Entscheidungsstichwort (Thema)
Bindung des Beitragsnachentrichtungsbescheides gemäß AnVNG Art 2 § 49a. Änderung der Beitragsklasse. Ermessen des Rentenversicherungsträgers. niedrige Beitragsklassen. Nachentrichtung von Beiträgen in niedrigen Beitragsklassen
Orientierungssatz
1. Es ist einem Nachentrichtungsberechtigten selbst nach dem Eintritt der Bindungswirkung des die Nachentrichtung zulassenden Bescheides noch nicht endgültig die Möglichkeit abgeschnitten, niedrigere als die in dem Bescheid festgesetzten Beiträge zu entrichten. Da es sich um eine Nachentrichtung im Wege der freiwilligen Versicherung handelt, ist der Nachentrichtungsberechtigte nicht verpflichtet, alle in dem Bescheid zugelassenen Beiträge auch tatsächlich zu entrichten. Er kann dies ganz oder teilweise unterlassen und so die tatsächliche Beitragsentrichtung seinen etwa veränderten wirtschaftlichen Möglichkeiten anpassen (vgl BSG 1980-02-22 12 RK 12/79 = SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 36).
2. Ist der Beitragsnachentrichtungsbescheid bereits bindend geworden, muß der Rentenversicherungsträger einem erneuten Antrag nicht in jedem Fall entsprechen, sondern er kann den Antrag unter Würdigung der vorgetragenen Umstände unter Umständen im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens auch ablehnen.
Normenkette
AnVNG Art 2 § 49a Abs 2 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art 2 § 51a Abs 2 Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 04.04.1979; Aktenzeichen L 4 An 75/78) |
SG Kiel (Entscheidung vom 06.09.1978; Aktenzeichen S 1 An 141/77) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger berechtigt ist, noch nach Eintritt der Bindungswirkung eines Bescheides, der für die Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) die Beitragsklassen festlegt, niedrigere Beitragsklassen zu wählen.
Durch Bescheid vom 11. Juni 1974 ließ die Beklagte auf Antrag des Klägers die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zur Angestelltenversicherung nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG zu, und zwar im Umfang von zwei Beiträgen der Klasse 800 für 1962, je zwölf Beiträgen der Klasse 1000 für 1963 und 1964, je zwölf Beiträgen der Klasse 1200 für 1965 und 1966, zwölf Beiträgen der Klasse 1400 für 1967, neun Beiträgen der Klasse 1600 für 1968 und zwölf Beiträgen der Klasse 2300 für 1973. Sie bewilligte auch die beantragte Teilzahlung.
Im Dezember 1976 überwies der Kläger einen Betrag von 4.238,-- DM und bestimmte dazu, daß dieser Betrag für sechs Beiträge der Klasse 1200 für Januar bis Juni 1965, sieben Beiträge der Klasse 2300 für Januar bis Juli 1973 und sieben Beiträge der Klasse 100 (statt der im Bescheid festgelegten Klasse 1000) für die Zeit von Juni bis Dezember 1964 verbucht werden sollte.
Die Beklagte lehnte diesen Antrag ab (Bescheid vom 30.Juni 1977), weil nach ihrer Auffassung eine Änderung von Anzahl und Höhe der Beiträge nach Eintritt der Bindungswirkung des Nachentrichtungsbescheides nicht mehr möglich sei. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 29. September 1977).
Auf die gegen diese Bescheide gerichteten Klage hat das Sozialgericht (SG) die Bescheide aufgehoben und festgestellt, daß der Kläger berechtigt ist, die Beitragsklassen unabhängig von dem Bescheid vom 11. Juni 1974 in niedrigeren Klassen zu entrichten (Urteil vom 6. September 1978). Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg (Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts -LSG- vom 4. April 1979). Das LSG hat die Auffassung vertreten, dem Bescheid über die Zulassung zur Nachentrichtung komme keine materiell-rechtliche konstitutive Bedeutung zu. Das Recht der Beitragsnachentrichtung entstehe vielmehr bereits mit der fristgerechten Antragstellung. Deshalb könne der Bescheid auch keine der Bindung fähige Feststellung über den Umfang der Nachentrichtungsberechtigung enthalten.
Mit der Revision macht die Beklagte nunmehr geltend, daß auch unter Berücksichtigung der vom erkennenden Senat im Urteil vom 22. Februar 1980 - 12 RK 12/79 - aufgestellten Grundsätze im vorliegenden Fall kein Recht des Klägers bestehe, niedrigere Beitragsklassen zu entrichten. In dem vorerwähnten Urteil sei entschieden worden, daß die Beklagte eine Herabsetzung der Beitragsklassen nicht ohne weiteres ablehnen dürfe, wenn der Berechtigte Umstände vortrage, aus denen sich eine nachträgliche Belastung durch das Festhalten am bindend gewordenen Nachentrichtungsbescheid ergebe. Diese Voraussetzung sei im vorliegenden Fall nicht gegeben. Der Kläger habe auch nicht etwas begehrt, was er sich im Nachentrichtungsantrag rechtzeitig vorbehalten habe. Im übrigen lasse aber auch das Urteil vom 22. Februar 1980 - 12 RK 12/79 - nicht hinreichend deutlich erkennen, wann und unter welchen Umständen der Antrag eines Nachentrichtungsberechtigten einer nochmaligen Prüfung zu unterwerfen sei. Es sei nicht klar, wann eine Belastung des Versicherten angenommen werden müsse, die zu einer Neubescheidung verpflichte, und es sei auch nicht klar, mit welchem Verwaltungsaufwand diese Feststellung zu treffen sei.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, daß die in dem Urteil des Senats vom 22. Februar 1980 - 12 RK 12/79 - geforderte Neubescheidung über den Wunsch eines Nachentrichtungsberechtigten, niedrigere Beiträge zu entrichten, nicht hinreichend begründet sei und durch Vorstellungen von einem "Amtshandeln" beeinflußt zu sein scheine, die der Kläger bereits der Beklagten als heute überholtes "obrigkeitliches Selbstverständnis" vorgehalten habe.
Wenn man aber ein solches "Nachverfahren" für erforderlich halte, so sei der Beklagten darin zuzustimmen, daß die Voraussetzungen genauerer Präzisierung bedürften.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist teilweise begründet.
Sie ist unbegründet, soweit die Beklagte sich gegen die Aufhebung ihrer Bescheide wendet. Wie der Senat bereits im Urteil vom 22. Februar 1980 - 12 RK 12/79 - entschieden hat, ist dem Nachentrichtungsberechtigten selbst nach dem Eintritt der Bindungswirkung des die Nachentrichtung zulassenden Bescheides noch nicht endgültig die Möglichkeit abgeschnitten, niedrigere als die in dem Bescheid festgesetzten Beiträge zu entrichten. Da es sich um eine Nachentrichtung im Wege der freiwilligen Versicherung handelt, ist der Nachentrichtungsberechtigte nicht verpflichtet, alle in dem Bescheid zugelassenen Beiträge auch tatsächlich zu entrichten. Er kann dies ganz oder teilweise unterlassen und so die tatsächliche Beitragsentrichtung seinen etwa veränderten wirtschaftlichen Möglichkeiten anpassen. Auch der Kläger hätte deshalb von der Entrichtung eines Teils der in dem Bescheid genannten Beiträge absehen und damit die gesagte Nachentrichtungssumme verringern können. Wenn dies aber zulässig war, dann ist nicht einzusehen, warum eine Verringerung der Beitragssumme nicht auch dadurch erfolgen kann, daß bei unveränderter Zahl der Beiträge deren Beitragsklasse herabgesetzt wird. Berechtigte Interessen der Versichertengemeinschaft werden dadurch ebensowenig wie bei einer (gänzlichen oder teilweisen) Unterlassung der Beitragsentrichtung berührt; denn den niedrigen Beitragsklassen stehen verminderte Leistungsanwartschaften gegenüber. Der Senat hat in der vorgenannten Entscheidung lediglich für erforderlich gehalten, daß der Kläger erneut einen Antrag stellt, über den alsdann durch einen weiteren Bescheid entschieden wird. Dieses Erfordernis ergibt sich aus folgendem: Wenn der Gesetzgeber in Art 2 § 49a Abs 3 AnVNG die Nachentrichtung nicht ohne weiteres zuläßt, sondern die vorherige Festlegung des Umfangs durch einen Bescheid für erforderlich hält, so kommt darin zum Ausdruck, daß ein besonderes Interesse an einer geordneten, vorher durch den Rentenversicherungsträger überprüften Nachentrichtung besteht. Diesem Ordnungsinteresse muß auch bei späteren Änderungen Rechnung getragen werden, indem auch diese Änderungen - jedenfalls soweit sie Klasse und Beitragshöhe betreffen - zunächst von der Beklagten zu überprüfen und zu bescheiden sind. Der Senat hat der Beklagten allerdings in den Fällen, in denen der bisherige Zulassungsbescheid bereits bindend geworden ist, eingeräumt, daß sie den Anträgen nicht in jedem Fall entsprechen muß, sondern ihr ein Ermessen zusteht, den Antrag unter Würdigung der vorgetragenen Umstände unter Umständen auch abzulehnen.
Die angefochtenen Bescheide sind in Anwendung dieser Grundsätze aufzuheben, weil die Beklagte von diesem ihrem Ermessen bisher keinen Gebrauch gemacht hat. Die Gerichte können ihr Ermessen nicht an die Stelle des Ermessens der Verwaltung setzen.
Die Revision hat jedoch Erfolg, soweit sie sich gegen die von den Vorinstanzen getroffene Feststellung richtet, der Kläger könne selbst (und ohne weitere Beschränkungen) über die Entrichtung niedrigerer Beiträge entscheiden. Wie bereits aus den bisherigen Darlegungen ersichtlich ist, konnte der Kläger die Beitragsklassen nach Eintritt der Bindungswirkung des Bescheides nicht mehr frei bestimmen. Er mußte, auch wenn er niedrigere Beitragsklassen wählen wollte, zunächst einen entsprechenden Bescheid herbeiführen.
Die - vom Senat bestätigte - Aufhebung der vom Kläger angefochtenen Bescheide der Beklagten und die vom Senat ausgesprochene Aufhebung der von der Beklagten angefochtenen Feststellung der Vorinstanzen haben zur Folge, daß nunmehr über den vom Kläger gestellten Antrag auf Nachentrichtung der Beiträge für Juni bis Dezember 1964 in der Beitragsklasse 100 (statt 1000) erneut zu entscheiden ist. Dabei wird die Beklagte nach pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen haben, ob die begehrte Wahl niedrigerer Klassen zuzulassen ist. Bei der Ausübung dieses Ermessens wird die Beklagte zu berücksichtigen haben, daß - abgesehen von dem Verwaltungsaufwand - regelmäßig berechtigte Interessen der Versichertengemeinschaft einer solchen Herabsetzung der Beitragsklasse (anstelle der Nichtentrichtung eines Teils der Beiträge) nicht entgegenstehen. Es wird deshalb regelmäßig auch genügen (und den Verwaltungsaufwand rechtfertigen), wenn der Nachentrichtungsberechtigte verständige Gründe für die veränderte Wahl der Beitragsklassen angibt und erforderlichenfalls belegt, wie zB veränderte Vermögensverhältnisse, Veränderung seiner Versorgungssituation, Fehlinformation in der Zeit bis zum Eintritt der Bindungswirkung, Unzweckmäßigkeit der bisherigen Beitragswahl. Es kann sich aber im Einzelfall auch ergeben, daß den beantragten Änderungen Interessen der Versichertengemeinschaft entgegenstehen, etwa wenn die Änderungen zu einer nachträglichen Risikoverschiebung führen, was möglicherweise in Fällen der Nachentrichtung nach dem Tode des Berechtigten oder bei sich ankündigendem Eintritt eines Versicherungsfalles zutrifft. In diesen und ähnlichen - allerdings voraussichtlich seltenen - Fällen entspräche es pflichtgemäßem Ermessen, die Wahl anderer als der im Bescheid festgelegten Klassen abzulehnen. Welche Gesichtspunkte im vorliegenden Fall eine Rolle spielen können, vermag der Senat nicht zu entscheiden, weil hierzu bisher von beiden Beteiligten nichts vorgetragen worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen