Leitsatz (amtlich)
1. 2. ÄndG BSeuchG Art 2 Abs 3, 4 ist entsprechend auf Fälle anzuwenden, in denen Entschädigungsleistungen wegen eines Impfschadens durch eine vor dem 1962-01-01 vorgenommene Pockenschutzimpfung aus Rechtsgründen in der Zeit vor dem 1971-09-01 abgelehnt worden sind.
2. Den Versorgungsanspruch nach BSeuchG § 51 Abs 3 S 1 kann - neben dem in S 2 genannten Personenkreis - auch ein Deutscher geltend machen, der infolge einer durch das ImpfG vom 1874-04-08 vorgeschriebenen Pockenimpfung einen Impfschaden erlitten und dann noch vor der Teilung des Reichsgebiets in Besatzungszonen seinen ständigen Aufenthalt im - späteren - Bundesgebiet genommen hat.
Normenkette
BSeuchG § 51 Abs. 1 Fassung: 1971-08-25, Abs. 3 S. 1 Fassung: 1971-08-25, S. 2 Fassung: 1971-08-25, § 59 Abs. 2 Nr. 3 Fassung: 1971-08-25; BSeuchGÄndG 2 Art. 2 Abs. 3 Fassung: 1971-08-25, Abs. 4 Fassung: 1971-08-25; ImpfG Fassung: 1874-04-08
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 13. August 1974 aufgehoben.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 6. April 1973 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die am 31. Juli 1941 geborene Klägerin wurde am 8. Mai 1942 in Bernburg/Saale gegen Pocken geimpft. 10 Tage später kam es zu Gesundheitsstörungen, die einen Krankenhausaufenthalt vom 20. Mai 1942 bis 10. Juli 1942 wegen Encephalitis nach Pockenschutzimpfung erforderten. Noch im Jahre 1942 verzog sie mit ihren Eltern in das Gebiet des jetzigen Landes Hessen, wo sie auch jetzt noch wohnt. Als Folge der Encephalitis ist bei der Klägerin eine teilweise Halbseitenlähmung rechts mit Fehlstellung des rechten Fußes und einer Fallhandstellung der rechten Hand zurückgeblieben, wodurch sie in ihrer Erwerbsfähigkeit um 90 v. H. gemindert sein soll. Die Klägerin beantragte erstmals im April 1955 die Gewährung von Schadensersatz, den der Regierungspräsident in Kassel ablehnte, weil sie außerhalb des Landes Hessen geimpft worden sei. Im September 1965 vertrat der Regierungspräsident die Auffassung, verpflichtet zur Zahlung der Entschädigung sei das Land, in dem der Schaden verursacht worden sei. Ende 1970 beantragte die Klägerin erneut die Überprüfung dieser Rechtsauffassung. Der Regierungspräsident sah aber keine Möglichkeit, von seiner Entscheidung abzuweichen, da weder die Bundesrepublik Deutschland noch das Land Hessen als Rechtsnachfolger des Landes Anhalt angesehen werden könnten (Ablehnungsschreiben vom 8. und 30. Dezember 1970).
Auf den Antrag der Klägerin vom 26. November / 20. Dezember 1971 erteilte das Versorgungsamt (VersorgA) Fulda am 12. Januar 1972 einen ablehnenden Bescheid, in dem es ihre Zugehörigkeit zum entschädigungsberechtigten Personenkreis (§ 51 Abs. 3 Bundes-Seuchengesetz - BSeuchG - idF des 2. Änderungsgesetzes - ÄndG - vom 25. August 1971 - BGBl I 1401) verneinte. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Bescheid vom 1. März 1972).
Auf die Klage, mit der die Klägerin die Verpflichtung des beklagten Landes zur Gewährung einer Entschädigung wegen Impfschadens ab 25. November 1970 begehrte, hob das Sozialgericht (SG) Kassel den Bescheid vom 12. Januar 1972 in Gestalt des Widerspruchsbescheides auf und verurteilte den Beklagten, der Klägerin ab 1. November 1971 Versorgung wegen der Folgen des durch Pockenschutzimpfung am 8. Mai 1942 erlittenen Impfschadens zu gewähren; im übrigen wies es die Klage ab (Urt. vom 6. April 1973, RSpr. Dienst 8900 § 51 BSeuchG 1-3). Es vertrat die Auffassung, § 51 Abs. 3 BSeuchG müsse entsprechend auch auf solche Impfgeschädigte angewendet werden, die vor 1945 in das heutige Bundesgebiet verzogen seien. Versorgung könne der Klägerin aber erst ab 1. November 1971 gewährt werden, weil der Antrag vom November 1970 durch den Bescheid vom 8. Dezember 1970 "verbraucht" sei.
Das Hessische Landessozialgericht (LSG) lud im Verfahren über die Berufung des Beklagten den Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit bei. Es hob das Urteil des SG auf, wies die Klage in vollem Umfange ab und ließ die Revision zu (Urt. vom 13. August 1974, Breithaupt 1975, 698): § 51 Abs. 3 BSeuchG sei nicht auf Deutsche auszudehnen, die nicht als Flüchtlinge, Vertriebene oder im Wege der Familienzusammenführung in die Bundesrepublik gekommen seien.
Zur Begründung ihrer Revision trägt die Klägerin vor, auch wenn § 51 Abs. 3 BSeuchG keiner analogen Anwendung fähig sei, handele es sich doch bei der Einfügung des Wortes "nur" um ein Redaktionsversehen, wenn man die Begründung des Regierungsentwurfs zum 2. ÄndG heranziehe, wonach alle Fälle, die bisher entschädigungslos ausgegangen seien, von der neuen Regelung erfaßt werden sollten. Eine Beschränkung auf den in § 51 Abs. 3 Satz 2 BSeuchG genannten Personenkreis sei sachlich nicht gerechtfertigt und verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Der Wohnsitzwechsel vor 1945 in das jetzige Bundesgebiet könne nicht zum Nachteil gereichen.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Er schließt sich der Begründung des angefochtenen Urteils an. § 51 Abs. 3 Satz 2 BSeuchG enthalte eine sachgerechte Beschränkung des begünstigten Personenkreises; denn es sei ein Unterschied, ob jemand im Zusammenhang mit besonderen Nachkriegsereignissen seine Heimat verloren oder aber früher aus privaten Gründen seinen Wohnsitz verlegt habe.
Der Beigeladene meint, der Klägerin könne nur durch eine Gesetzesänderung geholfen werden. In seiner abschließenden Äußerung vom 12. November 1975 führt der Beigeladene u. a. aus: "Es wird aber nicht verkannt, daß diese im Gesetz getroffene eindeutige Regelung in einem Fall wie dem der Klägerin zu einem unbefriedigenden Ergebnis führt. Wenn ein Impfgeschädigter seinen dauernden Wohnsitz schon im Jahre 1942 in das Gebiet der Bundesrepublik verlegt hat, kann er zwar nicht die Voraussetzung von § 51 Abs. 3 Satz 2 BSeuchG erfüllen. Möglicherweise fehlt es aber an einem überzeugenden Grund für diese unterschiedliche Behandlung von Personen, die später als Vertriebene oder Flüchtlinge in die Bundesrepublik gekommen sind und Personen, die unter normalen Umständen zu einem früheren Zeitpunkt ihren Wohnsitz unter normalen Verhältnissen in das Gebiet der Bundesrepublik verlegt haben." Mit Schriftsatz vom 10. Mai 1976 hat das beigeladene Ministerium weitere Unterlagen zur Novellierung des BSeuchG eingereicht, die noch zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht werden konnten.
Entscheidungsgründe
Die Zulässige Revision der Klägerin hat Erfolg, da das erstinstanzliche Urteil jedenfalls im Ergebnis zutrifft.
Grundlage des Rechtsstreits ist das BSeuchG vom 18. Juli 1961 idF des 2. ÄndG vom 25. August 1971. Diese Bundesgesetze stehen am Ende einer längere Zeit zurückreichenden Rechtsentwicklung. Entschädigungsansprüche von Impfgeschädigten als besondere Ausprägungen des Aufopferungsanspruchs wurden - unter Preisgabe der zum Teil stark von der NS-Ideologie beeinflußten Rechtsauffassung des Reichsgerichts (vgl. RGZ 156, 305, 313) - vom Bundesgerichtshof (BGH) in einer stetig weiterentwickelten Rechtsprechung anerkannt (vgl. BGHZ 9, 83; 24, 45; 29, 95; 31, 187; 45, 290). In zeitlicher Hinsicht ist bemerkenswert, daß es sich bei dem ersten in dieser Weise entschiedenen Fall um eine schon im Jahre 1930 vorgenommene Pockenimpfung handelte. Was die räumliche Erstreckung betrifft, so ging der BGH davon aus, daß Ansprüche der hier vorliegenden Art in besonderem Maße orts- und sachgebunden und in dem Gebiet, wo der Impfschaden verursacht wurde, "verwurzelt" seien (vgl. BGHZ 29, 96; BGH LM Nr. 8 zu § 823 - K-BGB; Nr. 8 zu § 1 AKG); dies bedeutete, daß für Impfschäden, die in einem Land des früheren Deutschen Reiches außerhalb des jetzigen Bundesgebiets verursacht worden waren, keine Entschädigungsansprüche zugebilligt wurden. Dieses Verursacherprinzip beherrschte die in einzelnen Bundesländern erlassenen Impfschädengesetze (Hessen, 6. Oktober 1958 - GVBl 147 -; Nordrhein-Westfalen, 10. Februar 1953 - GVBl 166 -) und auch noch das BSeuchG vom 18. Juni 1961 (BGBl I 1012), wie sich aus dem Zusammenhang von § 51 mit § 59 Satz 3 zweifelsfrei ergibt. (Eine solche Begrenzung des anspruchsberechtigten Personenkreises sah man seinerzeit offenbar als so selbstverständlich an, daß hierüber in der BT-Drucksache III/1888 kein Wort verloren wurde.) Nach der Rechtsprechung des BGH (Urteil vom 12. Oktober 1964 - LM Nr. 1 zu BSeuchG; BGHZ 45, 291) gewährte das BSeuchG vom 18. Juli 1961 keine Entschädigungsansprüche in bereits vor seinem Inkrafttreten (1. Januar 1962) eingetretenen Impfschadensfällen. Davon mußte man bei der hier zu untersuchenden Novellierung durch das (anfänglich als 3. ÄndG bezeichnete) 2. ÄndG vom 25. August 1971 ausgehen.
Diese Gesetzesnovelle bezweckte hinsichtlich der Entschädigungsregelung primär eine klare und umfassende Vereinheitlichung mit dem Ziel einer Gleichbehandlung aller Impfgeschädigten und der Gewährleistung einer angemessenen Entschädigung in allen Fällen; dies sollte durch Heranziehung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erreicht werden (BT-Drucksache VI/1568, Begr. S. 6; gleichlautend die BR-Drucksache 488/70). Ferner war geplant, dieser vereinheitlichten Entschädigungsregelung auch die Altfälle zu unterstellen, die das BSeuchG 1961 bis dahin den landesgesetzlichen Entschädigungsbestimmungen oder der Heranziehung des allgemeinen Aufopferungsanspruchs (Art. 75 Einl. ALR) überlassen hatte.
Dies muß an sich schon daraus gefolgert werden, daß in den Motiven (BT-Drucksache VI/1568, Begr. S. 8) deutlich hervorgehoben wird, auch Impfgeschädigte, die vor 1945 ... einen Impfschaden erlitten haben , sollten jetzt Leistungen erhalten. Freilich läßt Art. 2 des 2. ÄndG vom 25. August 1971 mit der hierzu gegebenen Begründung (aaO S. 10) nicht völlig zweifelsfrei erkennen, inwieweit diese Absichten auch verwirklicht worden sind. Die hierzu bei der parlamentarischen Schlußberatung geäußerte Erwartung, diese Übergangsvorschrift sei nun "nach interfraktioneller Meinung wirklich geschlossen, und es können keine Zweifelsfragen mehr auftreten" (Abg. Spitzmüller in der 129. BT-Sitzung vom 18. Juni 1971, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 6. Wahlperiode, Stenogr. Berichte Bd. 76, S. 7459 D, 7460 A), ist mit gutem Grunde im Schrifttum (vgl. Fehl, KOV 1972, 97) angezweifelt worden, während die Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 28. Juli 1972, teilweise veröffentlicht in SozR Nr. 1 zu 2. ÄndG BSeuchG Art. 3) sich zu einer partiell vom Gesetzestext abweichenden, aber dem Sinn des Gesetzes entsprechenden Interpretation genötigt sah. Konkret auf den Fall der Klägerin bezogen, zeigt sich bei näherer Prüfung des Art. 2, daß streng genommen eigentlich keine der darin aufgezählten Alternativen auf diesen Fall paßt: Der Impfschaden war bisher nicht anerkannt (Abs. 1), im August 1971 bestand weder Rechtshängigkeit noch ein anhängiges Verwaltungsverfahren (Abs. 2, die früheren Leistungsablehnungen erfolgten nicht "nur" wegen mangelnden Kausalitätsnachweises (Abs. 3), sondern allein wegen fehlender Rechtsgrundlage, und schließlich käme auch Abs. 4 (versäumte Anmeldefrist, noch nicht gestellter Antrag) seinem Wortlaut nach sicherlich nicht in Betracht. Trotzdem haben Beklagter und Beigeladener - richtigerweise - nicht etwa geltend gemacht, auf den von der Klägerin erhobenen Anspruch sei das 2. ÄndG zum BSeuchG schon deshalb unanwendbar, weil es sich um einen "Altfall" aus dem Jahre 1942 handele. Durch Art. 2 des 2. ÄndG soll "klargestellt werden, daß auch solche Impfschadensfälle wieder aufgegriffen werden können, in denen das ÄndG neue oder erweiterte Ansprüche begründet oder Leistungsverbesserungen vorsieht" (BT-Drucksache VI/2176, A, Bericht des Abg. Dr. Jungmann, II, zu Art. 2). Entsprechend der damit aufgezeigten legislatorischen Planung muß Art. 2 so verstanden werden, daß die in Abs. 1 - 4 enthaltene Kasuistik keine erschöpfende Aufzählung darstellt und daß auch alle vor September 1971 aus Rechtsgründen abgelehnten Altfälle erneut unter Zugrundelegung des neuen Rechts zu prüfen sind (im Ergebnis so auch BSG, Urteil vom 28. Juli 1972, aaO; a. A. Hofmann KOV 1975, 98).
Die Klägerin hat einen Versorgungsanspruch nach § 51 BSeuchG nF. Dies ergibt die am Willen des Gesetzes ausgerichtete Auslegung der Vorschrift.
Das 2. ÄndG brachte Erweiterungen des begünstigten Personenkreises u. a. in § 51 Abs. 1 (Impfungen nach Internationalen Gesundheitsvorschriften) und Abs. 2 (Auslandsimpfungen), die hier keiner näheren Erörterung bedürfen. - Eine Erweiterung des berechtigten Personenkreises brachte auch § 51 Abs. 3 mit sich, der in einer Formulierung aus Juni 1969 folgendermaßen lautete:
"(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als deutscher Staatsangehöriger einen Impfschaden durch eine aufgrund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 (Reichsgesetzbl. S. 31) in dem außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes liegenden Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 erlitten hat, soweit nicht aufgrund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Das gleiche gilt für einen Impfschaden, der durch eine im Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone oder im sowjetisch besetzten Sektor von Berlin gesetzlich vorgeschriebene Pockenschutzimpfung verursacht worden ist. Ansprüche nach Satz 1 und 2 kann nur geltend machen, wer als Vertriebener oder anerkannter Sowjetzonenflüchtling oder im Wege der Familienzusammenführung seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat."
Die in Satz 1 dieses Entwurfs implizierte Begrenzung auf das außerhalb der Bundesrepublik liegende Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 fehlt im Gesetzestext. Ob dieses Tatbestandsmerkmal nun weggelassen oder beibehalten werden sollte, kann dahingestellt bleiben, weil es für die Entscheidung des Rechtsstreits hierauf nicht ankommt. Denn die Stadt Bernburg, wo der Klägerin die Impfschädigung zugefügt wurde, liegt innerhalb der Reichsgrenzen nach dem Stand von Ende 1937; somit braucht der Senat bei seinen folgenden Erwägungen auch jeweils nur dieses Territorium zu berücksichtigen.
Als Argument für die Neuregelung wird angegeben (vgl. BT-Drucksache VI/1568, Begr. S. 8):
"Darüber hinaus sieht Absatz 3 Versorgungsleistungen wegen eines Impfschadens für bestimmte weitere Fälle vor, in denen Pockenimpfungen deutscher Staatsangehöriger außerhalb des Geltungsbereiches des Grundgesetzes vorgenommen worden sind. Das betrifft insbesondere Vertriebene und Flüchtlinge, z. B. gibt es Impfgeschädigte, die vor 1945 in dem außerhalb des Geltungsbereiches des Grundgesetzes liegenden Gebiet des Deutschen Reiches einen Impfschaden erlitten haben und die sich seit Jahren vergeblich um eine Entschädigung bemühen, weil weder Bund noch Länder ohne eine ausdrückliche gesetzliche Regelung Ersatzleistungen für Schäden, die außerhalb ihres Hoheitsgebietes verursacht worden sind, gewähren. Nicht in allen diesen Fällen sind Leistungen nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz möglich. ...
Durch die nunmehr vorgesehene Regelung soll die bestehende Gesetzeslücke geschlossen werden und dem bisher ausgeschlossenen Personenkreis eine Entschädigungsmöglichkeit verschafft werden.
Für die Erweiterung des wegen eines Impfschadens versorgungsberechtigten Personenkreises durch die Neufassung der Absätze 2 und 3 ist die Überlegung maßgebend, daß die betroffenen Personen ebenso wie die in der Bundesrepublik aufgrund des Impfgesetzes Geimpften ein Sonderopfer aufgrund derselben bzw. vergleichbarer Rechtsvorschriften erbracht haben, wie sie in der Bundesrepublik bestehen und daß dieses Sonderopfer dem Seuchenschutz der Bevölkerung der Bundesrepublik zugute kommt."
Diesen Materialien ist zu entnehmen, daß das Verursacherprinzip im Sinne einer Ausdehnung auf das frühere Reichsgebiet modifiziert und zugleich verknüpft werden sollte mit der Erwägung, daß das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik von Schutzimpfungen innerhalb dieses Gebietes Nutzen habe, deshalb die hiesige Rechtsordnung auch einen Ausgleich wegen der dabei erlittenen Gesundheitsschäden regeln müsse ("Nutznießerprinzip").
Dem von der Revision hervorgehobenen Umstand, daß in der Gesetzesbegründung "insbesondere Vertriebene und DDR-Flüchtlinge" (BT-Drucks. VI/1568, Begr. S. 7) bzw. "insbesondere Vertriebene und Flüchtlinge" (aaO S. 8) erwähnt werden, mißt der Senat keine für sich allein ausschlaggebende Bedeutung bei; dieser Sprachgebrauch könnte, wie der Beigeladene zutreffend dargelegt hat, damit hinreichend zu erklären sein, daß an jenen Stellen bloß der Kürze halber der mit "Familienzusammenführung" umschriebene Personenkreis weggelassen wurde.
Mit dieser Erwägung sieht sich der Senat indessen noch keineswegs zu der vom Beklagten offenbar für unvermeidlich gehaltenen Wortinterpretation genötigt, wonach aus dem Text des § 51 Abs. 3 Satz 2 (..." kann nur geltend machen, wer ...") allein der Umkehrschluß zu ziehen sei, Personen, die nicht die Merkmale der §§ 1, 3 oder 94 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) aufweisen, könnten beim ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet keine Ansprüche nach Satz 1 geltend machen; ein solcher Schluß ist hier nach der Gesetzesteleologie nicht statthaft (vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., S. 376). Das folgt aus den Gesetzesmaterialien. Damit beantwortet sich auch die den Satz 2 betreffende, bereits vom 8. Senat im Urteil vom 28. Juli 1972 (8 RVi 3/72, insoweit nicht in SozR abgedruckt) angeschnittene Frage, "welche Motive für den Ausschluß der Impfgeschädigten maßgebend waren, die freiwillig - d. h. ohne Vorliegen der Gründe der §§ 1, 3, 94 BVFG - in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gekommen sind, und ob damit möglicherweise nur diejenigen Umsiedler ausgeschlossen werden sollten, die von Dienststellen oder Ärzten der DDR - nach dortigen Vorschriften - einer Pockenschutzimpfung unterzogen worden sind."
Die Bundestagsdebatten wie auch die Unterlagen zur Gesetzesentstehung, die das beigeladene Bundesministerium zur Verfügung gestellt hat, lassen - ungeachtet divergierender Rechtsauffassungen zu Einzelfragen - übereinstimmend das Bestreben aller an diesem Sachgebiet interessierten Kreise und am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Stellen erkennen, den als sozial unerträglich empfundenen Ausschluß derjenigen Deutschen von Impfentschädigungen zu beseitigen, die in früheren Zeiten zwar nicht im Gebiet der jetzigen Bundesrepublik, wohl aber innerhalb des Deutschen Reiches durch Zwangsimpfungen ihre Gesundheit einbüßten und seither unter der Herrschaft des Verursacherprinzips keine Entschädigung beanspruchen konnten. Betrachtet man unter dem Aspekt dieser Bestrebungen die oben wiedergegebene Gesetzesbegründung, so erhält besonderes Gewicht die Erklärung, durch das 2. ÄndG solle die "bestehende Gesetzeslücke geschlossen und dem bisher ausgeschlossenen Personenkreis eine Entschädigungsmöglichkeit verschafft werden". Von einer geplanten Beschränkung auf einen Teil dieses umfassenden Personenkreises, nämlich auf Geimpfte, welche die Tatbestandsmerkmale des BVFG aufweisen, ist hier nicht einmal andeutungsweise die Rede, ebensowenig auch in den Ausführungen, die der Parlamentarische Staatssekretär Westphal als Vertreter der Bundesregierung bei der Schlußberatung des 2. ÄndG in der 129. BT-Sitzung am 18. Juni 1971 (vgl. Stenogr. Bericht aaO S. 7462 C) gemacht hat: "Über den Kreis der bisher bereits entschädigungsberechtigten Personen hinaus werden nunmehr anspruchsberechtigt sein: ... 4. im früheren deutschen Reichsgebiet außerhalb der Bundesrepublik oder in der DDR impfgeschädigte Deutsche, die dort auf Grund des Impfgesetzes von 1874 oder der Gesetze der DDR gegen Pocken geimpft wurden und jetzt ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik haben, ...". In Kenntnis dieser öffentlich geäußerten Regelungsabsicht der Bundesregierung haben sodann Bundestag und Bundesrat das 2. ÄndG beschlossen.
Die zum Vergleich weniger geeignete Gruppe der Vertriebenen (§ 1 BVFG) mag im folgenden außer Betracht bleiben. Bei den hier speziell interessierenden früheren Einwohnern Mitteldeutschlands zeigt sich, daß nach dem Sinnzusammenhang von § 51 Abs. 1 und 3 sowie § 59 BSeuchG idF vom 25. August 1971 kein einleuchtender Grund besteht, mit den vom LSG angewandten Auslegungsmaßstäben danach zu differenzieren, auf welche Weise diese Deutschen ihren ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet genommen haben. Die Sondervorschrift des § 51 Abs. 3 ist allerdings erforderlich zur Eingliederung der Sowjetzonenflüchtlinge (§ 3 BVFG). Anders als dieser Personenkreis sind jedoch die den Sowjetzonenflüchtlingen gleichgestellte Personen (§ 4 BVFG), erst recht aber diejenigen Deutschen, die noch in der Zeit vor dem Kriegsende und der damit einhergehenden Teilung des Reichsgebiets endgültig von Mitteldeutschland nach Westdeutschland umzogen, gar nicht erst von den im sowjetischen Besatzungsgebiet einsetzenden Entwicklungen berührt worden, geschweige denn anschließend "Bürger der DDR" geworden. Ihnen kann also - im Unterschied zu Sowjetzonenflüchtlingen und deren Familien, bei denen eine Pockenimpfung unter den im sowjetischen Besatzungsgebiet herrschenden tatsächlichen und rechtlichen Umständen erfolgte - von vornherein nicht entgegengehalten werden, Schuldner ihres Aufopferungs- bzw. Entschädigungsanspruchs sei "eigentlich" der Staat, den sie verlassen hätten. Zur Zeit von Wohnsitzverlegungen der hier umschriebenen Art gab es ein solches, dem hiesigen Rechtskreis fremdes Staatsgebilde überhaupt noch nicht. Nach Ansicht des Senats steht somit der Kreis von Impfgeschädigten, dem die Klägerin angehört, der in § 51 Abs. 1 Nr. 1 getroffenen Regelung näher als die Kategorie der Flüchtlinge, für die es der besonderen Eingliederungsnorm des Abs. 3 bedurfte, und muß daher noch eher als diese entschädigungsberechtigt sein. Der Beigeladene hat auch eingeräumt, es gebe wohl keinen überzeugenden Grund dafür, gerade diejenigen ehemaligen Bewohner Mitteldeutschlands, die vor der Aufteilung Deutschlands in den Westen verzogen waren, von der Versorgung wegen eines Impfschadens auszuschließen. - Für den Nutzen, den eine 1942 in Mitteldeutschland vorgenommene Pockenschutzimpfung in der Folgezeit dem ... Seuchenschutz der Bevölkerung des Bundesgebiets bringen würde, kann es auch überhaupt keine Rolle spielen, auf welche Weise die geimpfte Person später in das Gebiet der Bundesrepublik gelangt ist.
Diese Erwägungen werden nicht dadurch entkräftet, daß - wie freilich manchmal in den Vorberatungen zum 2. ÄndG geäußert wurde - allgemein eine Haftung des Bundes für Schulden von außerhalb der Bundesrepublik gelegenen früheren Gebietskörperschaften der Einschränkung durch die Regelungen über Kriegsfolgelasten unterworfen ist. Für den hier zu beurteilenden Sonderbereich der Impfschädigungen ist diese allgemeine Haftungsbeschränkung durch den nunmehr anerkannten und in § 51 Abs. 3 BSeuchG für einen Teilbereich konkretisierten Rechtsgedanken des Nutznießerprinzips durchbrochen (vgl. auch BT-Drucks. VI/1568, S. 13, Gegenäußerung der Bundesregierung zu Punkt 6).
Die einschränkende Fassung des § 51 Abs. 3 Läßt sich aus ihrer Entstehungsgeschichte erklären. Bei ihrer Formulierung hat es sich wohl nachdrücklich ausgewirkt, daß die Initiative für die Einführung dieser Vorschrift vom damaligen Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte ausgegangen ist, wie man dem vom Beigeladenen vorgelegten Schreiben dieses Ministeriums vom 15. Januar 1969 entnehmen muß. Anders als der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, der in seinem Schreiben vom 11. März 1969 bei der Neufassung des § 51 auch solche Personen berücksichtigt wissen wollte, die "später in das Bundesgebiet geflüchtet oder umgezogen sind", mag das die Belange der Vertriebenen und Flüchtlinge betreuende Ministerium sich nur veranlaßt gesehen haben, im Gesetzestext vordringlich diese ihm anvertrauten Menschen zur Geltung zu bringen; dagegen gehörten diejenigen Bürger der Bundesrepublik, die in Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit (Art. 111 WRV) sich schon vor dem Auseinanderfallen des Deutschen Reiches aus dessen östlicher Region in die westliche begeben hatten - möglicherweise übrigens ein statistisch unerheblicher Personenkreis - nicht zum Ressortbereich des genannten Ministeriums, wie ihnen wohl auch sonst keine organisierte Interessenvertretung zur Seite stand. Geht man aber davon aus, daß § 51 Abs. 3 auf diese Art zustande gekommen ist, so wird deutlich, daß die in Satz 2 enthaltene Einschränkung dem wiederholt geäußerten Plan des Gesetzes insofern zuwiderläuft, als nach dem - isoliert betrachteten - Wortlaut die Geltendmachung von Versorgungsansprüchen den Deutschen versagt wird, die im Reichsgebiet durch eine Pockenimpfung gesundheitlich geschädigt wurden und sodann noch vor der Etablierung von Besatzungszonen ihren ständigen Aufenthalt im heutigen Bundesgebiet genommen haben. Dies kann jedoch für eine widerspruchsfreie Auslegung der Absätze 1 und 3 des § 51 BSeuchG nicht maßgebend sein. - In der vom LSG angeführten Äußerung des Parlamentarischen Staatssekretärs Westphal - übrigens anläßlich einer hier nicht interessierenden Fragestellung - (Verhandl. des Deutschen Bundestages, 7. Wahlperiode, Stenogr. Berichte Bd. 85, Nachtrag zum Stenogr. Bericht über die 71. Sitzung vom 13.12.1973, Anl. 59 S. 4502 zu Frage B 28) findet sich der sehr plausible Maßstab einer "Zuordnung der einzelnen Fälle zur Bundesrepublik" als Grund und Grenze der Entschädigungspflicht; es wird indessen nicht dargetan, aus welchen Gründen der soeben skizzierte Personenkreis etwa in geringerem Maße als die Vertriebenen und die Flüchtlinge "zugeordnet" sein sollte, wenn es darauf ankommt, ob ein Land der Bundesrepublik Leistungen erbringen muß, die von der dazu verpflichteten Gebietskörperschaft - hier dem ehemaligen Land Anhalt - aus allgemeinen politischen Gründen nicht mehr zu erlangen sind.
Der Senat faßt zusammen: Die gesetzliche Regelung, welche die Versorgung von Impfgeschädigten mit dem 2. ÄndG in § 51 Abs. 1 und 3 BSeuchG erhalten hat, ist nach dem Plan und Willen des Gesetzes so auszulegen, daß Pocken-Impfschädigungen von Deutschen im Reichsgebiet jedenfalls dann den Versorgungsanspruch begründen, wenn der früher außerhalb des jetzigen Bundesgebiets gelegene Wohnsitz noch in der Zeit der ungeteilten Reichseinheit in das Gebiet der späteren Bundesrepublik verlegt worden ist. Zu diesem Personenkreis gehört die Klägerin. Die Zuständigkeit zur Versorgungsleistung muß sich in solchen Fällen nach dem Nutznießerprinzip aus einer entsprechenden Anwendung des § 59 Abs. 2 Nr. 3 BSeuchG ergeben.
Auf die hiernach begründete Revision der Klägerin muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden.
Mängel des Klageverfahrens, wie sie das LSG bezeichnet hat, liegen nach Ansicht des Senats nicht vor. Aus den vom SG getroffenen Feststellungen geht hinreichend deutlich hervor, daß die Klägerin durch die am 8. Mai 1942 vorgenommene Pockenimpfung gesundheitliche Schäden erlitten hat, welche eine MdE rentenberechtigenden Grades wahrscheinlich machen und das Bestehen des Versorgungsanspruchs wenigstens in einer Mindesthöhe dartun. Entgegen der vom LSG vertretenen Auffassung enthielt somit die erstinstanzliche Entscheidung keine Zurückverweisung an die Verwaltungsbehörde, vielmehr genügte sie den Erfordernissen, die für den Erlaß eines Grundurteils (§ 130 Satz 1 SGG) gelten (vgl. BSG 13, 178, 181).
Demgemäß muß die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Kassel vom 6. April 1973 zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen