Leitsatz (amtlich)

VereinfV Art 10 (Fassung: 1945-03-17) RGBL 1 1445,41 findet in KrMaßnG § 29 Abs 3 (Fassung: 1941-01-15) (RGBl 1 1941, 34) eine ausreichende Rechtsgrundlage. Er ist spätestens am Tage des erstmaligen Zusammentritts des Deutschen Bundestages (1949-09-07) im Lande Bayern wirksam geworden.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die satzungsmäßige Wartezeitbestimmung für Mehrleistungen der Krankenkasse ist durch die 1. VereinV aufgehoben.

Diese VO vom 1945-03-17 wurde seit dem erstmaligen Zusammentritt des Bundestages im gesamten Bundesgebiet rechtswirksam.

2. Für Familienangehörige ist Krankenpflege und an deren Stelle Krankenhauspflege im gleichen Umfange wie dem Versicherten selbst zu gewähren.

 

Normenkette

SVVereinfV 1 Art. 10 Fassung: 1945-03-17; KrMaßnG § 29 Abs. 3 Fassung: 1941-01-15; RVO § 208 Fassung: 1930-07-26

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Mai 1955 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger gegen die beklagte Krankenkasse nach den Vorschriften über die Familienhilfe (§ 205 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) ein Anspruch auf Übernahme der durch die Krankenhausbehandlung seiner Ehefrau entstandenen Kosten zusteht.

Der Kläger war vom 8. Dezember 1949 bis zum 28. Februar 1950 als Angestellter Pflichtmitglied der Beklagten. Vom 1. März 1950 an überschritt sein Gehalt (650,- DM monatlich) die damalige Grenze für die Krankenversicherungspflicht, so daß er aus der Versicherungspflicht ausschied. Er versicherte sich nicht freiwillig weiter. Vom 1. Dezember 1952 an wurde das Gehalt des Klägers aus betrieblichen Gründen auf monatlich 495,- DM herabgesetzt, so daß er wiederum krankenversicherungspflichtig wurde (§ 1 des am 1.9.1952 in Kraft getretenen Gesetzes über die Erhöhung der Einkommensgrenzen in der Sozialversicherung vom 13.8.1952 - EEG -).

Den Antrag des Klägers, die in der Zeit vom 7. bis zum 21. Januar 1953 durch stationäre Krankenhausbehandlung seiner Ehefrau wegen eines Unterleibstumors entstandenen Kosten zu übernehmen, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 7. Juli 1953 ab, weil durch die Versicherungszeit vom 1. Dezember 1952 bis zum 6. Januar 1953 die in ihrer Satzung gemäß § 208 RVO für die Gewährung von Mehrleistungen vorgesehene Wartezeit von drei Monaten nicht erfüllt sei. Der Anspruch sei auch nach § 16 EEG nicht begründet, weil diese Vorschrift sich nur auf Fälle beziehe, in denen ein Versicherter nach dem 1. Juni 1949 wegen Überschreitung der Versicherungsgrenze aus der Krankenversicherung ausgeschieden und mit Inkrafttreten des EEG (1.9.1952) wieder versicherungspflichtig geworden sei; der Kläger sei aber erst am 1. Dezember 1952 infolge einer Minderung seines Einkommens wieder versicherungspflichtig geworden. Das vom Kläger angerufene Versicherungsamt entschied zu seinen Ungunsten. Die Berufung (nach altem Recht), in welcher der Kläger vorbrachte, seine Ehefrau befinde sich seit dem 23. März 1953 wegen eines Unterleibskarzinoms wiederum in Krankenhausbehandlung, wurde durch Vorentscheidung des Vorsitzenden der Spruchkammer des Oberversicherungsamts zurückgewiesen. Nachdem der Kläger gegen diese Entscheidung Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt hatte, ging der Rechtsstreit nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht über. Dieses wies die Klage durch Urteil vom 2. August 1954 ab. Auf die Berufung des Klägers hob das Landessozialgericht dieses Urteil auf und verpflichtete die Beklagte, dem Kläger Familienkrankenhauspflege für seine Ehefrau vom 7. Januar 1953 an auf die Dauer von 26 Wochen zu gewähren: Zwar könne der Anspruch nicht auf § 16 EEG gestützt werden; denn diese Übergangsvorschrift sichere Personen, die nach dem 1. Juni 1949 wegen Überschreitens der Versicherungspflichtgrenze aus der Krankenversicherung ausgeschieden seien, die aber am 1. September 1952 nach § 1 des Gesetzes wegen Erhöhung der Einkommensgrenze auf jährlich 6.000,- DM wieder krankenversicherungspflichtig geworden seien, den Erhalt ihrer früher erworbenen Rechte in der Krankenversicherung zu. Der Kläger sei aber erst vom 1. Dezember 1952 an wegen der Minderung seines Gehalts wieder versicherungspflichtig geworden. Die erneute Versicherungspflicht hänge daher nicht mit der geänderten Gesetzgebung zusammen. Der Anspruch sei aber begründet, weil § 208 RVO, wonach die Satzung bestimmen könne, daß der Anspruch auf Mehrleistungen der Krankenkasse erst nach einer Wartezeit von höchstens sechs Monaten nach dem Beitritt entstehe, durch Art. 12 der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung - 1. VereinfVO - vom 17. März 1945 (RGBl. I S. 41) aufgehoben sei. Nach Art. 10 dieser Verordnung sei den Familienangehörigen (§ 205 RVO) Krankenpflege (§ 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO) und an deren Stelle Kur und Verpflegung in einem Krankenhaus (Krankenhauspflege) unter den gleichen Voraussetzungen und im gleichen Umfange wie den Versicherten selbst zu gewähren. Nach § 184 RVO werde aber Krankenhauspflege den Versicherten auf die Dauer von längstens 26 Wochen als Ersatzleistung gewährt, ohne daß dies von der Zurücklegung einer Wartezeit abhängig gemacht werden dürfe. Die 1. VereinfVO sei auch in Bayern als rechtsverbindlich anzusehen, so daß die in der Satzung der Beklagten vorgesehene Wartezeit nicht rechtswirksam sei. Da die Beklagte die Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung nicht bestreite, sei sie zur Gewährung der Familienkrankenhauspflege für die Dauer von 26 Wochen verpflichtet.

Mit der Revision macht die Beklagte geltend, die 1. VereinfVO sei in Bayern nicht geltendes Recht geworden. Sie sei weder wirksam verkündet worden noch sei der Reichsarbeitsminister zum Erlaß der Verordnung ermächtigt gewesen.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 2. August 1954 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er hält das Urteil des Landessozialgerichts für zutreffend.

II

Die vom Landessozialgericht zugelassene Revision ist form- und fristgerecht eingelegt, sie ist aber nicht begründet.

Wie das Landessozialgericht zutreffend ausgeführt hat, hängt die Entscheidung des Rechtsstreits davon ab, ob sich die Beklagte auf § 12 Abs. 2 ihrer Satzung berufen kann, wonach der Anspruch auf Mehrleistungen erst nach einer Wartezeit von drei Monaten nach dem Beitritt entsteht. Das ist zu verneinen, weil die Beklagte die Familienkrankenhauspflege zu Unrecht als Mehrleistung angesehen hat. Nach Art. 10 der 1. VereinfVO wird den Familienangehörigen des Versicherten (§ 205 RVO) Krankenpflege (§ 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO) und an deren Stelle Kur und Verpflegung in einem Krankenhaus (Krankenhauspflege) unter den gleichen Voraussetzungen und in gleichem Umfange wie dem Versicherten selbst gewährt. Damit hat die Familienkrankenhauspflege nicht mehr den Charakter einer Mehrleistung.

Die Auffassung der Beklagten, die 1. VereinfVO sei in Bayern nicht geltendes Recht geworden, sie sei weder wirksam verkündet worden, noch sei der Reichsarbeitsminister zum Erlaß der Verordnung ermächtigt gewesen, hat das Landessozialgericht mit Recht abgelehnt.

Wie der erkennende Senat in seinem zu Art. 19 der 1. VereinfVO ergangenen Urteil vom 11. Juli 1956 (BSG. 3 S. 161 und SozR. 1. VereinfVO Art. 19 Bl. Dal) ausgeführt hat, kann die Frage, ob die Bestimmungen der 1. VereinfVO durch die Ermächtigung des Reichsarbeitsministers "zur Durchführung und Ergänzung" des Gesetzes über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlaß des Krieges (MaßnahmenG) vom 15. Januar 1941 (RGBl. I S. 34) getragen werden, nur vom Standpunkt des Rechts aus beurteilt werden, das bei Erlaß der VereinfVO galt, mithin nach den bis zum Jahre 1945 in Deutschland herrschend gewesenen rechtlichen Anschauungen über Art und Umfang solcher Ermächtigungen. Die VereinfVO ist am 11. April 1945 verkündet worden. Sie ist also noch unter einem Regime ergangen, dem seit dem Gesetz vom 24. März 1934 (RGBl. I S. 141) die grundlegende Unterscheidung zwischen Rechtsetzungsakten der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt fremd geworden war. Ob eine Rechtsvorschrift auf Grund eines Kabinettsbeschlusses als förmliches Gesetz oder im Einvernehmen der beteiligten Reichsminister als Rechtsverordnung erlassen wurde, war im "Dritten Reich" im wesentlichen eine reine Frage der Zweckmäßigkeit. Unter "ergänzenden" Rechtssätzen wurden nach der damaligen Rechtsauffassung nicht nur Bestimmungen zur näheren Ausgestaltung eines Gesetzes, sondern darüber hinaus im Zweifel auch Vorschriften verstanden, die das Gesetz um neue Tatbestände erweiterten, sofern sie sich nur im allgemeinen Rahmen der gesetzlichen Regelung hielten. Hiernach galten selbst Abweichungen vom Gesetzeswortlaut nicht mehr schlechthin als unzulässig, wenn die abweichenden Vorschriften nur eine sinngemäße Weiterentwicklung des rechtspolitischen Ziels des Gesetzes darstellten (ebenso BSG. 7 S. 203 (204)). Vom Standpunkt dieser Rechtsauffassung aus findet auch Art. 10 der VereinfVO - entgegen der Ansicht der Revision - in § 29 Abs. 3 des MaßnahmenG eine ausreichende Rechtsgrundlage.

Der Reichsarbeitsminister hatte bereits durch die Erlasse vom 20. Mai 1941 (AN. S. 197) und vom 2. November 1943 (AN. S. 485) auf Grund des § 9 Satz 2 der Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung vom 13. Februar 1939 (RGBl. I S. 206) neben anderen Vorschriften über Leistungen der Krankenversicherung die Vorschrift des § 205 RVO (Familienkrankenpflege) inhaltlich geändert. Unterhaltsberechtigten Ehegatten und unterhaltsberechtigten Kindern wurden nach Abschn. II Nr. 1 des Erlasses vom 2. November 1943 betr. Verbesserungen in der gesetzlichen Krankenversicherung unter bestimmten Voraussetzungen ärztliche Behandlung zeitlich unbegrenzt gewährt, ferner kam die Wartezeit für diese Leistung in Wegfall. Die Verbesserung der Vorschrift des § 205 RVO findet ihren Abschluß in Art. 10 der 1. VereinfVO, wonach für die Familienangehörigen Krankenpflege und an deren Stelle Krankenhauspflege unter den gleichen Voraussetzungen und in gleichem Umfange wie dem Versicherten gewährt wird. Diese Entwicklung zeigt, daß Art. 10 der 1. VereinfVO sich sowohl dem Gegenstand als auch der Zielsetzung nach im Rahmen des Abschn. II des MaßnahmenG hält, diese Regelung also im Sinne der damaligen Rechtsauffassung "ergänzt".

Die 1. VereinfVO ist, wie der erkennende Senat in dem oben angeführten Urteil eingehend dargelegt hat, mit Wirkung für das gesamte Reichsgebiet - auch soweit es im Zeitpunkt der Verkündung (11.4.1945) bereits besetzt war - verkündet worden und ist spätestens - infolge des Zurücktretens der Besatzungsgewalt - am Tage des erstmaligen Zusammentritts des Deutschen Bundestages (7.9.1949) auch im Lande Bayern wirksam geworden (vgl. auch Urteil des 4. Senats vom 8.7.1959 - BSG. 10 S. 156 (158)- und Urteil des erkennenden Senats vom 17.12.1957 in SozR. RVO § 1264 a. F. Bl. Aa 1 Nr. 3). Die Frage, ob Art. 10 der 1. VereinfVO auch im Gebiet der ehemaligen brit. Besatzungszone anwendbar ist (vgl. hierzu Nr. 3 Buchst. e der Sozialversicherungsdirektive - SVD - Nr. 4 vom 14. Oktober 1945, ArbBl. für die brit. Zone 1947 S. 13; Nr. 2 und 9 der Sozialversicherungsanordnung Nr. 30 vom 5. Dezember 1945, ArbBl. für die brit. Zone 1947 S. 425; Nr. 1 Abschn. II der SVD Nr. 30 vom 2. August 1950 und Erl. des BAM vom 13.9.1950, BABl. S. 358), bedarf keiner Entscheidung.

Die Beklagte kann sich daher gegenüber dem vom Kläger erhobenen Anspruch nicht auf die in ihrer Satzung vorgesehene Wartezeit für Mehrleistungen berufen, weil die Krankenhauspflege für Familienangehörige des Versicherten nach Art. 10 der 1. VereinfVO nicht mehr als Mehrleistung anzusehen ist. Ob diese Satzungsbestimmung wegen der Aufhebung des § 208 RVO durch Art. 12 der 1. VereinfVO überhaupt rechtswirksam ist - so das angefochtene Urteil -, kann auf sich beruhen.

Das Landessozialgericht hat die Beklagte für verpflichtet erklärt, der Ehefrau des Klägers Familienkrankenhauspflege vom 7. Januar 1953 an auf die Dauer von 26 Wochen zu gewähren. Obgleich die Gewährung von Krankenhauspflege nach § 184 RVO als sogenannte Kann-Leistung im Ermessen des Versicherungsträgers steht, hat sich das Landessozialgericht - offenbar weil es den Rechtsstreit in jeder Beziehung als spruchreif angesehen hat (§ 131 Abs. 2 SGG) - zum Erlaß eines Verpflichtungsurteils für befugt gehalten. Dies ist im vorliegenden Fall nicht zu beanstanden, weil die Notwendigkeit der Krankenhauspflege bei der Art des Leidens der Ehefrau des Klägers außer jedem Zweifel steht und die Beklagte die Krankenhauspflege allein deshalb abgelehnt hat, weil sie die 1. VereinfVO nicht als rechtswirksam ansieht (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 20.3.1959 in BSG. 9 S. 232 (239 f.)).

Die Revision ist hiernach zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324727

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