Leitsatz (amtlich)

Ein Radfahrer ist bei einem Blutalkoholgehalt von 1,50/00 an absolut fahruntüchtig.

 

Normenkette

RVO § 542 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 23 . August 1960 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben .

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen .

Von Rechts wegen .

 

Gründe

I

Die Klägerin beansprucht Hinterbliebenenbezüge aus Anlaß des Todes ihres Ehemannes , des im Jahre 1902 geborenen Mühlenbesitzers K ... H ... (H . ) .

H . fuhr am Vormittag des 14 . Juli 1954 mit dem Fahrrad von seinem Wohnort Z... nach dem 5 km entfernten Ort E ..., um Mehl anzuliefern , Getreide mitzubringen und Geld zu kassieren . Die Waren transportierte sein Gespannführer A ... mit dem Mühlenwagen . Gegen 12 Uhr trafen beide in E ... ein; dort waren sie gemeinsam bis gegen 14 Uhr beruflich tätig . Im Laufe des frühen Nachmittags begab sich H ., während A ... einen Reifenschaden am Wagen beheben ließ , in die Gastwirtschaft G ... Er aß dort und trank - wie das Landessozialgericht (LSG) festgestellt hat - ein Gläschen Steinhäger sowie 7 Glas Bier zu 0 , 25 ltr . A ... fuhr gegen 18 Uhr mit dem Mühlenwagen nach Z... zurück . H . wollte mit dem Fahrrad sofort nachfahren , verschob aber die Heimfahrt bis gegen 20 Uhr , weil es stark regnete . Gegen 20 . 30 Uhr wurde H . zwischen den Kilometersteinen 2 , 3 und 2 , 4 am rechten Rand der dort leicht abfallenden , 4 m breiten Straße E ... -Z ... hinter einer leichten Linkskurve tot aufgefunden . Er lag auf dem Bauche mit dem Gesicht in einer Wasserrinne , die durch den unbefestigten Randstreifen der Straße verlief . Die Beine ragten in das am Straßenrand stehende Gras; darin zeichnete sich eine etwa 6 m lange Spur des Fahrrades in leichter Linkskrümmung ab . Das Fahrrad stand in dem 50 bis 60 cm tiefen Straßengraben mit nach rechts eingeschlagenem Vorderrad .

Der alsbald nach dem Auffinden der Leiche herbeigerufene Arzt Dr . S ... stellte fest , der Tod sei nach Erbrechen durch Ersticken eingetreten . Eine aus der Armblutader entnommene Blutprobe ergab nach der Widmark-Methode eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1 , 55 ‰ . Auf Grund einer richterlichen Leichenschau äußerte sich der Kreisarzt Dr . H ... dahin , der Tod sei mit größter Wahrscheinlichkeit auf eine schwere contusio cerebri , möglicherweise aber auch auf einen Herzschlag zurückzuführen . Am 16 . Juli 1954 wurde die Leiche seziert . Die Ärztin Dr . Dr . H ... kam in ihrem Gutachten zu folgendem Ergebnis: H . habe sich bei dem Sturz vom Fahrrad eine Gehirnerschütterung zugezogen; diese habe zu Bewußtlosigkeit und Erbrechen geführt . An den in den oberen Luftwegen angesammelten erbrochenen Massen sei H . erstickt .

Durch Bescheid vom 22 . November 1954 lehnte die beklagte Berufsgenossenschaft den Entschädigungsanspruch der Klägerin ab , weil H . sich sowohl durch den mehrstündigen Aufenthalt in der Gastwirtschaft als auch durch alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit von der betrieblichen Tätigkeit gelöst habe .

Das Sozialgericht (SG) Kassel hat die gegen den Ablehnungsbescheid gerichtete Klage durch Urteil vom 24 . Februar 1956 abgewiesen . Im Berufungsverfahren sind die Zeugen , die bereits im polizeilichen Ermittlungsverfahren vernommen worden waren , größtenteils erneut gehört worden . Die vorgesehene Vernehmung des jetzt in der sowjetischen Besatzungszone wohnenden Zeugen A ... ist unterblieben; das Kreisarbeitsgericht Jena hat die Rechtshilfe abgelehnt . In einem auf Ersuchen des LSG erstatteten Gutachten vom 11 . Juli 1957 hat Prof . Dr . W ... im wesentlichen folgendes ausgeführt: Das Widmark-Verfahren sei nicht unbedingt spezifisch für Alkohol; es bestimme alle flüchtigen , oxydierbaren Substanzen im Blut . Den ermittelten Wert könne man einer vorhandenen BAK gleichsetzen , wenn das Vorliegen von Stoffwechselstörungen , insbesondere einer Zuckerkrankheit , ausgeschlossen werden könne und die Blutentnahme vorschriftsmäßig durchgeführt worden sei . Daß H . an einer Zuckerkrankheit gelitten habe , sei nicht wahrscheinlich , er habe aber nach dem Ergebnis der Obduktion keinen völlig gesunden Organismus gehabt . Es wäre deshalb zweckmäßig gewesen , die Blutprobe auch nach der ADH-Methode zu untersuchen . Die Blutentnahme könne als ordnungsmäßig bezeichnet werden; denn es liege kein Anhalt dafür vor daß störende Substanzen ins Blut gelangt seien . Weil Dr . Sch ... den Untersuchungsbogen nicht unterschrieben habe und die Untersuchung nach der ADH-Methode unterblieben sei , bestünden "gewisse Bedenken , ob man die im Blut festgestellte Konzentration mit der erforderlichen Sicherheit lediglich auf einen Alkoholgenuß des H . beziehen kann" . Gehe man von der Richtigkeit der mit 1 , 55 ‰ ermittelten BAK aus , so bedeute dies , daß H . außer einem Steinhäger mindestens 3 1/2 ltr . Bier getrunken haben müßte . - Der Arzt Dr . S ... hat bekundet: Er habe den Meldebogen an der Unfallstelle ausgefüllt , aber nicht unterschrieben , wahrscheinlich weil er es vergessen habe . Bei der Blutentnahme sei es schon dunkel gewesen; es habe auch alles sehr schnell gehen sollen . Er halte es für unwahrscheinlich , daß er ein Desinfektionsmittel angewandt habe , und er wisse nicht , auf welche Weise irgendwelche störenden Substanzen in die Blutprobe gelangt sein könnten . - In einem ergänzenden Gutachten vom 12 . Mai 1958 hat Prof . Dr . W ... ausgeführt: Die von H . in der Gastwirtschaft G ... genossenen alkoholischen Getränke - ein Steinhäger und 7 Glas Bier zu 0 , 25 ltr . - könnten unmöglich eine BAK von 1 , 55 ‰ ausgelöst haben . Aus den Bekundungen des Dr . S ... ergebe sich , daß die Wahrscheinlichkeit für eine Verunreinigung der Blutprobe sehr gering sei . Selbst wenn die Hautstelle mit alkoholhaltigen erbrochenen Massen beschmutzt gewesen wäre , so hätte dies im Höchstfalle zu einer Erhöhung der BAK um 0 , 05 bis 0 , 1 ‰ geführt . Für die Auswertung der ermittelten BAK sei dies vom biologischen Standpunkt aus bedeutungslos .

Durch Urteil vom 23 . August 1960 hat das LSG die Berufung der Klägerin mit folgender Begründung zurückgewiesen: H . habe sich nicht schon durch den Gasthausaufenthalt vom Betrieb gelöst - dies deshalb nicht , weil er dort mit Kunden verhandelt und auf eine Wetterbesserung gewartet habe - , wohl aber durch alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit , auf die auch der Unfall zurückzuführen sei . Die BAK könne unbedenklich mit 1 , 55 ‰ angenommen werden . Daß Erbrochenes oder Alkohol in die Venüle gelangt sei , sei durch die Bekundung des Dr . S ... widerlegt . Bedenken ließen sich auch nicht daraus herleiten , daß das Blut nicht auch nach der ADH-Methode untersucht worden sei . Ein solches zweites Verfahren sei nicht vorgeschrieben . Prof . Dr . W ... habe nur wegen einer etwaigen Zuckerkrankheit des Verstorbenen Bedenken geäußert , nach dem Sektionsprotokoll bestehe jedoch kein Anhalt für eine solche Erkrankung . Das Gericht zweifle nicht daran , daß H . in den fünf Stunden seines Aufenthalts in der Gastwirtschaft G ... nur 7 Glas Bier und einen Steinhäger getrunken habe . Diese Alkoholmenge hätte für sich allein im Höchstfalle zu einer BAK von 0 , 55 ‰ geführt . Da die BAK aber tatsächlich 1 , 55 ‰ betragen habe , müsse H . noch anderweit Alkohol getrunken habe . Dazu habe er zwischen 14 Uhr und 15 . 15 Uhr Gelegenheit gehabt; denn um 14 Uhr habe er sich von A ... getrennt und um 15 . 15 Uhr sei er erst in die Gastwirtschaft gekommen . - Bei einer BAK von 1 , 55 ‰ sei ein Radfahrer absolut fahruntüchtig , zumal bei schlechtem Wetter und schlechter Straßenbeschaffenheit . Die somit feststehende Fahruntüchtigkeit des H . sei auch als rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls zu werten . Es sei unwahrscheinlich , daß der Unfall von anderen Verkehrsteilnehmern herbeigeführt worden sei . Eine weitere Unfallursache könnte in dem schlechten Zustand der Straße gelegen haben . Nach dem Polizeibericht habe jedoch die Straße von Kilometerstein 2 an nur vereinzelt Schlaglöcher aufgewiesen und sei auch sonst in besserem Zustand gewesen als die Wegstrecke von E ... bis dorthin . Eine Ortsbesichtigung hätte hierüber keinen Aufschluß gegeben , weil die Straße inzwischen erneuert worden sei . H . habe zwei Drittel des Weges auf der schlechten Wegstrecke hinter sich gehabt , als er auf dem besseren Teil verunglückt sei . Dies lasse vermuten , daß der schlechte Zustand der Straße nicht die Ursache des Unfalls gewesen sei . Zwar habe H . mit dem Gesicht in einer Regenrinne gelegen , diese sei jedoch nicht die Ursache dafür gewesen , daß er von der Straße abgekommen sei . Für die Annahme , daß H . in ein Schlagloch geraten , gegen einen Stein gestoßen oder auf einen Schotterhaufen aufgefahren sei , biete der Polizeibericht keinen Anhalt . Das Abkommen von der Fahrbahn spreche bei einem absolut fahruntüchtigen Radfahrer nach der Erfahrung des Lebens dafür , daß er nicht die erforderliche Sicherheit gehabt und die Herrschaft über das Fahrzeug verloren habe . Dies gelte auch für H .

Das LSG hat die Revision zugelassen , weil die Frage , ob für die Feststellung der BAK das Prüfungsverfahren nach Widmark ausreicht , eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung sei .

Das Urteil ist der Klägerin am 21 . September 1960 zugestellt worden . Sie hat am 19 . Oktober 1960 Revision eingelegt und diese am 20 . Dezember 1960 begründet; die Frist zur Begründung des Rechtsmittels war bis zum 21 . Dezember 1960 verlängert worden .

Die Revision rügt , das LSG habe seine Pflicht zur ausreichenden Erforschung des Sachverhalts verletzt und das Ergebnis der Beweiserhebung nicht fehlerfrei gewürdigt . Hierzu führt sie im einzelnen aus: Da die Ermittlung der BAK von entscheidender Bedeutung gewesen sei , hätte das LSG die hierfür angebotenen Beweise erheben müssen . Es hätte vor allem den Gespannführer A ... anschreiben und ihm die Frage stellen müssen , ob H . vor Antritt der Fahrt , während der Fahrt oder während der Kundenbesuche Alkohol getrunken habe . Auch die Klägerin hätte es zu ihrer Behauptung hören müssen , ihr Ehemann habe bis zur Abfahrt nach Ehlen keinen Alkohol zu sich genommen . Ferner hätte es die im Schriftsatz vom 17 . Januar 1958 benannten Zeugen K ..., P ..., S ..., B ... und E ... darüber vernehmen müssen , ob H . bei ihnen Alkohol getrunken habe . Dies seien alle Personen gewesen , die H . am 14 . Juli 1954 nach den aus seinen Listen getroffenen Feststellungen besucht habe . Der Bäckermeister K ... sei bereits in der Klageschrift vom 22 . Dezember 1954 und im Schriftsatz vom 12 . November 1956 als Zeuge dafür benannt worden , daß H . in der Zeit von 14 Uhr bis 15 . 15 Uhr mit ihm verhandelt und keinen Alkohol getrunken habe . Auch der in der Klageschrift benannte Zeuge H ... hätte vernommen werden müssen . Er solle bekunden , daß H . längere Zeit während der Reparatur des Wagens , ohne Alkohol zu trinken , bei ihm gewesen sei . Für die Beantwortung der Frage , ob H . infolge Trunkenheit oder infolge des schlechten Straßenzustandes gestürzt sei , sei der Zustand der Straße von entscheidender Bedeutung gewesen . Das LSG hätte sich deshalb nicht mit dem Polizeibericht und der Befragung des Zeugen V ... begnügen dürfen , vielmehr bei dem Sachbearbeiter des Kreises und bei den benachbarten Bürgermeistern Ermittlungen anstellen müssen . Es hätte auch den von der Polizei vernommenen Zeugen E ... noch einmal hören müssen; die Bezugnahme auf die Ermittlungsakten sei unzulänglich gewesen . - Einen Verstoß gegen die Denkgesetze und damit eine Überschreitung des Rechts der freien Beweiswürdigung sieht die Revision in den Ausführungen des LSG , die auf der besseren Wegstrecke gelegene Unfallstelle deute darauf hin , daß nicht der schlechte Zustand der Straße , sondern der Alkohol der Grund des Sturzes gewesen sei . - Der Auffassung des LSG , daß ein Radfahrer bei einer BAK von 1 , 5 ‰ absolut fahruntüchtig sei , tritt die Revision entgegen; sie will die Grenze erst bei 1 , 8 ‰ gezogen wissen . Das Prüfungsverfahren nach Widmark hält sie jedenfalls hier für ungeeignet , weil es nicht nur Alkohol , sondern alle flüchtigen , oxydierbaren Substanzen im Blut erfasse und weil sich nicht ausschließen lasse , daß H . Stoffwechselstörungen gehabt habe .

Die Klägerin beantragt ,

das angefochtene Urteil aufzuheben und gemäß dem Klageantrag zu entscheiden .

Die Beklagte beantragt ,

die Revision als unzulässig zu verwerfen ,

hilfsweise ,

sie als unbegründet zurückzuweisen .

Ihren Hauptantrag begründet die Beklagte damit , daß die Zulassung der Revision rechtswidrig sei , weil die Beurteilung des Wertes von Blutalkoholbestimmungsmethoden keine Rechtsfrage , sondern eine Frage der Beweiswürdigung sei . Nach der Meinung der Beklagten bedeutet es keine fehlerhafte Beweiswürdigung , daß das LSG die Blutalkoholbestimmung nach Widmark als ausreichend angesehen hat . Die Verfahrensrügen der Revision hält die Beklagte für unbegründet . In sachlich-rechtlicher Hinsicht tritt sie dem angefochtenen Urteil bei .

II

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden . Sie ist auch statthaft , und zwar schon deshalb , weil das LSG sie zugelassen hat (§ 162 Abs . 1 Nr . 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) . Die gegen die Wirksamkeit ihrer Zulassung von der Beklagten geäußerten Bedenken sind nach der Auffassung des Senats nicht gerechtfertigt .

An die Entscheidung , daß die Revision zugelassen werde , ist das Bundessozialgericht (BSG) grundsätzlich gebunden , jedenfalls dann , wenn die Zulassung nicht offensichtlich gegen das Gesetz verstößt (BSG 6 , 70 , 71; 8 , 220; 10 , 240) . Eine solche Gesetzwidrigkeit sieht die Beklagte darin , daß das LSG die Zulassung der Revision damit begründet hat , es sei eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung , "ob für die Feststellung der BAK das Prüfungsverfahren nach Widmark ausreicht und nicht vielmehr auch die ADH-Methode angewendet werden muß" . Die Beklagte meint , die zur Entscheidung gestellte Frage sei keine Rechtsfrage , sondern eine Frage der Beweiswürdigung und deshalb grundsätzlich nicht revisibel . Ob dies zutrifft , brauchte der Senat nicht zu entscheiden; denn die Entscheidung über die Zulassung wäre nur dann offensichtlich gesetzwidrig , wenn die Revision ausschließlich zur Überprüfung tatsächlicher Fragen zugelassen worden wäre (vgl . BSG 10 , 240 , 242) . Auf einen solchen ausschließlichen Zweck der Zulassung läßt die Begründung des LSG schon deshalb nicht schließen , weil in dem angefochtenen Urteil nicht nur über die Brauchbarkeit des Widmark-Verfahrens , sondern jedenfalls insoweit über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung entschieden worden ist , als ein Radfahrer mit einer BAK von 1 , 5 ‰ und mehr als absolut fahruntüchtig angesehen worden ist . Damit hat das LSG einen der Nachprüfung im Revisionsverfahren zugänglichen allgemeinen Erfahrungssatz aufgestellt (vgl . RGZ 99 , 71; OGHZ , MDR 1950 , 156; BGH , Nachschlagewerk ,BGB § 133 (F b) Nr . 4; Rosenberg , Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts , 8 . Aufl . S . 546 , 700) . Jedenfalls aus diesem Gesichtspunkt war die Zulassung der Revision gerechtfertigt , ja sogar geboten (vgl . auch BSG SozR SGG § 162 Bl . Da 31 Nr . 109) . Daß die - im Gesetz nicht vorgeschriebene - Begründung der Zulassungsentscheidung nicht diesen , sondern einen anderen Gesichtspunkt hervorhebt , stellt die Wirksamkeit der Zulassung nicht in Frage (BSG SozR SGG § 162 Bl . Da 31 Nr . 109 und BSG 8 , 218 , 220) .

Hiernach kam es für die Beurteilung der Statthaftigkeit der Revision nicht mehr darauf an , daß die Klägerin - wie sich aus den folgenden Ausführungen ergibt - wesentliche Mängel im Verfahren des LSG mit Erfolg gerügt hat (§ 162 Abs . 1 Nr . 2 SGG) .

Die Revision ist insofern begründet , als sie zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz geführt hat .

Nach den Feststellungen des LSG hat H . in der Gastwirtschaft G ... nicht nur gegessen und getrunken , sondern auch mit Geschäftskunden Verhandlungen geführt; außerdem hat er den Aufenthalt in der Gastwirtschaft nur deshalb auf fünf Stunden ausgedehnt , weil zunächst eine Reifenpanne am Mühlenwagen behoben wurde und nach der Abfahrt des Wagens die schlechte Witterung einer früheren Heimfahrt mit dem Fahrrad entgegenstand . Diese von keinem der Beteiligten angegriffenen und deshalb das BSG bindenden Feststellungen rechtfertigen die Auffassung des LSG , die unfallbringende Fahrt sei die Heimfahrt von einer versicherten Tätigkeit , nicht aber von einem der persönlichen Sphäre zuzurechnenden Gasthausaufenthalt gewesen .

Für die Entscheidung , ob der Unfallversicherungsschutz für H . aus dem Gesichtspunkt der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit entfällt , kommt es in erster Linie auf den Grad der BAK des Verunglückten an . Das LSG hat auf Grund einer Blutuntersuchung nach dem Widmark-Verfahren festgestellt , die BAK habe 1 , 55 ‰ betragen . Gegen die Verwertung des Untersuchungsergebnisses bestehen nicht schon deshalb Bedenken , weil ein Kontrollverfahren nach der ADH-Methode nicht durchgeführt worden ist . Das Widmark-Verfahren ist ein für die forensische Praxis durchaus brauchbares und gebräuchliches , wenn nicht gar das gebräuchlichste Verfahren zur Ermittlung der BAK (vgl . Mattil , Die Alkoholblutprobe , S . 27; ferner: Ponsold , Lehrbuch der gerichtlichen Medizin 1957 S . 251; Elbel , Blutalkohol 1956 , S . 1 bis 5; Spann , Ärztliche Mitteilungen 1958 S . 79) . Das LSG hat jedoch , wie die Revision mit Recht gerügt hat , nicht genügend berücksichtigt , daß die Widmark-Methode nicht nur Alkohol , sondern auch andere flüchtige , oxydierbare Substanzen erfaßt . Dies hat das LSG zwar nicht verkannt , seine Begründung reicht jedoch zum Ausschluß von Stoffwechselerkrankungen nicht aus , die einen höheren als den tatsächlichen Alkoholgehalt bei H . hätten vortäuschen können . Wenn es auch eine Zuckerkrankheit verfahrensrechtlich fehlerfrei ausgeschlossen hat , so hat es doch nicht ausreichend geprüft , ob H . an einer anderen Stoffwechselkrankheit , deren Bestehen Dr . Wagner mit dem Hinweis auf festgestellte Organschädigungen des H . als möglich angedeutet hatte , gelitten hat . Die Angaben , welche die Klägerin über den Gesundheitszustand ihres Ehemannes gemacht hatte , waren für sich allein nicht geeignet , die Bedenken des Prof . Dr . W ... auszuräumen , vielmehr hätte es hierzu der Anhörung eines medizinischen Sachverständigen bedurft . Weiter hat das LSG nicht ausreichend geprüft , ob die Blutprobe , wie die Klägerin bereits im Berufungsverfahren vorgebracht hat , durch alkoholhaltige erbrochene Massen verunreinigt und dadurch der Grad der BAK beeinflußt worden ist . Der Zeuge Dr . S ... hat zwar bei seiner Vernehmung am 31 . Oktober 1957 bekundet , er wisse nicht , auf welche Weise irgendwelche störenden Substanzen bei der Blutentnahme in die Probe gelangt sein könnten . Damals war aber die Frage noch gar nicht aufgeworfen worden , ob erbrochene alkoholhaltige Massen in die Venüle geraten sein könnten; eine dahingehende Vermutung enthält erst der Schriftsatz der Klägerin vom 24 . November 1957 . Das LSG hätte deshalb den Zeugen Dr . S ... noch darüber hören müssen , ob die Einstichstellen der Arme mit erbrochenen Massen verunreinigt waren . Hierzu bestand insofern eine besondere Veranlassung , als Dr . S ... bekundet hat , er habe die Einstichstellen seines Wissens nicht desinfiziert . Wenn auch Prof . Dr . W ... einer solchen Verunreinigung der Arme "kaum eine nennenswerte Bedeutung" für die Ermittlung der BAK beigemessen hat , so hat er doch eine hierauf zurückzuführende Erhöhung der BAK um 0 , 05 bis 0 , 1 ‰ für möglich gehalten . Schließlich hätte das LSG prüfen müssen , ob nicht von dem nach dem Widmark-Verfahren ermittelten Wert von 1 , 55 ‰ schon deshalb ein gewisser Abstrich zu machen ist , weil eine Kontrolluntersuchung nach dem ADH-Verfahren nicht stattgefunden hat . Nach Sachs/Müthling (Blutalkohol 1961 S . 91 , 93) ist von dem nach Widmark bestimmten Wert immer ein "Nüchternalkohol" von 0 , 03 ‰ - d . i . der Reduktionswert , den man bei nichtalkoholhaltigen Blutproben feststellen kann - abzuziehen . Aus einem in DRiZ 1955 , 13 veröffentlichten Bericht über eine Würzburger Ärztetagung geht hervor , daß die nach dem Widmark-Verfahren gewonnenen Werte im allgemeinen etwas über den nach dem ADH-Verfahren gewonnenen Werten liegen; das tragbare Maximum der Differenz wird mit 0 , 1 ‰ angegeben . Nach Ponsold (DAR 1954 , 8 , 11) liegt die Differenz bei Bluten , die einen Promillewert unter 1 aufweisen , in der zweiten Stelle hinter dem Komma und bei Bluten , die einen Promillewert über 1 , 5 aufweisen , bei nicht mehr als 0 , 1 ‰ (vgl . auch BSG 10 , 46 , 49) . Nach alledem besteht die Möglichkeit , daß schon eine weitere Sachaufklärung in der angedeuteten Richtung und eine kritische Würdigung des Ergebnisses von 1 , 55 ‰ zu einer nicht unwesentlich niedrigeren BAK geführt hätten .

Nach Lage der Sache hätte sich das LSG aber auch zu dem Versuch gedrängt fühlen müssen , die große Differenz zwischen der ermittelten BAK von 1 , 55 ‰ und dem Wert von 0 , 55 ‰ aufzuklären , der sich bei Zugrundelegung des nachgewiesenen Alkoholgenusses von einem Steinhäger und 7 Glas Bier zu 0 , 25 ltr . ergibt . Da H . nach den Feststellungen des LSG von 15 . 15 Uhr bis zum Unfall nicht mehr als die angegebenen Mengen getrunken hat , müßte er weitere erhebliche Mengen an Alkohol vor 15 . 15 Uhr - nach der Meinung des LSG zwischen 14 und 15 . 15 Uhr - zu sich genommen haben . Für diesen Zeitraum hat die Klägerin aber eine Reihe von Geschäftskunden ihres Ehemannes als Zeugen benannt , die bekunden sollen , daß H . während der angegebenen Zeit bei ihnen gewesen sei und keinen Alkohol genossen habe . Das LSG hätte deshalb diese Personen - K..., P..., V..., S..., B... und H... - vernehmen müssen . Möglicherweise hätte sich der Kundenkreis , den H . am 14 . Juli 1954 aufgesucht hat , anhand des Kundenbuches , das nach dem Schlußbericht der Polizeistation Z. vom 15 . Juli 1954 bei der Leiche gefunden wurde , noch vervollständigen lassen . Schließlich wäre es geboten gewesen , durch Vernehmung der sicherlich nicht sehr zahlreichen Gastwirte in E ... zu klären , ob H . am Unfalltage vor 15 . 15 Uhr bei ihnen Alkohol getrunken hat , und vor allem von dem Zeugen A ... auf Grund einer ins einzelne gehenden Fragestellung eine schriftliche Auskunft über den Alkoholgenuß des H . vor 15 . 15 Uhr einzuholen . Hätten diese Beweiserhebungen zu dem Ergebnis geführt , daß H . mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vor 15 . 15 Uhr keinen Alkohol oder nur unbedeutende Mengen zu sich genommen hat , so hätte dies den Wert der Blutalkoholbestimmung so stark herabmindern können , daß sie möglicherweise als Beweismittel ausgeschieden wäre (vgl . hierzu Hess . LSG , Breithaupt 1956 , 129) .

Daß das LSG als Grenzwert für die absolute Fahruntüchtigkeit eines Radfahrers 1 , 5 ‰ und nicht - was die Klägerin für zutreffend hält - 1 , 8 ‰ angenommen hat , ist nach der Auffassung des erkennenden Senats nicht zu beanstanden . Der Senat folgt hierin im wesentlichen den Ausführungen von Ponsold (Lehrbuch der gerichtlichen Medizin S . 267 , 268) , der diesen Wert gewinnt , indem er die an einen Radfahrer gestellten Anforderungen mit denjenigen vergleicht , die an einen Kraftwagenfahrer und einen Motorradfahrer gestellt werden . Der Radfahrer hat den Vorteil , daß er mit geringerer Geschwindigkeit fährt als die motorisierten Verkehrsteilnehmer und daß sein Fahrzeug einfacher zu bedienen und leichter ist als Kraftfahrzeuge . Demgegenüber stellt das Erfordernis , das Gleichgewicht zu halten , besondere Anforderungen an den Radfahrer; beim Kraftwagenfahrer entfällt dieses Erfordernis ganz , und beim Motorradfahrer ist es weniger schwerwiegend , weil dieser sein Fahrzeug in höherem Maße als der Radfahrer durch Verlagerung des Schwerpunktes von Körper und Maschine zu lenken pflegt . Unter Abwägung der Vor- und Nachteile im Verhältnis zwischen Radfahrer und Kraftfahrer erscheint es - mit Ponsold - gerechtfertigt , den Radfahrer dem Kraftwagenfahrer gleichzustellen und ihn somit bei einer BAK von 1 , 5 ‰ an als absolut fahruntüchtig anzusehen (vgl . BSG 3 116); daß bei einem Motorradfahrer bereits bei einer BAK von 1 , 3 ‰ und mehr absolute Fahruntüchtigkeit angenommen wird (BSG 12 , 242) , liegt im wesentlichen in der höheren Geschwindigkeit begründet . Mit dieser von dem erkennenden Senat gebilligten Beurteilung des Radfahrers durch das LSG stimmen überein: LSG Nordrhein-Westfalen , BG 1955 , 437; LSG Niedersachsen Lauterbach , Unfallkartei Nr . 2637 zu § 542 RVO und LSG Rheinland-Pfalz aaO Nr . 3075 zu § 543 RVO . Die abweichende Meinung des LSG Baden-Württemberg , das absolute Fahruntüchtigkeit erst bei 1 , 8 ‰ annimmt (BG 1956 , 216) , ist nicht überzeugend

In der Sache selbst konnte der Senat nicht entscheiden , weil es noch weiterer Feststellungen und einer erneuten Beweiswürdigung bedarf . Das angefochtene Urteil mußte deshalb mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden .

Sollte das LSG wiederum zu dem Ergebnis gelangen , H . sei im Zeitpunkt des Unfalls fahruntüchtig gewesen , so wird es der Prüfung , ob die Fahruntüchtigkeit die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls war , hinsichtlich des Straßenzustandes den Inhalt des Ermittlungsberichts der Polizeistation Z. zugrunde legen können . Eine - von der Revision für erforderlich gehaltene - Nachfrage bei den benachbarten Bürgermeistern und dem Sachbearbeiter des Kreises erscheint untunlich , weil die Straße inzwischen instand gesetzt worden ist und - jedenfalls bisher - kein Anhalt dafür besteht , daß die angeführten Auskunftspersonen angeben können , ob sich gerade an der Unfallstelle Löcher oder sonstige Unebenheiten befunden hatten .

Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG im abschließenden Urteil zu entscheiden haben .

 

Fundstellen

BSGE, 179

NJW 1963, 607

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