Leitsatz (redaktionell)

Weder in der Umschulung eines durch Kriegseinwirkungen Späterblindeten zum Telefonistenberuf noch in der Aufnahme der Tätigkeit bei einem Fernsprechamt, bei dem der Kläger erst 14 Jahre nach der Umschulung eingestellt wurde, ist eine die Rentenentziehung rechtfertigende Änderung in den Verhältnissen des Klägers zu erblicken, wenn er nach den Feststellungen des LSG nur auf Grund des SchwBG eingestellt worden ist und bei wesentlichen Verrichtungen fremde Hilfe benötigt.

 

Normenkette

RVO § 1286 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1246 Abs. 2 S. 3 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 5. Juni 1959 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der im Jahre 1910 geborene Kläger war vor seiner Einberufung zur Wehrmacht zuletzt als Drahtzieher beschäftigt. Infolge einer Verwundung ist er seit 1942 erblindet. Im Jahre 1943 legte er nach Teilnahme an einem Umschulungslehrgang die Prüfung als Telefonist ab. Seit März 1957 ist er - nach Ableistung einer Probezeit von drei Monaten - als Telefonist beim Fernsprechamt B gegen eine monatliche Vergütung von rd. 500,- DM tätig. Die Beklagte entzog ihm durch Bescheid vom 16. Dezember 1957 die seither gewährte Invalidenrente mit Ablauf des Monats Januar 1958, weil der Kläger auf Grund seiner Einstellung nunmehr als vollwertige Arbeitskraft in einem festen Arbeitsverhältnis stehe und für diese Tätigkeit durch Maßnahmen zur Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit mit Erfolg ausgebildet und umgeschult sei. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG.) abgewiesen (Urteil vom 13.5.1958). Dagegen hat das Landessozialgericht (LSG.) durch Urteil vom 5. Juni 1959 unter Zulassung der Revision die Beklagte zur Weiterzahlung der Rente verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt, seit der Bewilligung der Rente im Jahre 1946 sei in den Verhältnissen des Versicherten keine Änderung eingetreten. Er sei nicht durch den Versicherungsträger umgeschult worden, die Rente sei ihm auch erst nach der Umschulung im Jahre 1943 bewilligt worden, daher sei die Umschulung rechtlich ohne Bedeutung. An der Fähigkeit, die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen, habe sich durch seine Einstellung als Telefonist nichts Wesentliches geändert, weil der Kläger nicht die Fähigkeit besitze, durch eigene Leistung in seinem neuen Beruf die für ihn maßgebende Lohnhälfte zu verdienen. Denn er sei als Schwerbeschädigter eingestellt worden und als Telefonist nur eingeschränkt zu verwenden, wie die Auskunft der Landespostdirektion B ergeben habe; vor allem könne er nicht alle Arbeiten verrichten, die sonst einem Telefonisten oblägen. Auf dem freien Arbeitsmarkt sei er nicht wettbewerbsfähig, da es in Berlin nicht genug Arbeitsplätze dieser Art gebe.

Gegen das am 31. Juli 1959 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 27. August 1959 Revision eingelegt und das Rechtsmittel im gleichen Schriftsatz begründet.

Sie trägt vor, der Kläger beziehe nicht erst seit 1946, sondern schon seit 1942 Invalidenrente, diese sei nur auf Grund der Berliner Verhältnisse von Kriegsende bis Februar 1946 nicht gezahlt worden. Die Rente sei deshalb im Jahre 1946 nicht neu bewilligt worden, vielmehr habe es sich um eine Weitergewährung gehandelt; daher seien die durch die Umschulung erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten als erst nach der Rentenbewilligung erworben von Bedeutung. Zum mindesten müsse eine Änderung der Verhältnisse darin erblickt werden, daß der Kläger 1957 nach erfolgreicher Ableistung einer Probezeit beim Fernsprechamt B eingestellt worden sei. Er sei nunmehr in der Lage, ohne wesentliche Mithilfe Dritter seinen Arbeitsplatz auszufüllen, er werde auch nicht aus Wohlwollen beschäftigt. Es komme auch nicht darauf an, welche Dienststelle ihn umgeschult habe, so daß die Entziehung der Rente auch nach § 1246 Abs. 2 Satz 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) n. F. zulässig sei.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des LSG. Berlin vom 5. Juni 1959 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG. Berlin vom 13. Mai 1958 zurückzuweisen.

Der Kläger bittet um

Zurückweisung der Revision.

Er trägt vor, er sei trotz seiner Umschulung nicht in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen, da für Kriegsblinde erst besondere Arbeitsplätze geschaffen worden seien; diese stünden nicht in genügendem Umfang zur Verfügung.

II.

Die durch die Zulassung statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist sachlich nicht begründet, weil das LSG. zutreffend die Voraussetzungen für eine Rentenentziehung verneint hat.

Nach § 1286 Abs. 1 RVO ist die Rente zu entziehen, wenn der Empfänger infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig ist. Das LSG. hat festgestellt, der Kläger sei nur in seiner Eigenschaft als Schwerbeschädigter eingestellt worden, er könne im Gegensatz zu sehenden Telefonisten nicht vielseitig eingesetzt werden, sein Arbeitsgebiet sei begrenzt, er sei in gewissen Dingen auf die Mithilfe seiner Kollegen angewiesen; für einen blinden Telefonisten stünden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht genügend Arbeitsplätze zur Verfügung. Bei diesen von der Revision nicht angegriffenen und daher für das Bundessozialgericht (BSG.) bindenden Feststellungen (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) läßt die Entscheidung des LSG. keinen Rechtsirrtum erkennen. Denn ein blinder Telefonist kann nur einen Teil der Arbeiten verrichten, die ein sehender auszuüben vermag, er ist bei wesentlichen Verrichtungen auf die Mithilfe von Kollegen angewiesen. Er hat nur ein begrenztes Arbeitsfeld und kann nicht, wie dies sonst üblich ist, wie sehende Telefonisten mit anderen Arbeiten beschäftigt werden, wenn er durch die Telefonistentätigkeit nicht voll ausgefüllt ist. Auch bei dem Kläger treffen diese Voraussetzungen zu. Wie das LSG. aus der Auskunft der Landespostdirektion Berlin festgestellt hat, ist das Arbeitsgebiet des Klägers besonders begrenzt und ausgewählt, für ihn wurde ein besonders für Blinde hergerichteter Vermittlungsschrank aufgestellt, den er ohne Hilfe bedient. Er kann jedoch Fragen, deren Beantwortung die Postkunden normalerweise erwarten, kaum oder erst nach längerer Zeit beantworten; hier muß er sich von seinen Arbeitskollegen helfen lassen. Ein nicht erblindeter Angestellter, der die gleiche Dienststellung wie der Kläger inne hat, kann im Gegensatz zum Kläger neben der reinen Vermittlertätigkeit auch mit anderen damit im Zusammenhang stehenden Aufgaben betraut werden. Der Kläger kann jedoch im Gegensatz zu anderen Telefonisten nicht wie üblich zu diesen Nebenarbeiten herangezogen werden. Auch unter Berücksichtigung des für den Kläger hergerichteten Vermittlungsschrankes ist eine weitergehende Verwendung, wie sie bei nicht blinden Telefonisten üblich ist, bei dem Kläger nicht durchführbar. Der Senat schließt sich deshalb dem Urteil des 4. Senats vom 13. Dezember 1956 (SozR. RVO § 1254 a. F. Bl. Aa 3 Nr. 4) an, wonach ein zum Telefonisten umgeschulter späterblindeter früherer Industriearbeiter auch dann invalide und berufsunfähig bleibt, wenn er - in der hier dargelegten Weise - dauernd als Telefonist beschäftigt wird. Denn ohne den Schutz des Schwerbeschädigtengesetzes, dem er allein seine Arbeitsstelle verdankt, wäre der Kläger, der nach der im Jahre 1943 durchgeführten Umschulung bis zum Jahre 1957 arbeitslos war, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht einsatzfähig. Man kann auch, wie das LSG. zutreffend näher dargelegt hat, nicht von einem besonderen Arbeitsmarkt für blinde Telefonisten sprechen, auf den der Kläger verwiesen werden könnte, zumal hierfür nach den Feststellungen des LSG. die zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze bei weitem nicht ausreichen.

Da sich aus den Feststellungen des LSG. ergibt, daß der Kläger in dem Beruf des Telefonisten nur beschränkt verwendungsfähig ist, kann die Entziehung der Rente auch nicht auf § 1246 Abs. 2 Satz 3 RVO n. F. gestützt werden, der eine mit Erfolg durchgeführte Umschulung voraussetzt. Eine solche Umschulung liegt aber nur dann vor, wenn der Versicherte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verwendungsfähig ist.

Die Revision ist daher mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324493

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