Leitsatz (redaktionell)

Zulässigkeit von Rechtsmitteln oder Rechtsbehelfen gegen Urteile Bayerischer Oberversicherungsämter in Streitsachen der KOV, wenn die Urteile nach dem Inkrafttreten des GG keine Rechtsmittelbelehrung enthielten.

 

Normenkette

BVG § 84 Abs. 3 Fassung: 1950-12-20; SGG § 66 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 214 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03; GG Art. 19 Abs. 4 Fassung: 1949-05-23

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 30. Oktober 1958 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger beantragte im April 1947, ihm wegen eines Herzmuskelschadens und einer neurozirkulatorischen Dystonie Versorgungsrente zu gewähren. Die Versorgungsverwaltung lehnte die Gewährung von Versorgungsbezügen durch Bescheid vom 26. September 1951 sowohl nach dem Bayerischen Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte (BKBLG) als auch nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ab, weil es sich nicht um Schädigungsfolgen im Sinne dieser Gesetze handele; außerdem wurden Rentenvorschüsse in Höhe von 300,-- DM zurückgefordert. Die Berufung des Klägers gegen diesen Bescheid wies das Oberversicherungsamt (OVA) Augsburg nach weiterer ärztlicher Aufklärung mit Urteil vom 30. Oktober 1952, zugestellt am 22. November 1952, zurück.

Am 27. Dezember 1954 hat der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Regensburg Klage erhoben mit dem Antrag, das Urteil des OVA aufzuheben und festzustellen, daß er wehrdienstbeschädigt sei und Anspruch auf Rente habe. Das SG hat die Klage durch Urteil vom 28. September 1955 als unzulässig abgewiesen, weil über den geltend gemachten Anspruch schon durch das Urteil des OVA rechtskräftig entschieden worden sei. Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Berufung eingelegt und sie insbesondere damit begründet, daß die Entscheidung des OVA kein Urteil eines unabhängigen Gerichts und daher nichtig sei. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) in München hat die Berufung durch Urteil vom 30. Oktober 1958 zurückgewiesen: Das Urteil des OVA sei rechtskräftig geworden und die Klage deshalb unzulässig (§ 141 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Das Verfahren vor dem OVA sei das für Versorgungsangelegenheiten seinerzeit rechtsgültige Verfahren gewesen; die in einem solchen Verfahren ergangenen Entscheidungen seien durch den Gesetzgeber in den §§ 213, 214 SGG ausdrücklich als Rechtsprechung anerkannt worden. Nach den §§ 214 Abs. 1, 215 Abs. 2 SGG seien die in Bayern bis zum Inkrafttreten des SGG ergangenen Entscheidungen der Oberversicherungsämter nicht erneut nach dem SGG anfechtbar; nur die noch laufenden Verfahren seien von den Oberversicherungsämtern auf die Sozialgerichte übergegangen. Es sei auch unerheblich, daß das Urteil des OVA keine Rechtsmittelbelehrung enthalten habe, da nach dem früher geltenden Recht eine solche nur bei nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen - was in diesem Falle nicht zutreffe - vorgeschrieben gewesen sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen dieses am 29. Januar 1959 zugestellte Urteil hat der Kläger mit einem am 19. Februar 1959 beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt, Er beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

In der - nach Verlängerung der Begründungsfrist - am 28. April 1959 beim BSG eingegangenen Revisionsbegründung rügt der Kläger die Verletzung des § 141 SGG, der Art. 19 Abs. 4, 20, 92 und 97 des Grundgesetzes (GG) sowie allgemein sozial-rechtsstaatlicher Grundsätze. Die Entscheidung des OVA sei kein rechtskräftiges Urteil im Sinne des § 141 SGG, da es von einem Gericht erlassen worden sei, das seiner Einrichtung und Zusammensetzung nach nicht den verfassungsmäßigen Voraussetzungen einer unabhängigen und von der Verwaltung getrennten Gerichtsbarkeit entsprochen habe. Es handele sich vielmehr um die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde, also um ein Nichturteil, das schlechthin unwirksam und daher auch ohne Bindungswirkung sei. Die Entscheidung sei auch deshalb nicht rechtskräftig geworden, weil sie keine Rechtsmittelbelehrung enthalten habe. Zwar sei im vorliegenden Falle eine solche nach damaligem Recht nicht vorgeschrieben gewesen. Zumindest sei aber seit dem Inkrafttreten des GG aus verfassungsrechtlichen und allgemein sozialrechtsstaatlichen Gründen in jedem Falle eine Rechtsmittelbelehrung zu fordern. Aus diesen Gründen hätten das LSG wie auch das SG in der Sache entscheiden müssen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und wendet sich vor allem gegen die Auffassung der Revision, die Bayerischen Oberversicherungsämter seien keine unabhängigen Gerichte gewesen.

Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG); sie ist daher zulässig.

Die Revision ist jedoch nicht begründet, da das LSG die Abweisung der Klage als unzulässig im Ergebnis zu Recht bestätigt hat.

Auch der Kläger geht davon aus, daß seine Klage nur Erfolg haben kann, wenn das Urteil des OVA Augsburg vom 30. Oktober 1952 nicht rechtswirksam ist; er hat deshalb die Aufhebung dieses Urteils beantragt. Er meint dazu, die Entscheidung des OVA sei überhaupt nicht zu beachten, weil die Oberversicherungsämter keine unabhängigen Gerichte im Sinne des GG gewesen seien und es sich bei ihren Entscheidungen daher um wirkungslose Nicht-Urteile gehandelt habe. Der erkennende Senat konnte im vorliegenden Falle dahingestellt lassen, ob die Bayerischen Oberversicherungsämter wirkliche Gerichte im Sinne des GG gewesen sind. Denn auch wenn es sich - wie in Rechtsprechung und Schrifttum teilweise angenommen - lediglich um besondere Spruchkörper der Verwaltung gehandelt haben sollte, so könnte sich der Kläger nicht mit dem von ihm erstrebten Erfolg darauf berufen. Gegen das Urteil des OVA Augsburg vom 30. Oktober 1952 war innerhalb eines Monats nach Zustellung der Rekurs möglich (§ 84 Abs. 3 BVG, Art. 33 Abs. 1 BKBLG i.V. mit §§ 1699, 1701, 128 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-). Der Kläger hat von diesem Rechtsmittel unbestritten keinen Gebrauch gemacht. Damit hat er sich der damals für ihn bestehenden gesetzlichen Möglichkeit begeben, das Urteil anzufechten und dessen Aufhebung zu seinen Gunsten zu erlangen. Gerade für solche Fälle aber gilt nach dem Willen des Gesetzgebers die Vorschrift des § 214 SGG, nach der Entscheidungen der Oberversicherungsämter im Lande Bayern (und dem früheren Lande Württemberg-Baden), die vor dem Inkrafttreten des SGG ergangen und unangefochten geblieben sind, nicht mehr angefochten werden können, d.h. rechtswirksam geworden sind. Bei dieser gesetzlichen Regelung ist unbeachtlich, ob der Gesetzgeber (des SGG) selbst die Oberversicherungsämter als Gerichte hat ansehen wollen oder nicht; er hat diese Frage offen lassen können.

Der Kläger führt weiter aus, in seinem Falle sei das Urteil des OVA schon deshalb nicht rechtswirksam geworden, weil es keine Rechtsmittelbelehrung enthalten habe; diese sei zumindest seit dem Inkrafttreten des GG im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG und auf allgemein sozial-rechtsstaatliche Erwägungen auch dann zu fordern gewesen, wenn die RVO selbst sie nicht vorgeschrieben habe. Der Revision ist zuzugeben, daß es zumindest seit der Schaffung des GG allgemein als rechtsstaatliches Erfordernis angesehen wird, Entscheidungen der Verwaltung und der Verwaltungsgerichte mit einer Belehrung über das mögliche Rechtsmittel zu versehen. Diese Auffassung hat auch in den neueren Verfahrensgesetzen ihren Niederschlag gefunden. In diesen hat der Gesetzgeber an das Fehlen einer Rechtsmittelbelehrung die Folge geknüpft, daß bei Verwaltungsakten und Gerichtsentscheidungen ohne Rechtsmittelbelehrung keine Rechtsmittelfrist zu laufen beginnt und somit - zunächst - keine Rechtskraft eintreten kann. Er hat aber auch in diesen Fällen die Frist zur Einlegung eines Rechtsmittels - von Fällen der höheren Gewalt oder einer Belehrung dahin, daß ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei, abgesehen - auf ein Jahr nach Zustellung, Verkündung usw. begrenzt (vgl. § 66 SGG, § 21 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgerichts, §§ 58, 59 der Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-). Nach einem Jahr werden somit auch solche Entscheidungen rechtskräftig, wenn binnen dieses Jahres kein Rechtsmittel eingelegt wird. Diese Begrenzung war aus Gründen der Rechtssicherheit notwendig; sie ist auch gerechtfertigt, da auch dem Rechtsungewandten zuzumuten ist, sich innerhalb dieser Frist darüber zu unterrichten, was er gegen eine ihm nachteilige Entscheidung unternehmen kann. Wendet man diese - rechtsstaatlichen Grundsätzen gerecht werdende - Regelung im vorliegenden Falle an, so ist das Urteil des OVA bis zum Inkrafttreten des SGG auf jeden Fall rechtswirksam geworden, da seit der Zustellung des Urteils bis zum Inkrafttreten des SGG mehr als ein Jahr verstrichen ist.

Gegen das rechtswirksame Urteil ist somit nach dem SGG kein Rechtsmittel, also auch keine Klage, mehr gegeben. Ein Verstoß gegen das GG ist dabei nicht erkennbar, und zwar auch dann nicht, wenn es sich bei dem Urteil des OVA, wie der Kläger meint, um die Entscheidung lediglich eines besonderen Spruchkörpers innerhalb der Verwaltung gehandelt haben sollte. Zwar wäre dann gegen die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde für den Kläger kein Rechtsweg gegeben, wodurch Art. 19 Abs. 4 GG verletzt sein könnte. Ein solcher Verstoß liegt aber in keinem Falle vor, denn dem Kläger ist, wie bereits dargelegt, der (weitere) Rechtsweg letztlich nicht durch die gesetzliche Regelung verschlossen worden, sondern weil er seinerzeit von dem damals zulässigen Rechtsmittel - dem Rekurs - keinen Gebrauch gemacht hat. Ursache ist also nicht die in § 214 SGG getroffene gesetzliche Regelung, sondern das Verhalten des Klägers, der die Entscheidung des OVA hat rechtswirksam werden lassen.

Da somit gegen die Entscheidung des OVA kein Rechtsmittel mehr zulässig ist, ist die dem übrigen Klagebegehren entgegenstehende Klage auf Aufhebung unzulässig.

Die Revision gegen das Urteil des Berufungsgerichts ist daher unbegründet und war deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2304651

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