Leitsatz (amtlich)
Zeiten dauernder Invalidität (RVO § 1253 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1942-06-22) "unterbrechen" nicht eine versicherungspflichtige Beschäftigung; sie sind keine Ausfallzeiten iS von RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 1 (Fassung: 1965-06-09).
Normenkette
RVO § 1253 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1942-06-22, § 1259 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. August 1974 und des Sozialgerichts Karlsruhe vom 27. Juni 1973 werden aufgehoben. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 8. Dezember 1971 wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Es ist umstritten, ob die Zeit von September 1940 bis Ende 1952, in der der Kläger an Lungen-Tbc erkrankt war, bei der Berechnung seines Altersruhegeldes als Ausfallzeit rentensteigernd zu berücksichtigen ist.
Der 1906 geborene Kläger, österreichischer Staatsangehöriger, nahm 1934 in Deutschland eine versicherungspflichtige Beschäftigung auf. 1936 erkrankte er an Lungen-Tbc und wurde 1937 einige Monate in Heilstätten behandelt. Dann war er wieder versicherungspflichtig beschäftigt. 1940 trat von neuem eine Lungen-Tbc auf. Der Kläger wurde deswegen bis Mitte 1953 stationär in verschiedenen Heilstätten behandelt. Er bezog bis September 1940 Krankengeld. Er nahm einen im Oktober 1940 gestellten Antrag auf Gewährung von Invalidenrente zurück, weil die Wartezeit nicht erfüllt war. Vom 1. Januar 1953, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des ersten deutsch-österreichischen Sozialversicherungsabkommens, bis zum 30. Juni 1953, als er wieder erwerbsfähig geworden war, erhielt der Kläger Invalidenrente (Bescheid vom 10. Januar 1957). Von August 1953 bis August 1971 war er wieder versicherungspflichtig beschäftigt.
Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 8. Dezember 1971 das Altersruhegeld. Darin ist die Zeit vom 7. September 1940 bis 31. Dezember 1952 nicht berücksichtigt. Der Kläger meint, diese Zeit sei als Ausfallzeit wegen Arbeitsunfähigkeit anzurechnen (§ 1259 Abs 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung - RVO -). Die Beklagte hingegen ist der Auffassung, der Kläger sei in dieser Zeit invalide und demgemäß nach § 1236 RVO aF versicherungsfrei gewesen; er hätte nicht wirksam Beiträge zur Rentenversicherung entrichten können.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verpflichtet, die umstrittene Zeit als Ausfallzeit anzurechnen (Urteil vom 27. Juni 1973). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 22. August 1974).
Das LSG hat die Voraussetzungen des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO als erfüllt angesehen und im wesentlichen sinngemäß ausgeführt, es sei unerheblich, ob der Versicherte während einer Arbeitsunfähigkeit Beiträge nicht habe entrichten dürfen, weil er auch invalide und damit versicherungsfrei gewesen sei. Die mit Wirkung vom 1. Juli 1965 eingefügte Vorschrift des § 1259 Abs 1 Nr 6 RVO, wonach Zeiten des Bezugs einer Invalidenrente vor Vollendung des 55. Lebensjahres Ausfallzeiten seien, beweise, daß die rechtliche Möglichkeit, Versicherungsbeiträge zu entrichten, nicht zum Begriff der Ausfallzeit gehöre und daß die Invalidität nicht grundsätzlich eine Berücksichtigung dieses Zeitraums als Ausfallzeit ausschließe. Die versicherungspflichtige Tätigkeit des Klägers sei durch die Lungen-Tbc in der umstrittenen Zeit nur unterbrochen, aber nicht beendet gewesen; denn der Kläger sei von August 1953 an wieder versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Dies ergebe eine rückschauende Betrachtung, der sich der Senat anschließe, im Gegensatz zu einer vorausschauenden Betrachtungsweise. Was für Rentenbezugszeiten gelte, müsse auch für Zeiten gelten, in denen die gesundheitliche Leistungsfähigkeit zwar in einem für eine Rentengewährung erforderlichen Ausmaß eingeschränkt gewesen sei, eine Rente jedoch aus sonstigen Gründen nicht habe gewährt werden können.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die auf die Anrechnung einer Ausfallzeit vom 7. September 1940 bis 31. Dezember 1952 gerichtete Klage abzuweisen. Sie führt aus, ein nach Eintritt der Invalidität liegender Sachverhalt könne nur als Ausfallzeit gewertet werden, wenn während dieser Zeit Pflicht- oder freiwillige Beiträge zur Invalidenversicherung hätten entrichtet werden können (§ 1236 Abs 1, § 1443 RVO aF). Die Anrechnung von Ausfallzeiten iS des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO solle einen Beitragsausfall ausgleichen, soweit der Versicherte wegen Arbeitsunfähigkeit eine Beitragszeit nicht habe zurücklegen können. Wenn er aus rechtlichen Gründen eine Beitragszeit nicht habe zurücklegen können, sei diese Zeit auch keine Ausfallzeit.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, daß die Zeit von 1940 bis 1952 bei seinem Altersruhegeld rentensteigernd angerechnet wird. In der umstrittenen Zeit war seine versicherungspflichtige Beschäftigung nicht unterbrochen, sondern beendet; denn er war nicht vorübergehend, sondern dauernd invalide iS des § 1253 Abs 1 Nr 1 RVO aF.
Nach § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO sind Zeiten, in denen eine versicherungspflichtige Beschäftigung durch eine infolge Krankheit bedingte Arbeitsunfähigkeit mindestens einen Kalendermonat unterbrochen ist, Ausfallzeiten.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist entscheidend, ob der Zustand der "Arbeitsunfähigkeit" ein dauernder oder ein vorübergehender Zustand ist (vgl SozR Nr 20, 36, 55 zu § 1259 RVO; Urteile vom 26. September 1974 - 5 RJ 140/72, vom 13. März 1975 - 12 RJ 346/74 in SozR 2200 § 1259 Nr 6 - und vom 30. Juli 1975 - 4 RJ 351/74). Diese Unterscheidung ist durch den in § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO verwendeten Begriff "unterbrochen" bedingt. Er bedeutet zunächst, daß die Arbeitsunfähigkeit einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachfolgt; er beinhaltet weiter aber auch, daß die Fortsetzung der versicherungspflichtigen Beschäftigung nach Wegfall der Arbeitsunfähigkeit in absehbarer Zeit in Aussicht genommen und möglich ist, auch wenn es im Einzelfall wider Erwarten zu einer solchen Fortsetzung nicht kommt (vgl BSG 16, 120, 122). Diese Auslegung des Begriffs der "Unterbrechung" in § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO wird durch die übrigen Unterbrechungstatbestände in Nr 2, 2a und 3 des § 1259 Abs 1 RVO bekräftigt. Die dort aufgeführten Tatbestände der Schwangerschaft und des Wochenbetts, des Schlechtwettergeldbezugs und der Arbeitslosigkeit sind ihrem Wesen nach "vorübergehende" Zustände; bei Arbeitslosigkeit ergibt sich dies aus § 101 Abs 1 Satz 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG), wonach "arbeitslos" ein Arbeitnehmer ist, der "vorübergehend" nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht.
Nach dem bis zu den Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetzen vom 23. Februar 1957 bestehenden Recht galt ein Versicherter, der invalide geworden war, als aus dem Erwerbsleben ausgeschieden. Sein Arbeitsleben galt als beendet. Ein weiterer Versicherungsfall konnte für ihn nicht mehr eintreten. Diese Auffassung von der Beendigung des Arbeitslebens bei Invalidität kommt insbesondere darin zum Ausdruck, daß eine Person, die invalide war und dennoch eine an sich versicherungspflichtige Beschäftigung aufnahm, versicherungsfrei blieb (§ 1236 RVO aF). Wer nach altem Recht als "ausgeschieden" aus dem Erwerbsleben galt, hatte damals eine Beschäftigung nicht "unterbrochen". Dies gilt sowohl bei vorausschauender als auch rückschauender Betrachtungsweise.
Die Invalidität des Klägers während der stationären Heilbehandlung in der umstrittenen Zeit von 1940 bis 1952 war eine dauernde iS des § 1253 Abs 1 Nr 1 RVO aF. Eine "vorübergehende" Invalidität (§ 1253 Abs 1 Nr 2 RVO aF) lag nur vor, wenn begründete Aussicht ihrer Beseitigung in absehbarer Zeit bestand (vgl Kommentar des Verbandes der Rentenversicherungsträger zum 4. und 5. Buch der RVO, 5. Aufl, Anm 2 zu § 1253 RVO aF). Dafür bestehen jedoch hier keine Anhaltspunkte. Der Kläger galt deshalb sowohl vorausschauend wie rückschauend als aus dem Erwerbsleben ausgeschieden; sein Arbeitsleben galt mit Beginn der dauernden Invalidität im Jahre 1940 als beendet, nicht nur als unterbrochen. Für die Auslegung des Begriffs der "Unterbrechung" einer versicherungspflichtigen Beschäftigung ist unerheblich, daß der Kläger während der umstrittenen Zeit mangels Erfüllung der Wartezeit keine Invalidenrente erhalten konnte.
Eine Ausfallzeit nach § 1259 Abs 1 Nr 6 RVO liegt nicht vor, weil der Kläger in der umstrittenen Zeit zur Vollendung seines 55. Lebensjahres keine Invalidenrente bezogen hat. Nr 6a aaO steht in innerem Zusammenhang mit Nr 5 des § 1259 Abs 1 RVO. Die Ausfallzeit nach Nr 5 aaO wahrt den Besitzstand, wenn in einem früheren Rentenbescheid neuen Rechts eine Zurechnungszeit rentensteigernd berücksichtigt wurde (§ 1260 RVO) und nach Wegfall dieser Rente bei Eintritt eines späteren neuen Versicherungsfalles die dann zu gewährende Rente niedriger ist, weil keine oder nur eine kürzere Zurechnungszeit berücksichtigt werden kann. Diese Beeinträchtigung wird durch Anrechnung der früheren Rentenbezugszeit als Ausfallzeit verhindert. Durch Nr 6 aaO sind Versicherte, die vor Vollendung des 55. Lebensjahres unter der Geltung des alten Rechts Rente wegen Invalidität bezogen hatten, den durch Nr 5 aaO begünstigten Rentenbeziehern gleichgestellt, obwohl das alte Recht keine Zurechnungszeit kannte. Die Einfügung der Nr 6 aaO durch Art 1 § 1 Nr 22 Buchst e Rentenversicherungsänderungsgesetz (RVÄndG) wurde in der Bundesrats-Druck 319/64 und der Bundestags-Druck IV 2572 zu Art 1 § 1 Nr 13 Buchst d des Entwurfs des RVÄndG damit begründet, daß es sich um Zeiten eines Rentenbezugs handele, für die nach neuem Recht eine Zurechnungszeit zu gewähren wäre. Nr 6 aaO erstrebt also eine gewisse Gleichbehandlung von Rentenbeziehern alten und neuen Rechts; der Kläger hat aber, weil die Wartezeit nicht erfüllt war, eine Rente nicht bezogen.
Das angefochtene Urteil und das Urteil des SG waren somit aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Fundstellen