien grundsätzlich die Verhältnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Der Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag mit den USA vom 29. Oktober 1954 bestimme nicht, daß für die in den USA lebenden Versicherten der deutschen Rentenversicherung die dortigen Arbeitsmarktverhältnisse zugrunde zu legen seien. Das Bundessozialgericht (BSG) habe jedoch bei Verfolgten Ausnahmen von diesem Grundsatz für möglich gehalten. Aus den Entscheidungen vom 24. November 1971 (SozR Nr. 98 zu § 1246 Reichsversicherungsordnung - RVO -) und vom 4. November 1964 - 11/1 RA 178/61 - gehe allerdings nicht klar hervor, ob bei Verfolgten, "denen eine Rückkehr in die Bundesrepublik nicht zuzumuten sei", die Arbeitsmarktverhältnisse des Auslands zugrunde zu legen seien. Da es aussichtslos sei, diese festzustellen, sei auch bei Verfolgten die Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit nach den deutschen Verhältnissen zu beurteilen. Dabei sei zu bedenken, daß nach den Entscheidungen des Großen Senats des BSG (GS) vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167, 192) zwar regelmäßig der Arbeitsmarkt des gesamten Bundesgebietes auszuwerten sei, daß aber der GS Ausnahmen, insbesondere aus sozialen Gründen, zulasse. Diese für die Zumutbarkeit eines Wohnortwechsels innerhalb des Bundesgebietes zu beachtenden Grundsätze seien bei den im Ausland lebenden versicherten Verfolgten anzuwenden. Danach sei der Klägerin ein Umzug in die Bundesrepublik - bei ihrem Alter und dem Umstand, daß sie seit über 30 Jahren in den USA lebe, wo ihre einzige nächste Angehörige, ihre Tochter, wohne - nicht zuzumuten. Der Teilzeitarbeitsmarkt der Bundesrepublik stehe ihr somit nicht zur Verfügung; deshalb sei sie erwerbsunfähig.
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Sie beanstandet die - dargelegte - Auffassung des LSG. Die zu Gunsten der Verfolgten erlassenen Gesetze stellten die Verfolgten so, als hätte sich ihr Versicherungsleben ohne Verfolgung fortentwickelt. Sie würden hinsichtlich des Zustandes nach der Auswanderung weiterhin als im Inland lebend behandelt, und zwar sowohl hinsichtlich des unvollkommen gebliebenen Versicherungsverhältnisses als auch nach dem entstandenen Ausländerstatus (zu vergleichen: § 1251 Abs. 1 Nr. 4, § 1321 Abs. 5 RVO; Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 - WGSV). Damit habe die Verfolgtengesetzgebung zu einem völligen Ausgleich für Verfolgte gegenüber nicht verfolgten Versicherten geführt. Die Auffassung des LSG hieße, den Verfolgten über diesen Ausgleich hinaus eine weitere Sonderstellung einzuräumen und damit vom Grundsatz der Gleichbehandlung abzugehen. Bei dieser Auffassung könnte jeder im Ausland lebende Verfolgte, der nicht mehr ganztägig arbeiten könne, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beanspruchen, weil er sich im Hinblick auf seine nach der Auswanderung erworbenen Lebensgüter auf die Unzumutbarkeit seiner Rückkehr berufen könnte. Dies sei weder mit dem Verfolgten-Status noch mit den Entscheidungen des GS zu vereinbaren.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist begründet. Die Klägerin kann Versichertenrente nicht beanspruchen, weil sie nicht berufs- oder erwerbsunfähig ist. Es kommt im Rahmen der §§ 1246, 1247 RVO nicht darauf an, ob dem Versicherten eine Rückkehr in die Bundesrepublik zuzumuten ist.
Nach der Ermittlung des bisherigen Berufes und der Verweisungsberufe nach § 1246 Abs. 2 RVO hat das LSG die Klägerin zu Recht auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen und dabei ihre Beschäftigung in den USA als Näherin nicht berücksichtigt. Die Inländerbehandlung, die durch den Freundschaftsvertrag mit den USA vom 29. Oktober 1954 den Staatsangehörigen eines Vertragsstaates hinsichtlich der Anwendung der Vorschriften über Leistungen bei Invalidität und Berufsunfähigkeit zugesichert wird, bedeutet, daß Staatsangehörige der USA im Ausland die gleichen Ansprüche wie deutsche Staatsangehörige haben, die sich im Ausland aufhalten (vgl. BMA in BABl 1956, 488; SozR Nr. 2 zu Art. IV Abk. USA), ist also in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung. Das LSG ist auch zu Recht davon ausgegangen, daß nach der Rechtsprechung des BSG (SozR Nr. 98 zu § 1246 RVO) für die Beurteilung, ob Berufsunfähigkeit vorliegt, die Verhältnisse auf dem Arbeitsfeld im Inland - nicht die im Ausland - maßgebend sind. Die im Vertrag vom 29. Oktober 1954 vereinbarte Inländerbehandlung berührt diese Frage nicht.
Die Versicherungspflicht von Beschäftigten in der gesetzlichen Rentenversicherung ist nach räumlichen Gesichtspunkten geregelt und deshalb auf eine in Deutschland - also auf dem deutschen Arbeitsmarkt - verrichtete Beschäftigung beschränkt, sofern nicht für besondere Beschäftigungsverhältnisse und in zwischenstaatlichen Verträgen Ausnahmen normiert sind (vgl. § 1227 RVO). Dieser auf das Inland begrenzten Versicherungspflicht und der Beitragsentrichtung zu deutschen Versicherungsträgern entspricht es, daß nur der inländische Arbeitsmarkt von Bedeutung ist, wenn das Vorliegen von Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit in Frage steht. Neben diesen systematischen Gründen spricht dafür auch, daß der Rentenversicherungsträger, dem die Erhaltung, Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit von Versicherten zur Vermeidung oder Behebung von Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit vorrangig vor der Rentengewährung obliegt, diese seine Aufgaben nur im Inland erfüllen kann. Nur dort kann er mit den Trägern der Krankenversicherung, der Unfallversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit zur Durchführung von Rehabilitationsmaßnahmen erfolgversprechend zusammenarbeiten. Die Möglichkeit, die einschlägigen Vorschriften der RVO, des Arbeitsförderungsgesetzes und des Gesetzes über die Angleichung der Leistung zur Rehabilitation vom 7. August 1974 durchzusetzen, ist auf den Geltungsbereich dieser Gesetze beschränkt. Dies zeigt, daß die Überlegungen des GS in seinen Beschlüssen vom 11. Dezember 1969 zur Zumutbarkeit eines Umzugs innerhalb der Bundesrepublik auf die Frage des Zuzugs aus dem Ausland in das Bundesgebiet nicht übertragen werden können; denn die rechtserheblichen tatsächlichen Verhältnisse und die Rechtslage unterscheiden sich. Ebenso zeigen diese Überlegungen, daß die Unterscheidung zwischen einem freiwilligen und einem unfreiwilligen Aufenthalt im Ausland bei der Auszahlung bereits festgesetzter Renten an Berechtigte im Ausland (§§ 1315 ff RVO) nicht auch für die Frage herangezogen werden kann, ob und unter welchen Voraussetzungen ein im Ausland wohnender Versicherter einen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit überhaupt erst erwirbt.
In der im SozR Nr. 98 zu § 1246 RVO veröffentlichten Entscheidung hat der Senat zwar die Möglichkeit erwähnt, daß Ausnahmen für Verfolgte, denen eine Rückkehr nach Deutschland nicht zuzumuten sei, denkbar sein könnten. Auch in der Entscheidung des 11. Senats vom 4. November 1964 - 11/1 RA 178/61 - ist eine solche Möglichkeit angedeutet. Es ist verständlich, daß das LSG diese Äußerungen im vorliegenden Fall aufgegriffen hat. Der Senat hat jedoch über die jetzt aufgeworfene Frage in seinem damaligen Urteil nicht entschieden, weil dort der Kläger kein Verfolgter war. Zur Zeit der Entscheidung des 11. Senats im Jahre 1964 war die Bedeutung des Arbeitsmarktes für die Frage der Berufsunfähigkeit noch nicht klargestellt, wie dies durch die Beschlüsse des GS vom 11. Dezember 1969 geschehen ist. Insofern kommt den früheren Entscheidungen hier keine Bedeutung zu. Der ebenfalls vom LSG erwähnte Beschluß vom 19. Dezember 1972 - 12 RJ 162/72 -, der eine nicht zugelassene Revision betraf, enthält ebenfalls keine Entscheidung zu der hier interessierenden Frage.
Der Entscheidung des LSG kann nicht zugestimmt werden. Vielmehr entsprechen die Ausführungen der Beklagten in ihrer Revisionsbegründung dem Gesetz.
Auch die Berufsunfähigkeit von Verfolgten, die im Ausland leben, ist unter Zugrundelegung der Verhältnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu beurteilen. Dabei spielt es bei der Beurteilung nach §§ 1246, 1247 RVO kein Rolle, ob der verfolgte Versicherte sich in den Bereich dieses Arbeitsmarktes, d. h. in die Bundesrepublik, begeben will oder nicht und welche Umstände ihn zu seinem Verhalten veranlassen oder ob er tatsächlich in die Bundesrepublik umzieht. Die Beklagte hat zu Recht dargelegt, daß die die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung betreffenden Vorschriften keine Sonderregelung für die Voraussetzungen des Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit für verfolgte Versicherte enthalten. Die einschlägigen Vorschriften lassen nicht erkennen, daß die Zumutbarkeit oder Unzumutbarkeit der Rückkehr in das Bundesgebiet die Entscheidung über einen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit nach §§ 1246, 1247 RVO beeinflussen sollen. Die Beklagte hat dies im einzelnen zutreffend ausgeführt. In den Wiedergutmachungsgesetzen ist die Gleichstellung von verfolgten und nicht verfolgten Versicherten abschließend durchgeführt worden. Die Berücksichtigung des Auslandsaufenthaltes von Verfolgten als Voraussetzung eines Rentenanspruchs ist auf die Zeit bis Ende 1949 durch Anrechnung dieser Zeit als Ersatzzeit beschränkt (§ 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO). Darüber hinaus hat der Auslandsaufenthalt von verfolgten Versicherten noch Bedeutung für die Auszahlung einer zuerkannten Rente ins Ausland (§ 1321 Abs. 5 RVO, §§ 18, 19 WGSV).
Nach alledem hat die Klägerin keinen Anspruch auf Versichertenrente. Auch wenn sie sich in die Bundesrepublik begeben würde, hätte sie bei dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen keinen derartigen Rentenanspruch, weil sie - wie sich aus den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ergibt - unter Berücksichtigung der Verhältnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht berufsunfähig ist.
Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen