Leitsatz (redaktionell)
Krankenhauspflege bei nicht heilbaren Krankheiten (Pflegefällen).
1. Für eine Ermessensentscheidung iS des RVO § 184 bleibt dann kein Raum mehr, wenn die Ablehnung von Krankenhauspflege unter jedem denkbaren Gesichtspunkt einen Ermessensmißbrauch darstellen würde.
Ob eine Krankenhauspflege erforderlich ist, richtet sich nach der medizinischen Notwendigkeit; es kommt dabei nicht entscheidend darauf an, ob nach der Art der Erkrankung eine Gesundung oder Besserung des Krankheitszustandes zu erwarten ist. Hat eine KK die Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung bejaht und deren Kosten übernommen, dann bleibt sie an diese Entscheidung so lange gebunden, als die Krankenhauspflege aus medizinischen Gründen erforderlich ist; sie darf erst dann beendet werden, wenn die weitere Behandlung dadurch nicht gefährdet würde.
2. Ist eine ausreichende Behandlung und Pflege des Erkrankten in seiner Familie nicht möglich, so darf die KK die Gewährung von Krankenhauspflege nicht abbrechen (vgl RVO § 184 Abs 3 Nr 1, Abs 4).
Normenkette
RVO § 184 Abs. 3 Nr. 1 Fassung: 1924-12-15, Abs. 4 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 17. Januar 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsvorfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger verlangt von der beklagten Krankenkasse Ersatz der Kosten, die ihm in der Zeit vom 8. Mai bis zum 17. September 1964 für eine Krankenhausbehandlung seiner bei der Beklagten versicherten Mutter entstanden sind; die Beklagte hatte für diese Zeit die Übernahme der Krankenhauskonten mit der Begründung abgelehnt, es sei vom medizinischen Standpunkt aus keine stationäre Behandlung erforderlich gewesen.
Die Mutter des Klägers, Frau L. B. war als Rentenempfängerin bei der Beklagten pflichtversichert. Am 17. Oktober 1963 wurde sie mit der Diagnose "Myocardschaden, Lebercirrhose", in das DRK-Krankenhaus Jungfernheide eingewiesen. Am 23. Oktober 1963 stellte sich heraus, daß sie an einem Eierstockkrebs litt. Die Beklagte übernahm die Kosten für die dritte Pflegeklasse, nachdem das DRK-Krankenhaus mehrmals bescheinigt hatte, daß weitere stationäre Behandlung notwendig sei.
In einem Antrag zur weiteren Kostenübernahme vom 29. April 1964 erklärte das DRK-Krankenhaus, trotz intensiver Behandlung mit Cytostatica intravenös, peroral und interperitoneal habe nur eine vorübergehende Besserung erzielt worden können. Die Frage, warum die Entlassung in ambulante Behandlung noch nicht möglich sei, beantwortete das Krankenhaus wie folgt:
"Jetzt wieder zunehmende Verschlechterung, besonders mit erneuten Ascitesbildung und Verschlechterung des Allgemeinzustandes, tägliche Gaben von Eypnotica."
Die Frage, ob ein Pflege- oder Hospitalfall vorliege, wurde verneint. - Auf der Rückseite dieses Antrages vermerkte der Beratungsarzt der Beklagten: "Pflegefall". Die Beklagte verständigte daraufhin das DRK-Krankenhaus telefonisch, daß vom 7. Mai 1964 an die Kosten nicht mehr übernommen würden. Dies teilte sie auch in einem Schreiben vom 6. Mai 1964 Frau L. B. mit.
Frau B. blieb weiter in stationärer Behandlung. Sie wurde am 17. September 1964 aus dem DRK-Krankenhaus entlassen und mit einem Krankenwagen in ihre Wohnung transportiert. Die Kosten für den Krankenhausaufenthalt vom 7. Mai bis zum 17. September 1964 und die Transportkosten trug ihr Sohn, der Kläger, für sie. Am 28. November 1964 wurde sie wegen hochgradiger Kreislaufschwäche bei Ovarial-Carcinom wieder in das DRK-Krankenhaus eingeliefert; dort verstarb sie am 29. November 1964. Die Kosten dieses Krankenhausaufenthaltes übernahm die Beklagte.
Der Kläger verlangt als Rechtsnachfolger seiner verstorbenen Mutter, ihm die Krankenhauskosten für die Zeit vom 8. Mai bis zum 17. September 1964 für die dritte Pflegeklasse mit insgesamt 3.623,70 DM zuzüglich Transportkosten von 15,10 DM zu erstatten. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 11. Februar 1965 ab, erklärte sich aber bereit, für jeden Kalendertag der Behandlung den Abgeltungsbetrag von 1,-- DM mit insgesamt 133,-- DM nach Abschnitt II des Erlasses des früheren Reichsarbeitsministers vom 2. November 1943 (AN 194:3, 485) zu vergüten. Der Widerspruch wurde am 27. April 1965 zurückgewiesen.
Das Sozialgericht (SG) hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 8. Mai bis zum 17. September 1964 satzungsgemäß die für seine verstorbene Mutter verauslagten Krankenhaus- und Transportkosten abzüglich des bereits gezahlten Betrages von 133,-- DM zu erstatten. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Dem Kläger stehe als Erbe seiner Mutter ein Anspruch auf Kostenersatz zu, weil die Beklagte zu Unrecht eine Krankenhauspflege als Sachleistung nicht erbracht habe (BSG 25, 146). Der Begriff des Pflegefalles, den die Beklagte annehme, sei aus der Reichsversicherungsordnung (KVO) nicht herzuleiten. Vielmehr sei auch eine nur auf die Linderung von Beschwerden gerichtete Behandlung Teil der ärztlichen Versorgung (§§ 368e, 182 Abs. 2 RVO), und zwar auch bei einem Dauerleiden. Denn zur ärztlichen Behandlung gehöre es auch, Schmerzen und Beschwerden zu lindern. Erfordere aber ein Leidenszustand eine derartige Behandlung, so sei er Krankheit im Sinne des § 182 RVO mit der Folge eines Anspruchs auf Krankenhilfe. Die Krankheit der Mutter des Klägers habe auch über den 8. Mai 1964 hinaus jedenfalls zur Linderung von Schmerzen und Beschwerden fortlaufend ärztlicher Behandlung bedurft. Die Frage, ob die Beklagte ihre Leistungspflicht in Form der ambulanten ärztlichen Versorgung oder der Krankenhauspflege zu erbringen habe, könne nicht losgelöst von der Tatsache beantwortet werden, daß die Mutter des Klägers seit dem 17. Oktober 1363 im DRK-Krankenhaus untergebracht war. Die Krankenkasse sei nur dann berechtigt gewesen, von der Krankenhauspflege abzugehen, wenn die Notwendigkeit dieser Leistungsform weggefallen sei. Der Abbruch der Krankenhauspflege dürfe aber nicht dazu führen, daß der Kranke an Leben und Gesundheit gefährdet werde. Auch wenn die weitere ärztliche Behandlung in der streitigen Zeit nicht unbedingt au die Kittel und Einrichtungen des Krankenhauses gebunden gewesen sei, so hätte, die Beklagte die Krankenhauspflege weitergewähren müssen, wenn die Art der Krankheit eine Behandlung oder Pflege verlangt habe, die in der Familie der Erkrankten nicht möglich gewesen sei. Es hätte gewährleistet sein müssen, daß die Mutter des Klägers täglich, zeitweilig sogar mehrmals täglich, mehrere Injektionen erhalten konnte; es hätte also etwa vier Monate hindurch ein Kassenarzt jeden Tag mindestens einen Hausbesuch machen und in beträchtlichem Ausmaße notwendige Arzneien verordnen müssen. Darüber hinaus hätte für alle übrigen Lebensbedürfnisse den Kranken gesorgt werden müssen. Dies sei aber nicht möglich gewesen, weil die Versicherte dann allein in der Wohnung geblieben wäre; ihr unverheirateter erwerbstätiger Sohn sei nicht imstande gewesen, seine schwerkranke Kutter zu pflegen, eine geeignete Pflegekraft habe nicht zur Verfügung gestanden. Erst für die Zeit nach dem 17. September 1964 sei dafür gesorgt gewesen, daß eine Pflegekraft zur Verfügung gestanden habe. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung der §§ 182 Abs. 2, 184 Abs. 1 und 4 sowie des § 368e RVO. Im einzelnen trägt sie vor:
Die Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung sei von den Ärzten übereinstimmend verneint worden; das LSG habe sich jedoch darüber hinweggesetzt, ohne die ärztlichen Ausführungen zu widerlegen. Krankenhauspflege dürfe nur so lange gewährt werden, als dies erforderlich sei. Auch wenn die Krankenkasse einmal einer Krankenhausbehandlung zugestimmt habe, sei diese Leistung nicht für alle Zeiten Pflichtleistung geworden, sondern nur so lange, als diese Behandlung tatsächlich erforderlich gewesen sei. Nach den übereinstimmenden Auffassungen aller Gutachter seien aber für die Durchführung der notwendigen Maßnahmen in der streitigen Zeit die Bedingungen eines Krankenhauses nicht mehr erforderlich gewesen. Es wäre Pflicht der Angehörigen der Kranken gewesen, für eine zweckentsprechende Überführung der Kranken in häusliche Pflege oder in ein Hospital zu sorgen; dabei sei von untergeordneter Bedeutung, wer die Kosten der notwendigen pflegerischen Betreuung trage. Die Beklagte habe daher bei der Ablehnung der Krankenhauspflege nicht willkürlich gehandelt.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Berlin vom 17. Januar 1968 und des SG Berlin vom 7. April 1966 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nicht begründet.
Die Krankenhauspflege ist nach § 184 RVO eine Ermessensleistung der Krankenkasse. Zu einer Ausübung des Ermessens ist aber nach der Rechtsprechung des Senats dann kein Raum mehr, wenn die Ablehnung der Krankenhauspflege unter jedem denkbaren Gesichtspunkt einen Ermessensmißbrauch darstellen würde (BSG 9, 232). Das war hier in der streitigen Zeit der Fall, weil bei den besonderen Umständen des Falles die Krankenhauspflege für die Zeit nach dem 7. Mai 1964 nicht abgelehnt werden durfte. In der Grundsätzlichen Entscheidung (GS) Nr. 2355 vom 17. April 1917 (AN 1917, 504 hat das Reichsversicherungsamt (RVA) zu dieser Frage ausgesprochen, einer Krankenkasse, die zunächst Krankenhauspflege gewährt habe, sei es im allgemeinen unbenommen, jederzeit hiervon abzugehen und sich auf die Leistungen nach § 182 RVO zu beschränken; der Versicherte habe aber so lange ge einen Anspruch auf Fortsetzung der Krankenhauspflege, als diese notwendig sei. In einer weiteren GE Nr. 54 56 vom 26. September 1941 (AN 1942, 31) hat das RVA an dieser Entscheidung festgehalten und weiter ausgesprochen, auch wenn die Krankheit keine weitere Krankenhauspflege nach § 184 RVO mehr erfordere, so ende die Verpflichtung der Krankenkasse zur Gewährung dieser von ihr übernommenen Leistung erst dann, wenn der Versicherte Kenntnis von der Entschließung der Krankenkasse erhalten habe, daß die Krankenhausbehandlung abzubrechen sei; die Krankenkasse bleibe für die Zeit des Anspruchs auf Krankengeld an ihre Entscheidung bezüglich einer Krankenhausbehandlung so lange gebunden, als die Fortsetzung der Krankenhauspflege notwendig sei, insbesondere so lange die Überleitung der Krankenhilfe in die Leistungen des § 182 RVO geeignet wäre, auf den Gesundheitszustand des Klägers ungünstig einzuwirken; in diesem Umfange sei dem Versicherten ein selbständiger Anspruch auf Gewährung der Krankenhauspflege zu gewähren. Dem ist für den vorliegenden Fall zuzustimmen. Bei der Frage, ob ein Krankenhausaufenthalt notwendig ist, kommt es auf die medizinische Notwendigkeit, nicht aber darauf an, ob nach der Art der Erkrankung eine Gesundung oder auch nur eine Besserung zu erwarten ist. Hat eine Krankenkasse in einen solchen Fall ihr Ermessen in dem Sinne ausgeübt, daß sie Krankenhauspflege gewährt, so ist sie daran gebunden so lange die Krankenhauspflege notwendig ist, bis eine Änderung der Verhältnisse die Krankenhauspflege nicht mehr erforderlich macht, weil der Zweck der Krankenbehandlung anderweitig erreicht werden kann. Die Krankenhauspflege darf nicht abgebrochen werden, wenn der Abbruch die weiter Behandlung gefährden würde.
Nach den Feststellungen des LSG war die Behandlung der Mutter des Klägers ziemlich umfangreich und hätte wohl täglich den Besuch eines Arztes notwendig gemacht; sie war etwa 80 Jahre alt und alleinstehend (ihr unverheirateter berufstätiger Sohn hätte sie nicht pflegen können). Unter diesen Umständen war eine Behandlung bzw. Pflege in der Familie der Erkrankten nicht möglich. In derartigen Fällen soll die Krankenkasse möglichst Krankenhauspflege gewähren (§ 184 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 RVC). Eine Beendigung der Krankenhauspflege wäre von schädigendem Einfluß auf den Gesundheitszustand der Versicherten gewesen. Hier ist es nicht angängig, die Krankheit als Pflegefall zu bezeichnen und eine weitere Betreuung abzulehnen, ehe eine ausreichende Behandlung zu Hause gesichert war. Unter diesen Umständen durfte die Beklagte in der streitigen Zeit nicht die weitere Krankenhauspflege ablehnen.
Die Revision muß daher mit der Kostenfolge aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes zurückgewiesen werden.
Fundstellen