Leitsatz (amtlich)
Behördliche Maßnahmen iS des BVG § 5 Abs 1 Buchst b und ihre Folgen dürfen nicht rein begrifflich aufgefaßt, sondern müssen in ihrem Zusammenhang mit den Kämpfen gesehen werden, welche in der betreffenden Gegend unter den gerade dort herrschenden Umständen zu erwarten waren.
Orientierungssatz
1. Zur Frage der "gesamten Umstände", die in der Festung Breslau geherrscht haben, insbesondere, ob die ärztliche Betreuung der in der Festung Breslau zurückgebliebenen Zivilbevölkerung erheblich gestört und nicht mehr regelrecht gewesen ist.
2. Zur Frage des ursächlichen Zusammenhangs einer Little'schen Erkrankung mit den kriegsbedingten besonderen Umständen einer (Vierlings-)Geburt in der Festung Breslau.
Normenkette
BVG § 5 Abs. 1 Buchst. b Fassung: 1953-08-07
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. September 1967 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Kläger leidet an Little'scher Erkrankung. Er ist am 13. Februar 1945 als letztes Kind einer Vierlingsgeburt in der Festung B in einem Luftschutzkeller mit Unterstützung nur einer Hebamme ohne ärztliche Hilfe geboren. Seinen Antrag auf Gewährung von Versorgung lehnte das Versorgungsamt durch Bescheid vom 2. Dezember 1959 wegen Fristversäumnis und - gestützt auf ein ärztliches Gutachten des Nervenarztes Dr. Sch - auch deshalb ab, weil die Little'sche Erkrankung nicht als Schädigungsfolge anzusehen sei. Der Widerspruch blieb nach Einholung einer Stellungnahme von Regierungsmedizinalrat Dr. H erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 20. April 1961); nach ärztlicher Auffassung sei es unwahrscheinlich, daß die bei der Geburt herrschenden Kriegsumstände für die Little'sche Erkrankung verantwortlich zu machen seien; vielmehr seien die Mehrlingsgeburt und die mit ihr verbundenen besonderen Risiken für die letzten Kinder maßgebend.
Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Beweis erhoben durch Einholung von ärztlichen Gutachten und Stellungnahmen, unter anderem des Nervenarztes Dr. D und des Direktors der Kinderklinik der Medizinischen Akademie in D, Prof. Dr. K mit Ergänzung. Durch Urteil vom 22. Oktober 1965 hat es die Verwaltungsbescheide abgeändert und den Beklagten verurteilt, bei dem Kläger eine Gehirnschädigung und ihre Folgeerscheinungen als Schädigungsfolge anzuerkennen und die Rente eines Erwerbsunfähigen zu gewähren. Eine stationäre Entbindung sei wegen der Kriegsverhältnisse nicht möglich gewesen. Dies sei seinerzeit auf die in der belagerten Stadt Breslau herrschenden besonderen Kriegsverhältnisse zurückzuführen. Deshalb sei der gesundheitliche Schaden des Klägers als eine Folge kriegerischer Einwirkungen anzusehen. Wenn Prof. Dr. K, ebenso wie die Verwaltung, mit Wahrscheinlichkeit allein die Vierlingsschwangerschaft und Vierlingsgeburt als Ursachen für die gesundheitliche Schädigung des Klägers angesehen habe, könne ihm nicht gefolgt werden, weil nach dem Gutachten des Nervenarztes Dr. D die Begleitumstände, unter denen der Kläger geboren sei, das schon vorhandene Risiko sehr vergrößert hätten. Es spreche mehr dafür, daß die Kriegsverhältnisse für den Leidenszustand verantwortlich zu machen seien. Zumindest komme ihnen gegenüber der Tatsache der Vierlingsschwangerschaft für die Entwicklung des Leidens eine gleichgroße Bedeutung zu.
Die Berufung des Beklagten hat sich vor allem gegen das Gutachten des Facharztes Dr. D gewandt. Das Landessozialgericht (LSG) hat Beweis erhoben durch Anhörung von Auskunftspersonen darüber, ob Mitte Februar 1945 in der Festung B die ärztliche Versorgung der Zivilbevölkerung noch regelrecht oder wenigstens in dringenden Fällen noch möglich war und ob schwangere Frauen auch bei einer schweren Geburt zur Entbindung in eine Klinik aufgenommen werden konnten. Es hat sodann von Prof. Dr. E, dem Direktor der Frauenklinik der Medizinischen Akademie in D, ein Gutachten über den ursächlichen Zusammenhang der Little'schen Erkrankung mit den kriegsbedingten besonderen Umständen der Geburt in der Festung B eingeholt. Durch Urteil vom 21. September 1967 hat es die Berufung des Beklagten zurückgewiesen, und die Revision zugelassen. Gestützt auf das Gutachten des Prof. Dr. E hat es festgestellt, daß die Ursache der Little'schen Erkrankung, der Sauerstoffmangel im Gehirn des Klägers, nicht während der Schwangerschaft, sondern erst während oder unmittelbar nach der Geburt aufgetreten ist. Insoweit hat es näher dargelegt, daß es dem Gutachten des Prof. Dr. K nicht folgen könne. Zwar seien an sich schon die Vierlingsgeburt und die Steißlage, aus der heraus der Kläger geboren worden sei, eine vergrößerte Gefahr für eine Hirnschädigung gewesen; sie hätte aber durch ärztliche Hilfe verringert werden können. Entscheidend sei, daß bei Mehrlingsgeburten und bei Steißgeburten ärztliche, insbesondere klinische Hilfe wesentlich zur Gefahrenverminderung und zur Reduzierung der Möglichkeit frühkindlicher Hirnschädigungen beitrage. Wenn bestimmte Umstände sich als verantwortlich für eine nicht ordnungsgemäße Durchführung einer an sich schon risikoreichen Mehrlingsgeburt erwiesen, dann müßten diese Umstände auch als wesentliche Mitursache einer bei einem solchen Ereignis eingetretenen Schädigung angesehen werden. Das Fehlen jeglicher ärztlicher Hilfe bei der Geburt des Klägers sei wesentlich zurückzuführen auf die behördliche Anordnung über die Evakuierung der Zivilbevölkerung und eines Teils der Ärzteschaft. Aus den Bekundungen der Auskunftspersonen unter Berücksichtigung des Buches "So kämpfte B" hat das LSG unter kritischem Abwägen gefolgert, es komme nicht darauf an, ob noch die Möglichkeit einer Aufnahme von Zivilpersonen in Krankenhäuser in dringenden Fällen bestanden habe und auch praktiziert worden sei. Vielmehr müsse auf Grund der gesamten Umstände, der überstürzten Räumung der Stadt durch die Zivilbevölkerung und damit auch durch viele Ärzte gerade in den letzten Wochen vor der Geburt des Klägers, unterstellt werden, daß für die Mutter in Wirklichkeit kein Arzt greifbar gewesen sei, der zur Hilfeleistung bei der Geburt hätte herangeholt werden können - wofür die Tatsache spreche, daß die anwesende Hebamme, obwohl sie hierzu verpflichtet gewesen sei, keinen Arzt herbeigerufen habe, und daß kein Transportmittel zum Zeitpunkt der Geburt zu einer Überführung in ein Krankenhaus zu beschaffen gewesen sei. Diese Umstände seien die Folge behördlicher Maßnahmen, nämlich der angeordneten Räumung von der Zivilbevölkerung in Verbindung mit dem Befehl zur Verteidigung der Stadt.
Der Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt zu erkennen,
auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21.9.1967 und des Sozialgerichts Duisburg vom 22.10.65 abgeändert und die Klage abgewiesen.
Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung der §§ 1 u. 5 Abs. 1 Buchst. b des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Die durch die Evakuierung bedingte Reduzierung der Ärzteschaft im geräumten Gebiet stelle nur eine mittelbare Kriegseinwirkung dar. Die Unterstellung des LSG, es sei nicht möglich gewesen, einen Arzt zur Entbindung heranzuholen, oder ein Transportmittel zu beschaffen, entbehre der erforderlichen Sachaufklärung. Eine klinische Behandlung hätte ohne weiteres in Anspruch genommen werden können. Da auch heute noch bei einer Mehrlingsgeburt ein frühkindlicher Hirnschaden entstehen könne, könne nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Kriegsverhältnissen und der Gesundheitsstörung des Klägers angenommen werden. Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten gegen das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 21.9.1967 als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung - zumindest im Ergebnis - für zutreffend.
Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Sein Rechtsmittel ist zulässig, kann aber keinen Erfolg haben.
Das Berufungsgericht hat zunächst festgestellt, daß die Hirnschädigung des Klägers während oder unmittelbar nach der Geburt eingetreten ist und nicht etwa schon vorher während der Schwangerschaft. Es hat dies ohne Rechtsverstoß aus dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. E folgern können. Denn einerseits bietet das Gutachten eine hinreichende Stütze für diese Feststellung; andererseits hat das LSG sich mit der entgegenstehenden ärztlichen Auffassung, welcher der Beklagte folgt, begründet auseinandergesetzt. Beim Auseinandergehen medizinischer Auffassungen aber kann das Tatsachengericht nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (vgl. BSG SozR SGG § 128 Nr. 33) seine Überzeugung unter abwägender und sachentsprechender Würdigung des Einzelfalles entsprechend einer von mehreren streitigen Meinungen bilden. Dies hat hier das Berufungsgericht mit sachgerechter Begründung getan, indem es im Anschluß an Prof. Dr. E ausgeführt hat, während der Schwangerschaft hätte ein Sauerstoffmangel im Gehirn zum Absterben des Kindes, spätestens während der Geburt, geführt. Insoweit geht die Rüge einer unzutreffenden Beweiswürdigung, nämlich daß eine Vermutung zur Feststellung erhoben sei, fehl.
Im Hinblick auf das Ergebnis der Beweisaufnahme konnte das LSG auch ohne Rechtsverstoß feststellen, daß die ärztliche Betreuung der in der Festung Breslau zurückgebliebenen Zivilbevölkerung erheblich gestört und nicht mehr regelrecht gewesen ist. Es hat insoweit das Buch "So kämpfte B" kritisch gewürdigt. Wie es gleichfalls berücksichtigt hat, haben von den Auskunftspersonen Prof. Dr. P, Dr. L und Dr. L angegeben, daß in der Stadt nach der Evakuierung ärztliche Hilfe und sogar Krankenhausaufnahme noch möglich gewesen seien. Aus den gesamten Mitteilungen dieser drei Ärzte sowie der übrigen Auskunftspersonen, welche das Berufungsgericht im einzelnen bezeichnet hat, konnte es jedoch bedenkenfrei seine tatsächliche Feststellung über die nach der Evakuierung und durch sie allgemein nicht mehr regelrechte ärztliche Betreuung der zurückgebliebenen Zivilbevölkerung herleiten. Zu Unrecht verweist demgegenüber der Beklagte auf die nach einigen Auskunftspersonen und dem Buch "So kämpfte B" bestehenden Möglichkeiten von ärztlicher und sogar klinischer Behandlung. Er berücksichtigt nicht, daß das Berufungsgericht sich hiermit auseinandergesetzt und für den vorliegenden Streitfall festgestellt hat, für die Mutter des Klägers sei wegen der Evakuierung in Wirklichkeit kein Arzt greifbar gewesen, der zur Hilfeleistung bei der Geburt hätte herangeholt werden können. Dies hat das LSG nicht nur aus dem tatsächlichen Fernbleiben eines Arztes bei der Geburt, sondern auch aus "den gesamten Umständen" hergeleitet. Hierzu hat es als Beispiele die überstürzte Räumung der Stadt durch die Zivilbevölkerung und damit auch durch viele Ärzte gerade in den letzten Wochen vor der Geburt des Klägers aufgeführt. Zu den "gesamten Umständen" des vorliegenden Sachverhalts gehört noch folgendes:
Im Jahre 1939 zählte Breslau etwa 630.000 Einwohner; zur Zeit der Einschließung soll es sogar 750.000 Einwohner gehabt haben. Es war in jedem Falle eine echte Großstadt. Wenn aus einer so großen Stadt ein Teil der Ärzteschaft herausgeht, so wird in deren Arztbezirken die ärztliche Versorgung zunächst einmal gestört. Dies hat unter normalen Verhältnissen keine sehr schwerwiegenden Folgen, weil Verkehrsmittel zur Verfügung stehen. Da aber in der Festung Breslau die Straßenbahn ausgefallen, auch Straßensperren gebaut waren, mußte sich der Mangel an Ärzten sehr viel schwerer auswirken als unter normalen Verkehrsverhältnissen, weil das Einspringen des einen Arztes für den anderen erschwert - wenn nicht unmöglich gemacht - war. Außerdem war für den zurückgebliebenen Teil der Bevölkerung nicht ohne weiteres ersichtlich, welche Ärzte noch vorhanden waren und praktizierten und welche herausgegangen bzw. nur noch für die Versorgung der Soldaten eingesetzt waren. Infolgedessen konnte das Berufungsgericht ohne Rechtsverstoß für den hier zu entscheidenden Sachverhalt feststellen, daß die ärztliche Versorgung der Mutter des Klägers während der Geburt infolge der Evakuierung Breslaus gefehlt hat. Ebenso hat das LSG festgestellt, die Überführung in eine Klinik sei nicht möglich gewesen, weil Transportmittel nicht zu beschaffen gewesen seien. Den Mangel an Transportmitteln hat es erkennbar auf militärische Maßnahmen und auch auf die angeordnete Evakuierung zurückgeführt. Insoweit sind keine formgerechten Rügen erhoben; denn der Beklagte hat in der Revisionsbegründung nicht angegeben, welche Beweismittel das Vordergericht noch hätte benutzen müssen und zu welchem Beweisergebnis sie geführt hätten. Infolgedessen bindet diese Feststellung das Revisionsgericht gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -.
Es trifft zwar zu, daß das Berufungsgericht insoweit von einer "Unterstellung" spricht. Aber in verfahrensrechtlicher Beurteilung handelt es sich um echte tatsächliche Feststellungen, zumal die Quellen angegeben sind, aus welchen sie gewonnen sind. Infolgedessen können die Rügen des Beklagten gegen die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil nicht durchgreifen.
Das LSG hat den von ihm ermittelten Sachverhalt unter § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG untergeordnet. Nach dieser Vorschrift gelten als unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen, behördliche Maßnahmen in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder ihrer Vorbereitung mit Ausnahme der allgemeinen Verdunkelungsmaßnahmen. Behördliche Maßnahmen im Sinne dieser Vorschrift wenden sich an die Zivilbevölkerung und sind nicht allein - wie andere Verwaltungsakte - hoheitliches Handeln in Ausübung der öffentlichen Gewalt, sondern entsprechen für ihren Bereich den in § 5 Abs. 1 Buchst. a BVG aufgeführten militärischen Maßnahmen, welche auf der militärischen Kommandogewalt beruhen. Sie erhalten ihr Gepräge von den Grenzsituationen der Kampfhandlungen oder deren Vorbereitung, mit denen sie unmittelbar zusammenhängen. Je nach der Ausprägung dieser Grenzsituation verlangen sie ein bestimmtes Handeln oder Verhalten von der Bevölkerung, wie zB allgemein die Vorbereitung der späteren militärischen Verteidigung durch Schanzen, Ausheben von Erdbefestigungen, Überfluten von Vorgelände, Unterbrechung von Straßen und Eisenbahnen, Sammeln, Fortschaffen oder Vernichten von Lebensmittelvorräten. Sie können auch fürsorgerischen Charakter haben und die Zivilbevölkerung auffordern, ein bestimmtes Gebiet zu verlassen, um nicht in die Mitleidenschaft von zu erwarteten Kampfhandlungen zu geraten. Die behördlichen Maßnahmen und ihre Folgen werden also von den Grenzsituationen geprägt, aus denen heraus sie erlassen werden. Die Geschichte kennt die verschiedenartigen behördlichen Maßnahmen. Deshalb dürfen sie nicht rein begrifflich aufgefaßt, sondern müssen in ihrem Zusammenhang mit den Kämpfen gesehen werden, welche in der betreffenden Gegend unter den gerade dort herrschenden Umständen zu erwarten waren. Für die Beurteilung der behördlichen Maßnahmen und ihrer Folgen kommt es also auf die im Einzelfall obwaltenden tatsächlichen Gegebenheiten im geschichtlichen Ablauf des Krieges an. Dementsprechend hat das Berufungsgericht zu Recht "die gesamten Umstände" in der Festung B, welche bereits behandelt worden sind, berücksichtigt.
Die Rechtsprechung des BSG (BSG 2 S. 29 ff, Breithaupt 1967 S. 767 ff, Urteil des erkennenden Senats vom 23. Oktober 1958 - 8 RV 439/56) läßt nach der Entstehungsgeschichte, dem Zusammenhang mit § 1 Abs. 2 BVG und einer sinnvollen Abgrenzung des Tatbestandsmerkmals einer unmittelbaren Kriegseinwirkung nur die unmittelbaren Einwirkungen der in dieser Vorschrift näher bezeichneten Tatbestände - also hier einer behördlichen Maßnahme - für eine Schädigung im Sinne des BVG bedeutsam sein. Soweit diese Unmittelbarkeit fehlt, haben die Tatbestände keine versorgungsrechtlichen Wirkungen. Zu Unrecht ist der Beklagte der Ansicht, der Ärztemangel sei nur eine mittelbare Folge der behördlichen Maßnahme. Die Anordnung an die Zivilbevölkerung und einen großen Teil der Ärzteschaft, B zu räumen, bevor sich der Ring der Belagerer endgültig schloß, hat Folgen nicht nur für den Teil der Bevölkerung und der Ärzteschaft gehabt, welcher die Stadt verlassen hat, sondern auch für denjenigen, welcher in der Festung B zurückgeblieben ist. Zwar hat das BSG bisher ganz überwiegend nur über Fälle entschieden, in denen die Evakuierten zu Schaden gekommen sind. Damit aber hat es nicht erkennbar gemacht, daß die behördliche Maßnahme nur für diese Personen Bedeutung haben kann. Dem steht Wilke "Kommentar zum Bundesversorgungsgesetz (3. Aufl.) S. 86", auf welchen der Beklagte hinweist, nicht entgegen. Aus seinen Ausführungen kann jedenfalls nicht entnommen werden, daß nach seiner Ansicht die nicht evakuierten Teile der Bevölkerung etwa von vornherein von dem Versorgungsschutz nach § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG ausgeschlossen sein sollten.
Die Anordnung zur Räumung Breslaus, gerichtet an die Zivilbevölkerung und an den Teil der Ärzteschaft, welcher für deren ärztliche Betreuung noch zur Verfügung stand, hat auch unmittelbar zu dem nachher in der Festung herrschenden Mangel an ärztlicher Betreuung für die zurückgebliebene Bevölkerung geführt. Zwischen die Ausführung der behördlichen Maßnahme und den entstandenen Ärztemangel in der Festung schiebt sich kein weiteres Glied in der Kausalkette. Deshalb ist der Ärztemangel eine unmittelbare Folge der zusammen mit der Zivilbevölkerung durchgeführten Evakuierung eines Teils der Ärzteschaft. Infolgedessen hat das LSG den von ihm ohne Rechtsverstoß festgestellten Mangel an ärztlicher und klinischer Betreuung der Mutter des Klägers zu Recht unter die Vorschrift des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG eingeordnet.
Entgegen der Auffassung des Klägers lassen sich Ansprüche für ihn nicht aus § 5 Abs. 1 Buchst. a BVG herleiten. Von den Tatbestandsmerkmalen dieser Vorschrift käme nur eine mit Kampfhandlungen unmittelbar zusammenhängende militärische Maßnahme in Betracht. Es ist zwar an sich möglich, daß die Evakuierung der Zivilbevölkerung von einem militärischen Befehlshaber angeordnet sein könnte. Das LSG aber hat ausdrücklich insoweit nicht eine militärische Maßnahme, sondern eine behördliche Maßnahme festgestellt. Infolgedessen ist § 5 Abs. 1 Buchst. b anzuwenden und nicht etwa Buchst. a. Ebenfalls zu Unrecht hält der Kläger die Vorschrift des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG für anwendbar. Denn die Schädigung hängt nicht etwa mit der militärischen Besetzung deutschen Gebiets zusammen; vielmehr ist Breslau damals noch gar nicht von den Russen besetzt gewesen und die drohende Besetzung als solche hat mit den besonderen Umständen, unter denen der Kläger zur Welt gekommen ist, nichts zu tun.
Der Beklagte hat zu Unrecht gerügt, das LSG habe den Begriff der Wahrscheinlichkeit verkannt. Vielmehr hat das Berufungsgericht in dem angefochtenen Urteil auseinandergesetzt, daß nach ärztlicher Auffassung bei einer Mehrlingsgeburt in jedem Fall das Risiko einer Gehirnschädigung für den Letztgeborenen bestehe; außerdem sei dieses Risiko durch die Steißlage, aus der der Kläger geboren worden sei, noch vergrößert. Damit hat das LSG auf Grund des Ergebnisses der Beweisaufnahme für das Vorliegen des ursächlichen Zusammenhangs so viel Wahrscheinlichkeit gefunden, daß es seine richterliche Überzeugung hierauf gründen konnte. Dies ist frei von Rechtsirrtum.
In rechtlicher Betrachtung kann jeder dieser Umstände als Ursache in Betracht kommen. Demgegenüber aber hat das Berufungsgericht berücksichtigt, daß nach dem Gutachten des Prof. Dr. E durch Arzthilfe das aus der Steißlage rührende Risiko verringert werden kann. Zwar ist in dem Gutachten von klinischen Verhältnissen die Rede. Diese verringern hauptsächlich das Risiko der Mehrlingsgeburt. Für die Steißlage aber ist schon die Hilfe eines Arztes wesentlich und vermindert das Risiko erheblich. Im Hinblick hierauf haben die Vorinstanzen zu Recht die fehlende Arzthilfe und die fehlende klinische Betreuung als risikovermehrend und damit ebenfalls als Ursache für den eingetretenen Gesundheitsschaden angesehen. Wenn sie den beiden Komponenten, einerseits den anatomischen Gegebenheiten und andererseits der fehlenden klinischen und ärztlichen Betreuung die gleiche Bedeutung für den eingetretenen Erfolg beigemessen haben, so haben sie den für das Versorgungsrecht geltenden Begriff der Kausalität nicht verkannt, sondern richtig angewendet. Wegen des Hinzutretens der Steißlage kann nicht gesagt werden, daß die anatomische Komponente allein eine solche Bedeutung gehabt hätte, daß auch mit ärztlicher Hilfe der Schaden eingetreten wäre und mithin die fehlende ärztliche Hilfe nicht als Ursache im Rechtssinn in Betracht komme. Infolgedessen bestehen auch insoweit keine Bedenken gegen die angefochtene Entscheidung.
Da sonach die Entscheidung des Berufungsgerichts im Ergebnis richtig ist, war die Revision - wie geschehen - gemäß § 170 Abs. 1 SGG zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2285183 |
BSGE, 261 |