Leitsatz (amtlich)
Bei der Umstellung der Versorgung auf das BVG sind die Feststellungen, die nach den bisherigen Vorschriften des saarländischen Rechts zur Frage der Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage getroffen worden sind, nicht rechtsverbindlich.
Normenkette
BVG § 85 Fassung: 1950-12-20, § 86 Abs. 3 Fassung: 1956-06-06, § 35 Fassung: 1960-06-27; BVGSaarEG Art. 1 § 2 Fassung: 1961-08-16
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 2. Oktober 1964 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
Auf Grund des Bescheides des Versorgungsamts (VersorgA) Saarbrücken vom 3. Juli 1957 bezog der Kläger
1) wegen Verlustes des rechten Unterschenkels im unteren Drittel und
2) wegen Versteifung des linken Sprunggelenks
vom 1. Juni 1956 an neben einer Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H. eine Pflegezulage von monatlich 7500 Frs.
Mit Umanerkennungsbescheid vom 1. Oktober 1962 stellte das VersorgA die Versorgung des Klägers mit Wirkung vom 1. Juni 1960 an auf das Bundesversorgungsgesetz (BVG) um und entzog dem Kläger mit Ablauf des auf die Zustellung des Bescheids folgenden Monats (vom 1.12.1962 an) die Pflegezulage, weil Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG nicht vorliege. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg. Der Kläger hat mit der Klage weiterhin die Gewährung einer Pflegezulage und höherer Versorgungsgebührnisse begehrt. Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten durch Teilurteil verurteilt, dem Kläger über den 31. Mai 1960 hinaus Pflegezulage nach Stufe I zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 2. Oktober 1964 die Berufung des Beklagten gegen das Teilurteil des SG vom 18. Dezember 1963 zurückgewiesen. Die Pflegezulage sei ein selbständiger Anspruch, über den das SG durch Teilurteil habe entscheiden dürfen (BSG 3,7). Der Kläger habe zwar Pflegezulage bis Ende 1962 erhalten, das SG habe sie aber vom 1. Juni 1960 an zusprechen können, weil das Versorgungsverhältnis von diesem Zeitpunkt an umzustellen gewesen sei, wobei dem Kläger gegenüber der bisherigen Pflegezulage die Pflegezulage nach § 35 BVG zustehe, falls diese höher sei. Der Gesundheitszustand des Klägers habe sich vor der Umanerkennung nicht geändert; die Einführung des BVG im Saarland berechtige den Beklagten nicht, die Pflegezulage zu entziehen, möge er auch den vorausgegangenen Bescheid für unzutreffend halten. Art. I § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Einführung des Bundesversorgungsgesetzes im Saarland vom 16. August 1961 (BGBl I, 1292, Einführungsgesetz = EG) binde den Beklagten nicht nur hinsichtlich der Zusammenhangsfrage (§ 1 BVG), sondern darüber hinaus auch immer dann, wenn das BVG vom bisherigen Recht nicht abweiche (ebenso RVG 3, 47). Der Auffassung von Wilke, daß eine Bindung an die früher festgesetzte MdE nicht bestehe und deshalb allein die MdE nach dem BVG maßgebend sei (Wilke in BVBl 1954, 13 ff sowie in KOV 1955, 93, dem sich auch das LSG Berlin - BVBl 1955, 74 - angeschlossen habe; ebenso BSG 2, 263), folge das LSG nicht. Der Bescheid ergreife den Anspruch im ganzen und binde den Versorgungsträger.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Beklagte dem Sinne nach eine Verletzung des Art. I § 2 Abs. 1 EG, der dem § 85 BVG entspreche, und des § 35 BVG. Die Versorgungsbehörde sei nicht an die frühere Festsetzung der MdE und der Pflegezulage gebunden, wenn diese nicht den tatsächlichen Verhältnissen entspreche. Der Kläger sei nicht einem Doppelamputierten gleichzustellen und habe deshalb nach § 35 BVG keinen Anspruch auf Pflegezulage (s. Urteil des erkennenden Senats vom 8.12.1960 - 8 RV 153/59 -). Nach der fachärztlichen Stellungnahme der Orthopädischen Versorgungsstelle Landau vom 24. September 1963 könne der Kläger sich mit orthopädischen Hilfsmitteln flott und sicher bewegen.
Der Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil und das Teilurteil des SG für das Saarland vom 18. Dezember 1963 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid des Versorgungsamts Saarbrücken vom 1. Oktober 1962 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Das angefochtene Urteil beruhe nicht auf einer unzutreffenden Auslegung und Anwendung des § 2 Abs. 1 des Art. I EG vom 16. August 1961. Daraus, daß Art. I § 2 Abs. 1 aaO nur auf die Kausalitätsfeststellung Bezug nehme, dürfe nicht geschlossen werden, daß die Versorgungsverwaltung im übrigen nicht an den Bescheid gebunden sei und einen neuen Bescheid ohne Beachtung der §§ 62 BVG, 41 Verwaltungsverfahrensgesetz erteilen dürfe. Auf § 85 BVG und die dazu ergangene Rechtsprechung könne nicht verwiesen werden, weil eine dem § 86 Abs. 3 BVG vergleichbare Vorschrift in das EG vom 16. August 1961 nicht aufgenommen worden sei. Die Einführung des BVG sei unter Wahrung des Grundsatzes des persönlichen Besitzstandes erfolgt (vgl. § 5 EG). Der Antrag auf Abweisung der Klage sei im übrigen auch deshalb ungerechtfertigt, weil nach den bisherigen tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht in ausreichender Weise feststehe, daß der Kläger tatsächlich nicht hilflos im Sinne des § 35 BVG sei. Zu dieser Frage habe das Berufungsgericht wegen seiner anderen Rechtsauffassung nicht Stellung genommen. Es sei nicht geklärt, ob der Kläger nicht doch einem Doppelamputierten gleichzustellen sei. Dem Revisionsgericht sei es verwehrt, darüber zu entscheiden, der Kläger verliere sonst die Möglichkeit, daß sein Anspruch in einer Tatsacheninstanz überprüft werde.
Die durch Zulassung statthafte Revision des Beklagten (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 Abs. 1 Satz 1 SGG) und deshalb zulässig; sie ist auch begründet. Im sozialgerichtlichen Verfahren können ebenso wie nach der Zivilprozeßordnung - ZPO - (§ 301 ZPO) Teilurteile ergehen. Ebenso wie im Zivilprozeß entscheidet das Teilurteil über einen von mehreren in einer Klage geltend gemachten Ansprüchen oder über einen Teil eines Anspruchs; das Teilurteil ist in Bezug auf Rechtsmittel wie ein Endurteil zu behandeln (BSG 7, 3; 12, 186; 18, 190, 193).
Nach Art. I § 1 des Gesetzes vom 16. August 1961 ist das BVG mit Wirkung vom 1. Juni 1960 im Saarland eingeführt worden. Nach § 3 Satz 1 aaO wird ein Bescheid über die "Umstellung der Versorgung auf das Bundesversorgungsgesetz" erteilt. Über die Rechtsnatur dieser "Umstellung" sagt das Gesetz nichts. Nach § 86 Abs. 1 Satz 1 BVG in seiner ursprünglichen Fassung wurden "die Bezüge nach diesem Gesetz (BVG) festgestellt". Ein rechtlicher Unterschied ist in der verschiedenen sprachlichen Fassung beider Gesetze nicht zu erkennen. Es handelt sich bei der Einführung des BVG im Saarland deshalb auch nicht etwa nur um eine "Umrechnung" der Bezüge, vielmehr sollten von der Umstellung an nur noch die Vorschriften des BVG - nach Maßgabe der §§ 2 bis 5 des EG - gelten. Die Umstellung beinhaltet also einen Ersatz des alten Rechts durch das BVG. Es handelt sich somit um eine Umanerkennung; sie erfolgt durch Bescheide, die den Charakter von "Umanerkennungsbescheiden" haben. Auch aus der Entstehungsgeschichte des EG ergibt sich nichts anderes. Zwar herrschte im Bundestagsausschuß bei der Beratung des EG Einmütigkeit darüber, daß der persönliche Besitzstand ohne zeitliche Grenzen erhalten bleiben müsse, über den rechtlichen Besitzstand konnte dagegen keine Übereinstimmung erzielt werden (Drucks. 2853-22. Ausschuß des Deutschen Bundestages, 3. Wahlp.). Dabei hat der Grundsatz der Wahrung des Besitzstandes in den §§ 4, 5, 6 EG seinen erschöpfenden und ausschließlichen Ausdruck gefunden. Weitere Folgen hat die Besitzstandswahrung nicht. Deshalb sind - abgesehen von den Vorschriften in §§ 4, 5, 6 EG - zu der Frage der Wirkungen der Umanerkennung die allgemeinen Grundsätze heranzuziehen, die schon bei der Umanerkennung nach dem BVG gegolten haben und die vom BSG in seiner Entscheidung BSG 2, 263, 264 bestätigt worden sind, wonach eine Bindung nach altem Recht nur im Rahmen des § 85 BVG aF vorgesehen war. Mit der Vorschrift des § 85 BVG aF stimmt aber Art. I § 2 Abs. 1 EG fast wörtlich überein. Nach der Begründung zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Bundesversorgungsgesetzes im Saarland hat der Hin eis in Art. I § 2 Abs. 1 aaO auf § 85 BVG nur die Bedeutung, daß auf die vor der Kapitulation im Jahre 1945 nach dem alten Reichsrecht getroffenen Entscheidungen § 85 BVG anzuwenden ist. Im übrigen ist für die Frage des Fortbestandes der Entscheidung über den Ursachenzusammenhang ausschließlich die Vorschrift des Art. I § 2 Abs. 1 Satz 1 EG maßgebend. Hierdurch wird erreicht, daß über den Ursachenzusammenhang nach dem BVG nicht anders als vorher nach den Rechtsvorschriften des Saarlandes entschieden werden kann. Was § 85 BVG für die vor Inkrafttreten des BVG (1. Oktober 1950) getroffenen Entscheidungen bedeutet, bedeutet somit Art. I § 2 Abs. 1 EG für die nach den Rechtsvorschriften des Saarlandes getroffenen Entscheidungen (siehe dazu Drucks. 2690 des Deutschen Bundestages, 3. Wahlp.). Hiernach darf bei der Umanerkennung im Saarland, ähnlich wie bei der Einführung des BVG im Bundesgebiet, die Zusammenhangsfrage nicht mehr geprüft werden; darüber hinaus ist - wie bereits dargelegt - die Besitzstandswahrung durch die Tatbestände der §§ 4 (Vergleich der Leistungsansprüche und ihrer Höhe nach bisherigem Recht und nach dem BVG), 5 (Erweiterung des berechtigten Personenkreises) und 6 (Bestandskraft von Härteausgleichen und Zuwendungen) EG erweitert worden. Im übrigen hat die Versorgungsverwaltung aber bei der Beurteilung des Sachverhalts freie Hand. Es dürfen also die nach bisherigem Recht erteilten Bescheide zwar in der (medizinischen) Zusammenhangsfrage nicht angetastet werden. Darüber hinaus ist die Verwaltung aber befugt und verpflichtet, bei der Umanerkennung den Sachverhalt zu prüfen und neu festzustellen. Das gilt insbesondere auch für den Grad der MdE und für die Voraussetzungen zur Gewährung einer Pflegezulage, die erst auf Grund einer neuen Prüfung festgestellt werden können. Die Versorgungsverwaltung muß in dieser Hinsicht die nach dem BVG geltenden Vorschriften auch dann anwenden, wenn sich gegenüber dem bisherigen Recht oder den bisherigen tatsächlichen Verhältnissen für den Versorgungsberechtigten eine ungünstigere Sachlage ergibt. An dieser Rechtslage haben auch die Beratungen des 22. Ausschusses des Deutschen Bundestages - 3. Wahlp. - in seiner 58. Sitzung zu § 3 Abs. 2 des Regierungsentwurfs und die auf Grund dieser Beratungen festgelegte neue Fassung des § 3 Satz 2 EG nichts geändert. Denn § 86 Abs. 3 BVG aF, der der Ausgangspunkt dieser umfangreichen Beratung war, stellte keineswegs die Grundlage einer - abgesehen von § 85 BVG aF - völlig freien Beurteilung des Sachverhalts dar. Vielmehr ist diese Sondervorschrift nur ergangen, um 1950 die Beschädigten möglichst bald in den Genuß der - in der Regel - höheren Rente nach dem BVG zu bringen. Da in zahlreichen Fällen eine Umanerkennungsuntersuchung erforderlich war, wäre ohne die Sondervorschrift des § 86 Abs. 3 BVG die Umanerkennung erheblich verzögert worden: in all diesen Fällen wären die Beschädigten zunächst untersucht worden, erst dann hätte die Rente neu festgestellt werden können. Das hätte aber zu lange gedauert. Aus diesem Grunde hat der Gesetzgeber - ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Gesundheitszustand eines Beschädigten - die Zahlung der in der Regel besseren Sätze bereits vor einer Nachuntersuchung zugestanden. In diesen Fällen wäre allerdings die Umanerkennung ohne die Vorschrift des § 86 Abs. 3 BVG bindend geworden. Dann hätten Fehler, die auf der fehlenden Untersuchung beruhten, nur unter den Voraussetzungen des § 62 BVG oder des § 41 VerwVG beseitigt werden können. Diese Folge ist durch § 86 Abs. 3 BVG verhindert worden. Eine weitere Bedeutung hat diese Vorschrift aber nicht gehabt, und weitere Schlußfolgerungen können daher aus ihr auch nicht gezogen werden. Diese Rechtslage ist durch die Neufassung des § 3 des Regierungsentwurfs (Streichung des vorgesehenen Absatzes 2 und dafür Zufügen des Satzes 2) nicht geändert worden. Satz 2 spricht in seiner - eindeutigen - Fassung nur die selbstverständliche Folge aus, daß bei einer Umstellung der Versorgung auf das BVG ohne ärztliche Nachuntersuchung für die erstmalige Nachuntersuchung die ärztlichen Feststellungen bei den Untersuchungen zur Zeit der Geltung des Saarrechts maßgebend sind. Hätte aber der Gesetzgeber die Absicht gehabt, die Rechtsverbindlichkeit der Entscheidung nach altem Recht nicht nur hinsichtlich der Frage des Ursachenzusammenhangs, sondern auch hinsichtlich der Höhe der MdE und der Voraussetzungen zur Gewährung einer Pflegezulage gesetzlich zu verankern, so hätte er dies auch eindeutig und unmißverständlich aussprechen müssen. Da - wie ausgeführt - die Wahrung des Besitzstandes in den §§ 4 bis 6 EG erschöpfend geregelt ist und keine Bindung an die Höhe der MdE und an die Voraussetzungen einer nach dem Recht des Saarlandes gewährten Pflegezulage zuläßt, ist die Verwaltung insoweit auch bei der Umstellung der Versorgung von den Vorschriften des Saarrechts auf das BVG frei.
Zu dieser Schlußfolgerung sind für das BVG das in BSG 2, 114 angeführte zahlreiche Schrifttum und die dort aufgeführte Rechtsprechung gelangt. Sie lehnen die Ansicht von Carstensen (ZfS 1953, 69) ab, welche die Rechtsverbindlichkeit der früheren Entscheidung nicht auf die Zusammenhangsfrage beschränken will, sondern alle Elemente der Entscheidung für die Beteiligten für bindend hält. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung an der in BSG 2, 263, 264 festgelegten Auffassung festgehalten, und es ist auch kein Anlaß gegeben, diese aufzugeben. Schließlich steht der hier vertretenen Ansicht auch nicht das Urteil des 9. Senats des BSG (BSG 23, 283) entgegen, weil dort nicht über Art. I § 2, sondern nur über Art. I § 4 EG zu entscheiden war.
Entsprechend der Auffassung der Revision war hiernach die Verwaltung befugt, abweichend von dem nach dem bisherigen Recht ergangenen Bescheid über den Anspruch auf Pflegezulage unter den Voraussetzungen des BVG neu zu entscheiden. Dies hat das LSG verkannt und dadurch Art. I § 2 EG verletzt. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben.
Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden. § 35 BVG setzt - ebenso wie § 31 RVG - Hilflosigkeit voraus, um einen Anspruch auf Pflegezulage zu begründen. Dieser Anspruch des Klägers hängt daher davon ab, ob sein Leidenszustand die Voraussetzungen des § 35 BVG erfüllt, ob er also hilflos ist. Das Berufungsgericht hat diese Frage nicht geprüft, weil nach seiner Ansicht bei unverändertem (gleichem) Sachverhalt und inhaltlich gleicher Rechtsnorm eine andere (für den Versorgungsberechtigten ungünstigere) Entscheidung nicht getroffen werden dürfe. Die hiernach notwendigen Feststellungen können nur in einer neuen Entscheidung der Tatsacheninstanz getroffen werden. Der Rechtsstreit war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen