Entscheidungsstichwort (Thema)
Ruhender Anspruch
Leitsatz (amtlich)
Die Auswanderung einer bis dahin in der britischen Besatzungszone wohnhaften Berechtigten nach England im Jahre 1948 hat nicht bewirkt, daß ihr Witwenrentenanspruch (Stammrecht) untergegangen ist.
Leitsatz (redaktionell)
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vergleiche BSG 1961-06-09 GS 2/59 = BSGE 14, 238; vergleiche BSG 1962-02-15 4 RJ 58/59 = BSGE 16, 202; vergleiche BSG 1962-10-25 4 RJ 153/61 = BSGE 18, 62; vergleiche BSG 1966-06-30 4 RJ 471/64 = SozR Nr 16 zu § 1291 RVO) ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen dem Anspruch auf Witwenrente dem Grunde nach (Stammrecht) und dem daraus folgenden Anspruch auf die Einzelleistungen. Solange ein Anspruch dem Grunde nach besteht, kann er wiederaufleben. Dies gilt auch für einen ruhenden Anspruch, weil in einem solchen Fall das Stammrecht unverändert fortbesteht und lediglich die hierauf beruhenden Einzelleistungen - hier die laufende Witwenrente - für die Ruhensdauer entfallen.
Normenkette
BVG § 44 Abs. 2; RVO § 1281 S. 1 Fassung: 1934-05-17
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 5. April 1972 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten der drei Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin die wiederaufgelebte Witwenrente aus der Rentenversicherung ihres ersten Ehemannes zusteht.
Die Klägerin bezog nach dem Tode ihres ersten - als Soldat gefallenen - Ehemannes Karl E aus dessen Invalidenversicherung seit dem 1. April 1943 Witwenrente und vom Versorgungsamt O eine Versorgungsrente. Da nach dem damals geltenden Besatzungsrecht nur die höhere Rente gewährt werden durfte, erhielt die Klägerin seit dem 1. November 1945 als die höhere Rente nur noch die Versorgungsrente.
Die zweite, am 14. Mai 1948 in England mit dem britischen Staatsangehörigen Fernando Edward B (B.) geschlossene Ehe wurde von einem englischen Gericht rechtskräftig am 3. April 1969 aus dem Alleinverschulden des Mannes geschieden. Die Klägerin verzog nach Berlin. In einer eidesstattlichen Erklärung vom 2. Juli 1969 erklärte B., er sei außerstande, etwas zum Lebensunterhalt der Klägerin beizutragen. Die Beklagte lehnte es ab, der Klägerin die von dieser am 28. April 1969 beantragte Witwenrente wiederzugewähren, weil die Klägerin zur Zeit ihrer Eheschließung mit B. keinen Anspruch auf eine Witwenrente gehabt habe und deshalb nach der Scheidung keinen Anspruch habe wiederaufleben können (Bescheid vom 4. August 1969). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 17. Dezember 1970), das Landessozialgericht (LSG) hat ihr stattgegeben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin seit dem 1. Mai 1969 Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes zu gewähren; das LSG hat die Revision zugelassen (Urteil vom 5. April 1972).
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 1291 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 5. April 1972 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Dezember 1970 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Daher ist sie zurückzuweisen.
Wie das LSG zutreffend festgestellt hat, steht der Klägerin die wiederaufgelebte Witwenrente gemäß § 1291 Abs. 2 RVO seit dem 1. Mai 1969 zu. Die Klägerin hat am 28. April 1969, also noch in demselben Monat, in dem am 3. April 1969 ihre Ehe mit dem zweiten Ehemann B. aus dessen Alleinschuld rechtskräftig geschieden worden war, beantragt, ihr die Witwenrente wiederzugewähren. Damit hat sie den Antrag so rechtzeitig innerhalb der Frist des 1. Halbsatzes des § 1291 Abs. 2 Satz 1 RVO gestellt - der Antrag ist bis spätestens zwölf Monate nach der Auflösung oder der Nichtigkeitserklärung der Ehe zu stellen-, daß ihm vom Ablauf des Monats der Eheauflösung an stattzugeben ist, wenn die Voraussetzungen für das Wiederaufleben von Witwenrente erfüllt sind. Das ist in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht zu bejahen.
Der Auffassung der Revision, die Klägerin habe zur Zeit ihrer Eheschließung am 14. Mai 1948 in London keinen Anspruch auf eine Witwenrente gehabt, jedenfalls habe sie ihren Witwenrentenanspruch verloren, als sie nach Großbritannien ausgewandert sei und ein auf diese Weise untergegangener Anspruch könne nicht wiederaufleben, kann nicht zugestimmt werden. Bei ihrer Argumentation folgt die Beklagte an sich zutreffend der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen dem Anspruch auf Witwenrente dem Grunde nach (Stammrecht) und dem daraus folgenden Anspruch auf die Einzelleistungen, wie sie das Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung vertritt (vgl. Großer Senat BSG 14, 238, 240 = SozR Nr. 2 zu § 1291 RVO; BSG 16, 202, 203 = SozR Nr. 3 aaO; BSG 18, 62, 64 = SozR Nr. 4; SozR Nr. 16 aaO). Solange ein Anspruch dem Grunde nach besteht, kann er wiederaufleben, falls er - was hier nicht zweifelhaft ist - auf Vorschriften des Reichs- oder Bundesrechts beruht hat (BSG 19, 97 = SozR Nr. 6 aaO; BSG 25, 20, 22 = SozR Nr. 15 aaO; SozR Nr. 19). Dies gilt auch für einen ruhenden Anspruch, weil in einem solchen Falle das Stammrecht unverändert fortbesteht und lediglich die darauf beruhenden Einzelleistungen - hier die laufenden Witwenrenten - für die Ruhensdauer entfallen.
Das LSG hat das Schicksal des Grundanspruchs der Klägerin auf Witwenrente verfolgt, und zwar einmal im Hinblick auf die Einwirkungen durch das Besatzungsrecht und zum anderen im Hinblick auf die Auswanderung mit der nachfolgenden zweiten Eheschließung in Großbritannien. Beiden Umständen hat es die Rechtswirkung des Ruhens zugeschrieben. Dies trifft aus folgenden Erwägungen zu:
Daß die Klägerin, die nach dem Tode ihres ersten Ehemannes eine Witwenrente aus dessen Invalidenversicherung und eine Versorgungsrente bezogen hatte, seit dem 1. November 1945 nur noch die gegenüber der Witwenrente höhere Versorgungsrente erhielt, entsprach dem für ihren damaligen Wohnsitz Oldenburg gültigen Besatzungsrecht: Nach Nr. 5 b der Sozialversicherungsdirektive Nr. 1 der Control-Commission for Germany (British Element) - Manpower Division 42048/1 - Betr. Sozialversicherung, Arbeitslosenhilfe und Versorgungsrenten vom 28. August 1945 (Arbeitsblatt für die britische Zone 1947, S. 10) durften "vorläufig" "keine Invaliden- oder Hinterbliebenenrenten an Personen ausgezahlt werden, die eine Unfallrente oder Versorgungsrente erhalten. Wenn jemand auf mehr als eine Rente nach diesem Rentensystem Anspruch hat, soll die Zahlung auf nur eine Rente beschränkt bleiben, und zwar auf diejenige, die für ihn am günstigsten ist." Auch nachdem aufgrund der Sozialversicherungsdirektive Nr. 27 der Kontrollkommission (BE) - Manpower Division S. I/42007/(A I) 2 - Betr. Leistungen an Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene nach den Grundsätzen der Unfallversicherung vom 2. Mai 1947 (Arbeitsblatt für die britische Zone 1947 S. 155) u. a. Kriegshinterbliebenen Leistungen nach den Grundsätzen der Unfallversicherung zu gewähren waren, bezog die Klägerin gemäß Nr. 11 II) a) dieser Sozialversicherungsdirektive, wonach beim Zusammentreffen einer Rente der gesetzlichen Rentenversicherung mit einer Rente nach dieser Direktive nur die höhere Rente zu gewähren war, falls der Anspruch auf der gleichen Folge von Umständen beruhte, nur die - höhere - Rente nach der Sozialversicherungsdirektive Nr. 27. Die so verfügte Nichtzahlung der Witwenrente aus der Rentenversicherung schloß nicht den Verlust des Grundanspruchs ein. Vielmehr ruhte diese Rente lediglich, wie dies auch der Präsident des Zentralamts für Arbeit in seiner Verwaltungsanweisung - IV/1075/47 - Betr. Auslegung der Sozialversicherungsdirektive Nr. 27 und der Sozialversicherungsanordnung Nr. 11 - Zusammentreffen von Renten - vom 29. Juli 1947 (Arbeitsblatt für die britische Zone 1947 S. 241) zum Ausdruck brachte: "Diese Bestimmungen sind nicht so auszulegen, daß auf die niedrigeren Renten dem Grunde nach kein Anspruch besteht. Die nicht zur Auszahlung gelangenden niedrigeren Renten gelten lediglich als ruhend."
Als die Klägerin nach Großbritannien verzog (29. März 1948), entfiel zwar die bisherige Rechtsgrundlage für das Ruhen. Sie wurde lediglich bis zur Wiederheirat (14. März 1948) durch diejenige des § 1281 Satz 1 RVO aF abgelöst, wo bestimmt war, daß eine Rente zu ruhen hatte, "solange sich der berechtigte Inländer im Ausland aufhält und es unterläßt, der Versicherungsanstalt seinen Aufenthaltsort mitzuteilen."
Entgegen der Meinung der Revision ist also das Stammrecht der Klägerin durch ihre Auswanderung nach Großbritannien nicht untergegangen. Die von der britischen Besatzungsmacht erlassenen und oben angegebenen Anordnungen bestimmen zwar, unter welchen Voraussetzungen Renten zu zahlen oder nicht zu zahlen sind, verfügen aber nicht den Verlust eines Rentenanspruchs bei Auswanderung. Das Gegenteil kann dem Schreiben der Kontrollkommission (BE) - Manpower Division vom 1. April 1947 - MP/SI/42007/22 - Betr. Zahlung an im Ausland wohnende Personen (Arbeitsblatt für die britische Zone 1947 S. 233) entnommen werden, die folgenden Wortlaut hat:
|
"1. |
|
Die §§ 615 Abs. 1 Nr. 3 und 1282 RVO schreiben vor, daß Renten der Unfall- und Rentenversicherung an berechtigte Ausländer, die im Ausland wohnen, nur gezahlt werden dürfen, wenn diese sich nicht freiwillig im Ausland aufhalten. |
|
2. |
|
Es ist vorgeschlagen worden, daß solange, bis wieder Geldüberweisungen nach dem Ausland möglich sind, Erlaubnis erteilt werden sollte, die Renten der zu dieser Kategorie gehörigen Personen an ihre gesetzlichen Vertreter in der britischen Zone zu zahlen. |
|
3. |
|
Eine Entscheidung in dieser Angelegenheit sollte u. E. auch alle im Ausland lebenden deutschen Staatsangehörigen einschließen, die Anspruch auf eine Sozialversicherungsrente haben. |
|
4. |
|
Die Antwort auf diese Frage dürfte in dem Gesetz Nr. 53 über Devisen-Bewirtschaftung Artikel 1 Abschn. 2 (a) enthalten sein, das vorschreibt: Alle Transaktionen, mit Ausnahme der von oder im Auftrage der Militärregierung genehmigten, sind verboten, wenn sie folgendes zum Gegenstand haben oder sich darauf beziehen: |
"Eigentum, gleichgültig wo es sich befindet, wenn die Transaktion zwischen einer Person in Deutschland und einer außerhalb Deutschlands stattfindet oder sich darauf bezieht."
|
5. |
|
Demgemäß muß jede außerhalb Deutschlands lebende Person, die ihre Rente an einen gesetzlichen Vertreter in Deutschland gezahlt zu haben wünscht, zuerst eine Genehmigung der Finanzdivision, Exchange Control Section, haben. |
|
6. |
|
In gleicher Weise ist eine Genehmigung im Falle der Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen durch eine Person in Deutschland für eine außerhalb Deutschlands wohnende Person notwendig." |
Eindeutig wird in diesem Schreiben u. a. vom Fortbestand des Rentenanspruchs eines im Ausland lebenden deutschen Staatsangehörigen ausgegangen. Die Zahlung von Renten ins Ausland war ersichtlich ein Devisenproblem, das nur auftreten konnte, wenn der Rentenanspruch als solcher ungeschmälert bestand.
Die von der Revision behauptete Rechtsfolge des Verlustes des Stammrechts durch die Auswanderung kann auch nicht aus den Vorschriften des Fremdrentengesetzes vom 7. August 1953 hergeleitet werden. Dieses Gesetz hat zwar in den §§ 8 und 9 erstmalig die Gewährung von Leistungen an Berechtigte im Ausland bundeseinheitlich geregelt. Es hat aber das bis zu seinem Inkrafttreten geltende Recht für die Vergangenheit nicht geändert (vgl. § 20 Abs. 2 des Fremdrentengesetzes), so daß nur die Vorschriften der RVO in der 1948 in der britischen Zone geltenden Fassung und der oben mitgeteilte § 1281 Satz 1 RVO a. F. maßgebend sind.
Die Beklagte vermag ihre Auffassung auch nicht mit Erfolg mit dem Urteil des BSG vom 18. Mai 1966 - 11/1 RA 132/63 - (BSG 25, 20 = SozR Nr. 15 aaO), auf das sie sich beruft, zu belegen. Schon die Ausgangslage des dort entschiedenen Falles ist eine andere: Die Klägerin jenes Verfahrens hatte ursprünglich ihren Wohnsitz in der SBZ und verlegte ihn 1956 in die Bundesrepublik. Das BSG hat damals den Grundsatz unterstrichen, daß ein Anspruch auf Witwenrente nur dann wiederauflebt, wenn durch die Wiederverheiratung ein Witwenrentenanspruch weggefallen ist, der auf Vorschriften des Reichs- oder Bundesrechts beruht hat und von Versicherungsträgern im Bundesgebiet zu erfüllen gewesen ist; es hat aber diese Voraussetzungen verneint, wenn bis zur Wiederverheiratung ein Anspruch auf Witwenrente nur nach dem Recht der SBZ bestanden hat. Wie oben dargelegt worden ist, hat aber in dem hier zu entscheidenden Falle der durch die Wiederheirat weggefallene Anspruch auf Auszahlung der Witwenrente sich aus dem in der Bundesrepublik anzuwendenden Recht ergeben.
Bedenken gegen das Ergebnis können schließlich auch nicht aus dem Urteil des BSG vom 17. November 1964 - 5 RKn 110/63 - (SozR Nr. 1 zu § 83 RKG) hergeleitet werden, das sich mit den Voraussetzungen einer Witwenrentenabfindung befaßt und, ausgehend von dem Gedanken, daß die Abfindung die durch die Heirat verlorengehenden Rentenzahlungen, also tatsächliche Einkommens- oder Vermögenswerte, ersetzen soll, ausspricht, daß ruhende oder auch nur teilweise ruhende Witwenrentenansprüche, gleichgültig aus welchem Grunde ihr Ruhen eingetreten war, wegen des dann fehlenden "realen Vermögenswertes" keine Grundlage für eine Witwenrentenabfindung bieten. Dies ist im Falle einer Witwenrentenabfindung ohne weiteres nach der Natur der Sache einsichtig. Diese Gedanken lassen sich aber nicht auf den Fall des Wiederauflebens einer Witwenrente übertragen, weil sonst die auch von der Beklagten gebilligte tragende Unterscheidung zwischen dem Anspruch dem Grunde nach (Stammrecht) und den daraus folgenden Einzelleistungen aufgegeben werden würde.
Die Beklagte hat daher der Klägerin vom 1. Mai 1969 ab - das in der Urteilsformel des angefochtenen Urteils enthaltene Datum: 1. Mai 196 8 dürfte ein berichtigungsfähiger Schreibfehler sein - die wiederaufgelebte Witwenrente ungekürzt zu zahlen, da die Beklagte nichts dazu vorgetragen hat, daß ein infolge Auflösung der Zweitehe erworbener neuer Versorgungs-, Unterhalts- oder Rentenanspruch nach § 1291 Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz RVO anzurechnen wäre.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes und dient der Klarstellung.
Fundstellen