Entscheidungsstichwort (Thema)
Gliadinfreie Mehlmischung
Leitsatz (redaktionell)
1. Gliadinfreie Mehlmischung ist kein Arznei- oder Heilmittel. Sie ist nicht geeignet, eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, zu bessern oder eine Verschlimmerung zu verhüten. Die Tatsache, daß ein Kranker eine Reihe von Nahrungsmitteln vermeiden muß, bedeutet nicht, daß die geeigneten Nahrungsmittel Heilungswirkung iS der KV hätten. Dies gilt auch dann, wenn bei langfristiger Vermeidung der ungeeigneten Nahrung eine Heilung der Krankheit erzielt wird.
2. Zu den Regelleistungen der Krankenkasse gehören nicht Zuschüsse für eine spezielle Diätkost. Ob die Arznei- bzw Hilfsmitteleigenschaft dann bejaht werden kann, wenn - anders als in den vorliegenden Fällen - nur bestimmte Präparate zur Ernährung in Betracht kommen, kann offenbleiben.
3. Im Rahmen des RVO § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst b ist eine Erstattung von Mehraufwendungen für die krankheitsbedingte besondere Ernährung oder Lebensführung nicht möglich.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b Fassung: 1974-08-07
Verfahrensgang
SG Duisburg (Entscheidung vom 19.01.1977; Aktenzeichen S 21 Kr 122/75) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 19. Januar 1977 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob die Fertigmehlmischung D. ein Arznei- oder Heilmittel in der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 182 Abs 1 Nr 1 Buchst b der Reichsversicherungsordnung - RVO -) ist.
Die Klägerin ist freiwilliges Mitglied der beklagten Ersatzkasse. Der 1964 geborene Sohn der Klägerin, für den diese Anspruch auf Familienhilfe hat, leidet an einer Zöliakie. Das ist eine Allergie gegen das im handelsüblichen Mehl enthaltene Gliadin. Der Sohn der Klägerin muß deshalb gliadinfrei ernährt werden. Im Oktober 1974 stellte die Klägerin den Antrag, die Kosten für die gliadinfreie Fertigmehlmischung D., die sie in Apotheken kaufe, ganz oder teilweise zu übernehmen. Zur Begründung legte sie eine ärztliche Bescheinigung vor, wonach sie dieses Mittel zum Brotbacken für ihren Sohn benötige. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil Damin nicht als Heilmittel im Sinne des § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst b RVO beurteilt werden könne. Dieses Präparat sei nur ein Nahrungsmittel, das wie viele andere Nahrungsmittel für den Sohn der Klägerin geeignet sei. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg.
Das Sozialgericht (SG) hat hingegen die Beklagte antragsgemäß verpflichtet, "die Kosten für das Präparat Damin als Heilmittel zu übernehmen". D. sei keine normale Diätnahrung, was die Klägerin meine. Denn durch langfristige Einhaltung einer gliadinfreien Diät könne eine Linderung und schließlich auch die Heilung der krankhaften Erscheinungen erreicht werden. Da die Verwendung von andersartigen Präparaten nicht billiger oder zweckmäßiger sei, müsse die Beklagte die Kosten von D. übernehmen.
Mit der in dem angefochtenen Urteil zugelassenen Sprungrevision rügt die Beklagte die Verletzung des § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst b RVO. Die gliadinfreie Nahrung diene nur der Verhütung einer Krankheit und sei deshalb - nicht anders als die Diätkost von Diabetikern - nicht als Heilmittel zu beurteilen. Sie beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision ist zulässig. Die der Revisionsschrift beigefügte privatschriftliche Zustimmungserklärung der Klägerin ist wirksam. Sie unterliegt nicht dem Vertretungszwang nach § 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - (vgl BSGE 3, 13).
Zulässig ist auch die Klage. Es handelt sich um eine mit einer Anfechtungsklage verbundene Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG). Die Höhe der begehrten Geldleistung brauchte nicht beziffert zu werden (BSGE 27, 81, 82).
Der vorliegende Fall nötigt nicht zu der Entscheidung, ob die Satzung der Beklagten - die für den Anspruch der freiwillig versicherten Klägerin maßgebend ist (vgl Art 2 § 4 Abs 2 der 12. Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung vom 24. Dezember 1935 - RGBl I 1537 - idF der Verordnung vom 1. April 1937 - RGBl I 439) -) - die Möglichkeit bietet, den freiwillig Versicherten die Kosten von selbstbeschafften Heilmitteln zu erstatten oder ob auch für diese Versicherten die Versorgung mit Heilmitteln gegen Vorlage einer ärztlichen Verordnung als Naturalleistung zu geschehen hat. Denn der geltend gemachte Anspruch scheitert jedenfalls daran, daß das in Rede stehende Präparat nicht als Mittel im Sinne des § 14 der Versicherungsbedingungen iVm § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst b RVO verwendet wird.
Ohne Bedeutung ist, daß das SG und die Beklagte den Begriff des Heilmittels in einem weiteren, auch Arzneimittel umfassenden Sinn gebraucht haben. Das Gesetz (§ 182 Abs 1 Nr 1 Buchst b RVO und § 14 der Versicherungsbedingungen) verwendet diesen Begriff zwar nicht in diesem Sinn, sondern unterscheidet zwischen Heilmitteln - Gegenstände, die überwiegend von außen auf den Körper wirken (BSGE 28, 158 ff) - und Arzneimitteln - stoffliche Mittel, die im wesentlichen dem Körper zugeführt werden (vgl § 2 des Arzneimittelgesetzes vom 24. August 1976 - BGBl I 2445 -).
Entscheidend ist, daß die Fertigmehlmischung D. nicht das Merkmal aufweist, das beiden Begriffen gemeinsam ist: Die Zweckbestimmung, eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, zu bessern oder eine Verschlimmerung zu verhüten (vgl BSGE 42, 16, 18 f zu einer Maßnahme, deren Heilmitteleigenschaft streitig war). Auf die hier vorliegende Krankheit wird durch die Verwendung der Fertigmehlmischung D. nicht in dieser Weise Einfluß genommen. D. ist vielmehr ein Nahrungsmittel besonderer Art, denn es ist dazu bestimmt, ein anderes Nahrungsmittel - handelsübliches Mehl - zu ersetzen. Dem steht nicht die Feststellung des SG entgegen, durch langfristige Einhaltung einer gliadinfreien Diät könnten die krankhaften Erscheinungen gelindert und letztlich sogar beseitigt werden. Diese Feststellung ist nämlich in Verbindung mit der Art der Krankheit zu sehen. Es handelt sich um eine krankhafte Veranlagung. Diese Veranlagung führt zu schweren krankhaften Erscheinungen, wenn Nahrungsmittel eingenommen werden, die einen bestimmten Stoff - Gliadin - enthalten. Da dieser Stoff nur in dem handelsüblichen Mehl und den damit hergestellten Produkten enthalten ist, stehen dem Kranken alle anderen Nahrungsmittel zur Verfügung.
Die Einflußnahme auf die Krankheit geschieht somit durch die Vermeidung gliadinhaltiger Nahrung. Dadurch werden akute Erscheinungen verhütet. Nach dem Inhalt der vorgenannten Feststellung des SG werden auch dadurch - durch die Vermeidung unzuträglicher und nicht durch die Wahl von zuträglichen Nahrungsmitteln - die Krankheitserscheinungen vermindert. Die Feststellung des SG ist somit in dem Sinn zu verstehen, daß bei Einhaltung einer bestimmten Diät und nicht "durch" die Einnahme der Fertigmehlmischung D. eine heilende Wirkung eintritt. Für Mehraufwendungen, die durch eine besondere Lebensführung entstehen, zu der die Krankheit den Versicherten nötigt, haben die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung keinen Ersatz zu leisten, wenn dies nicht ausdrücklich geregelt ist (vgl BSGE 42, 229, 232).
Im Rahmen der in § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst b RVO und der entsprechenden Satzungsvorschrift des § 14 der Versicherungsbedingungen geregelten Versorgung mit Arznei- oder Heilmitteln ist eine Erstattung von Mehraufwendungen für eine krankheitsbedingte besondere Ernährung nicht vorgesehen. Da § 193 Abs 2 RVO - Krankenkost kraft Satzungsrechts - in der Zeit, für die das Präparat verlangt wird, schon aufgehoben war (vgl § 21 Nr 14 des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes aaO), besteht kein Anhalt dafür, daß eine andere Anspruchsgrundlage als die vorgenannten Vorschriften in Betracht kommt.
In den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von Arzneimitteln in der kassenärztlichen Versorgung idF vom 16. Dezember 1974 (Beilage Nr 12/75 zum Bundesanzeiger 1975 Nr 59), die auch für die vertragsärztliche Versorgung gelten (Anlage 3 zum Arzt-Ersatzkassenvertrag) ist zwar vorgesehen, daß Nährmittel und Heilnahrung (Krankenkost) sowie auch Diätpräparate besonders bei Enzymmangelkrankheiten verordnet werden können (Nr 17 und Nr 13 Buchst i der Richtlinien). Es bleibt offen, für welche Fälle diese Verordnungsmöglichkeit besteht (vgl zu dieser Frage auch die Stellungnahme des Landesverbandes der Betriebskrankenkassen Nordrhein-Westfalen in BKK 1976, 57). Sie besteht jedenfalls nicht in den Fällen, in denen, wie hier, die Krankheit nur die Vermeidung bestimmter Nahrungsmittel gebietet und im übrigen die Auswahl unter allen sonstigen Nahrungsmitteln besteht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen