Entscheidungsstichwort (Thema)

Weg zum dritten Ort

 

Orientierungssatz

1. Für den Versicherungsschutz auf dem Weg von dem Ort der Tätigkeit zu einem anderen Ort als die Wohnung ist nicht ausschlaggebend, welcher Zweck mit dem Aufenthalt am dritten Ort verfolgt wird und ob der dritte Ort eine Art von Wohnungsersatz bietet. Entscheidend ist vielmehr, daß der Weg von dem Ort der Tätigkeit zu einem anderen Ort als die Wohnung rechtlich wesentlich von dem Vorhaben geprägt ist, von der versicherten Tätigkeit zurückzukehren (vgl BSG 1984-08-30 2 RU 61/83).

2. Diese Voraussetzung ist nicht gegeben, wenn es sich bei dem Weg vom Ort der Tätigkeit zu einem dritten Ort und von dort zur eigenen Wohnung um einen rechtlich einheitlichen Gesamtweg handelt, der unter dem Gesichtspunkt des Umweges oder der Unterbrechung zu beurteilen wäre. Die - beabsichtigte - Dauer des Aufenthalts am dritten Ort muß deshalb so erheblich sein, daß der - beabsichtigte - weitere Weg von dort zur eigenen Wohnung eine selbständige Bedeutung erhält und somit nicht mehr in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht. Darüber hinaus muß der nicht nach der eigenen Wohnung angetretene Weg grundsätzlich in einem unter Berücksichtigung aller Umstände angemessenen Verhältnis zu dem üblichen Weg des Versicherten von dem Ort der Tätigkeit stehen.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 12.10.1983; Aktenzeichen L 4 U 27/82)

SG Lübeck (Entscheidung vom 09.02.1982; Aktenzeichen S 7 U 218/80)

 

Tatbestand

Der im Jahre 1960 geborene Kläger zog sich am 19. März 1980 durch einen Unfall ua eine Querschnittslähmung in Höhe des 9. und 10. Brustwirbelkörpers zu. Er wohnte in L., war Auszubildender für den Beruf eines Elektroanlageninstallateurs in G. und Schüler der Kreisberufsschule in M. (rund 35 - 40 km nördlich von L.. Gegen 14.30 Uhr stürzte er mit seinem Motorrad nach beendetem Unterricht von der Schule kommend auf der nach N. (rund 10 km nordwestlich von M.) führenden Straße.

Der Beklagte lehnte eine Entschädigung ab, da der Kläger auf dem Abweg in Richtung N., um dort an der Geburtstagsfeier seiner Tante teilzunehmen, nicht unter Versicherungsschutz gestanden habe (Bescheid vom 27. Mai 1980). Den Widerspruch wies der Beklagte zurück. Die schlechten Witterungsverhältnisse am Unfalltag seien kein mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängender Grund für die Wahl des kürzeren Weges, da der Kläger entweder sein Fahrverhalten den Wetterverhältnissen hätte anpassen oder ein öffentliches Verkehrsmittel hätte benutzen können (Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 1980).

Das Sozialgericht (SG) hat nach Beweiserhebung antragsgemäß den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger aufgrund des Arbeitsunfalls vom 19. März 1980 die gesetzlichen Leistungen zu gewähren (Urteil vom 9. Februar 1982). Es hat angenommen, der zunächst von der Wohnung wegführende Weg nach N. mit dem Motorrad (10 km) und der weitere Weg von dort, wie beabsichtigt, mit dem Pkw seiner Mutter nach Hause sei wegen der schlechten Wetterverhältnisse erheblich geeigneter gewesen als der übliche Weg, auf dem der Kläger 40 km mit dem Motorrad habe zurücklegen müssen und sich damit einer vierfach erhöhten Gefahr ausgesetzt hätte. Daß der Kläger zugleich in N. seiner Tante zum Geburtstag habe gratulieren wollen, bewirke nicht, daß dem objektiv geeigneten Weg nach Hause eigenwirtschaftliche Zwecke zugrundelägen. Das SG hat die Berufung zugelassen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Beklagten nach weiterer Beweiserhebung das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. Oktober 1983). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Trotz Erschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten habe sich nicht feststellen lassen, daß der Kläger sich im Unfallzeitpunkt auf einem mit dem Besuch der Berufsschule zusammenhängenden Weg von der Schule nach Hause befunden habe (§§ 548, 539 Abs 1 Nr 14 Buchst c, 550 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-). Grundsätzlich bestehe nur auf dem unmittelbaren Weg zwischen dem Ort der Tätigkeit und der (eigenen) Wohnung Versicherungsschutz. In bestimmten Fällen hätten zwar Rechtsprechung und Lehre Ausnahmen von dem Erfordernis der Unmittelbarkeit zugelassen, nicht jedoch von dem Erfordernis, daß Ziel des Weges die Wohnung sein müsse und der Versicherte gehalten sei, dieses Ziel ohne größere Unterbrechungen zu erreichen. Der Kläger habe jedoch in N. vor der beabsichtigten Weiterfahrt nach Hause im Pkw seiner Mutter zunächst den Geburtstag seiner Tante feiern und damit einen längeren Zwischenaufenthalt einlegen wollen, durch den der Zusammenhang der Fahrt mit dem Schulbesuch gelöst worden wäre. Zudem sei der Kläger in einer seinem üblichen Heimweg entgegengesetzten Richtung gefahren. Zur Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes müßten für einen solchen Abweg zwingende, mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängende Gründe vorliegen. Es sei aber fraglich, ob die Witterungsverhältnisse, wie der Kläger behaupte, eine Änderung der Fahrtrichtung erzwungen hätten, da es allein folgerichtig gewesen wäre, bei erschwerten Witterungsbedingungen ein öffentliches Verkehrsmittel für die Fahrt von M. nach L. zu benutzen. Jedenfalls scheitere der erhobene Anspruch daran, daß die Behauptung des Klägers, er habe wegen der am Unfalltag herrschenden Witterung nach N. fahren wollen, nicht "beweisbar" sei. Es habe sich somit nicht feststellen lassen, daß zwingende, mit dem Schulbesuch zusammenhängende Umstände den Kläger veranlaßt oder wenigstens teilweise mitveranlaßt hätten, sich auf einen der erforderlichen Fahrtroute entgegengerichteten Weg zu begeben. Der Kläger sei beweisfällig geblieben, die Klage deshalb abzuweisen.

Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 550 Abs 1 RVO. Nach seiner Auffassung ist der Versicherungsschutz im Unfallzeitpunkt nicht davon abhängig, daß ihn "zwingende" Umstände zu der Fahrt nach N. veranlaßt haben (Urteil des LSG, S 11). Nach der Rechtsprechung des BSG (ua BSGE 52, 38, 39) reiche vielmehr ein sachgerechter, mit der versicherten Tätigkeit vereinbarer Grund aus, den Weg von der Schule zu einem anderen Ort als der Wohnung zurückzulegen. Das stürmische Wetter am Unfalltag sei objektiv ein sachgerechter Grund gewesen, mit dem Motorrad den nur 10 km langen Weg nach N. und von dort aus mit dem Pkw seiner Mutter nach Hause zu fahren.

Der Kläger beantragt sinngemäß, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 9. Februar 1982 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Entschädigungsleistung für die Folgen des Unfalls, den er am 19. März 1980 erlitten hat.

Als Lernender während der beruflichen Ausbildung in einer berufsbildenden Schule war der Kläger nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst c RVO gegen Arbeitsunfall versichert. Im Unfallzeitpunkt war er nach der Beendigung des Unterrichts der Kreisberufsschule M., die er als Auszubildender für den Beruf eines Elektroanlageninstallateurs besuchte, mit seinem Motorrad auf dem Weg zur Wohnung seiner Tante in N., etwa 10 km nordwestlich von M.. Der damals 19 Jahre alte Kläger wohnte bei seinen Eltern in L., etwa 35 bis 40 km südlich von M., und war am Unfalltag von dort aus zur Schule gefahren. Entgegen der vom LSG geteilten Auffassung des Beklagten stand der Kläger im Unfallzeitpunkt unter Versicherungsschutz. Nach dem vom LSG aufgrund des Ermittlungsergebnisses festgestellten Sachverhalt war der Unfall, durch den der Kläger eine Querschnittslähmung erlitten hat, ein Arbeitsunfall (§§ 548, 550 Abs 1 RVO), unabhängig davon, ob den Kläger - nach der Überzeugung des LSG nicht erwiesene ("nicht beweisbare") - zwingende, mit dem Schulbesuch zusammenhängende Umstände nach der Beendigung des Unterrichts veranlaßt oder wenigstens mitveranlaßt haben, nach N. statt direkt nach L. zu fahren.

Nach § 550 Abs 1 RVO gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit der Tätigkeit, bei welcher der Verletzte gegen Arbeitsunfall versichert ist (§§ 539, 540, 543 bis 545 RVO), zusammenhängenden Weg "nach und von dem Ort der Tätigkeit". Nur der Ort der Tätigkeit (Arbeitsstätte, Schule usw) ist hiermit als Ende des Hinweges und Ausgangspunkt des Rückweges im Gesetz festgelegt. Der Hinweg zum Ort der Tätigkeit muß infolgedessen nicht vom eigenen Wohnbereich aus angetreten werden und der Rückweg nicht dort enden (s hierzu Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl, S 485m, 485r ff mit Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum). Zwar besteht der Versicherungsschutz nicht schlechthin auf jedem Weg, der zum Ort der Tätigkeit hinführt oder von ihm aus begonnen wird, vielmehr muß das Zurücklegen des Weges mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängen, dh mit ihr in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang stehen (s BSG SozR 2200 § 550 Nr 57 mwN). Auf dem Weg von der Arbeitsstätte (Ausbildungsstätte, Schule) zur eigenen Wohnung ist grundsätzlich ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gegeben, weil der Versicherte diesen Weg wegen der versicherten Tätigkeit zurücklegen muß. Dem nach § 550 Abs 1 RVO erforderlichen Kausalzusammenhang steht hierbei nicht entgegen, daß für die Zurücklegung des Weges von der Arbeitsstätte dem privaten Bereich zuzurechnende eigenwirtschaftliche Gründe mitbestimmend sind, zB das Bestreben, an dem Endpunkt des Weges zur Feierabendgestaltung überzugehen, eine Mahlzeit einzunehmen uä (s BSG Urteil vom 30. August 1984 - 2 RU 61/83 - mwN; Brackmann aaO S 485s). Der Weg von dem Ort der Tätigkeit zu einem anderen Ort als die Wohnung ist auch insoweit unter dem von der Rechtsprechung mit Zustimmung des Schrifttums entwickelten - noch aufzuzeigenden weiteren - Voraussetzungen unfallversicherungsrechtlich dem Weg zur Wohnung gleichgestellt (BSG aaO; Benz, BG 1983, 721, 728). Es ist nicht ausschlaggebend, welcher Zweck mit dem Aufenthalt am dritten Ort verfolgt wird und ob der dritte Ort eine Art von Wohnungsersatz bietet (s Benz aaO). Entscheidend ist vielmehr, daß der Weg von dem Ort der Tätigkeit zu einem anderen Ort als die Wohnung - wie hier - rechtlich wesentlich von dem Vorhaben geprägt ist, von der versicherten Tätigkeit zurückzukehren (BSG aaO; BSG Urteile vom 19. Oktober 1982 - 2 RU 7/81 und 67/81 -; Brackmann aaO). Diese Voraussetzung ist nicht gegeben, wenn es sich bei dem Weg vom Ort der Tätigkeit zu einem dritten Ort und von dort zur eigenen Wohnung um einen rechtlich einheitlichen Gesamtweg handelt, der unter dem Gesichtspunkt des Umweges oder der Unterbrechung zu beurteilen wäre. Die - beabsichtigte - Dauer des Aufenthalts am dritten Ort muß deshalb so erheblich sein, daß der - beabsichtigte - weitere Weg von dort zur eigenen Wohnung eine selbständige Bedeutung erhält und somit nicht mehr in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht (s Brackmann aaO S 485r I mN). Darüberhinaus muß der nicht nach der eigenen Wohnung angetretene Weg grundsätzlich in einem unter Berücksichtigung aller Umstände angemessenen Verhältnis zu dem üblichen Weg des Versicherten von dem Ort der Tätigkeit stehen (s Brackmann aaO S 485r II mwN). Unabhängig davon, ob sich der Kläger - auch - durch die Witterungsverhältnisse veranlaßt gesehen hat, nach N. zu fahren, wollte er nach den Feststellungen des LSG dort jedenfalls an der Geburtstagsfeier seiner Tante teilnehmen und zu diesem Zweck "einen längeren Zwischenaufenthalt einlegen" (S 8 des Urteils). Die beabsichtigte Weiterfahrt von dort nach Hause erhält damit eine rechtlich von dem Weg nach N. zu trennende selbständige Bedeutung. Auch die Angemessenheit des Weges nach N. (etwa 10 km) im Vergleich zum Weg nach L. (etwa 35 bis 40 km) ist - eindeutig - gegeben.

Da hiernach der Kläger im Unfallzeitpunkt unter Versicherungsschutz stand und einen Arbeitsunfall mit Verletzungen erlitten hat, die einen Entschädigungsanspruch begründen, ist auf seine Revision die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664326

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge