Leitsatz (redaktionell)
Behauptet der Kläger "seelische Depressionen" als Schädigungsfolge, dann darf ein sich hierauf beziehender Antrag nach SGG § 109 nicht deshalb abgelehnt werden, weil in einem bereits vorliegenden Gutachten einer Universitäts-Nervenklinik nach SGG § 106 ein Zustand von "seelischer Depression" verneint worden ist.
Ebensowenig darf der Antrag nach SGG § 109 deshalb abgelehnt werden, weil der Kläger angegeben hat, seine "seelischen Depressionen" seien auf eine in der Kriegsgefangenschaft durchgemachte Dystrophie zurückzuführen, eine Dystrophie aber früher weder behauptet noch nachgewiesen worden ist.
Es besteht keine gesetzliche Grundlage, den Kläger mit seinem Vorbringen, seine psychischen Störungen seien Dystrophiefolge, deshalb auszuschließen, weil er diese nicht früher behauptet hat; der Kläger ist, sofern die Berufung statthaft ist, nicht gehindert, auch noch im Berufungsverfahren ein "neues Leiden" nachzuschieben (vergleiche BSG 1961-12-14, 11 RV 748/61).
Normenkette
SGG § 109 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 106 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, Abs. 3 Nr. 5 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. Juli 1961 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Das Versorgungsamt Fulda stellte mit Bescheid vom 28. November 1957 bei dem Kläger "l. geringe Zwerchfell- und Rippenverwachsungen links nach Brustschuß, 2. reizlose Narbe rechter innerer Knöchel" als Schädigungsfolgen im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) fest; es lehnte die Feststellung weiterer Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen sowie die Gewährung einer Versorgungsrente ab. Mit dem Widerspruch machte der Kläger geltend, auch seine "Nervenschwäche und seine seelische Beschaffenheit" seien Folgen der sowjetischen Kriegsgefangenschaft, seine Erwerbsfähigkeit wegen der Schädigungsfolgen sei deshalb um 30 v.H. gemindert.
Den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt mit Bescheid vom 19. Februar 1958 zurück. Mit der Klage begehrte der Kläger "neben den bereits anerkannten Schädigungsfolgen seelische Depressionen als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen und ihm eine Rente nach einer MdE von 30 v.H zu gewähren."
Das Sozialgericht (SG) holte u.a. ein Gutachten der Nervenklinik der Stadt und Universität Frankfurt/Main (Privatdozent Dr. K... und Dr. K... ein; dann heißt es: "Von seelischen Depressionen kann bei F. keine Rede sein, wenn auch eine psychische Empfindlichkeit nicht abgestritten werden kann. Anzeichen für eine Psychose konnten nicht gefunden werden. Zu diskutieren wäre aber die Möglichkeit; ob es sich bei dem Kläger um eine Dystrophiefolge handelt, die psychische Veränderungen im Sinne eines hirnorganischen Dauerschadens hervorrufen könnte. Zum sicheren Ausschluß einer Dystrophiefolge wäre allerdings eine Luftencephalographie notwendig; die F. aber ablehnt." Das SG Fulda wies die Klage mit Urteil vom 9. Dezember 1960 ab.
Der Kläger legte Berufung ein; er beantragtes den Arzt Dr. in F... in Bad Homburg nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) darüber zu hören, "ob der beim Kläger bestehende Zustand von seelischen Depressionen auf die durchgemachte Dystrophie zurückzuführen sei und welcher Gesamtminderungsgrad hierdurch bedingt wird".
Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung des Klägers mit Urteil vom 19. Juli 1961 zurück. Zu dem Antrag des Klägers nach § 109 SGG führte es aus, die beantragte Beweiserhebung sei nicht erheblich; "wenn der Kläger behauptet, daß bei ihm ein Zustand von seelischer Depression bestehe, was jedoch von den Ärzten der Frankfurter Nervenklinik verneint wird und dieser (Zustand) auf die durchgemachte Dystrophie zurückzuführen sei, so handelt es sich hierbei um ein völlig neues Vorbringen"; eine Dystrophie sei weder behauptet noch nachgewiesen; der Antrag nach § 109 SGG sei deshalb abzulehnen.
Das Urteil des LSG wurde dem Kläger am 15. August 1961 zugestellt. Der Kläger legte am 25. August 1961; Revision ein und beantragte,
das Urteil des Hessischen LSG vom 19. Juli 1961 aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Er begründete die Revision ebenfalls am 25. August 1961; er trug vor, das LSG habe seinen Antrag, Dr. F... gutachtlich zu hören, zu Unrecht abgelehnt, es habe damit § 109 SGG verletzt.
Der Beklagte stellte keinen Antrag.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs, 1 Nr. 2 SGG statthaft. Der Kläger rügt zu Recht, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel, weil das LSG gegen § 109 SGG verstoßen habe.
Das LSG hat den Antrag des Klägers, Dr. F... nach § 109 SGG gutachtlich hören, abgelehnt, weil es die Beweisfragen, die vom Kläger in das Wissen des ärztlichen Sachverständigen gestellt worden waren, nicht für erheblich gehalten hat. Diese Beweisfragen sind aber auch nach der sachlich-rechtlichen Auffassung des LSG erheblich gewesen; es ist für die Entscheidung des LSG darauf angekommen, ob der Kläger an psychischen Störungen leidet und ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen diesem Leiden des Klägers und seiner (unstreitigen) Kriegsgefangenschaft besteht (vgl. insoweit Urteil des BSG vom 16. Dezember 1958, SozR Nr. 25 zu § 109 SGG); auf diese (medizinischen) Fragen hat sich der Antrag nach § 109 SGG auch bezogen.
Die medizinische Beurteilung, ob die (behaupteten) psychischen Störungen des Klägers, die er als "seelische Depressionen" bezeichnet. Schädigungsfolge sind, hat sich darauf zu erstrecken, wie diese Störungen medizinisch zu diagnostizieren und ursächlich zu erklären sind; sie hat alle damit zusammenhängenden Fragen umfassen müssen, auch die Frage, ob überhaupt krankhafte psychische Veränderungen vorliegen (vgl. auch die Urteile des BSG vom 15. Juni 1961 - 11 RV 1256/60 - und vom 14. Dezember 1961 - 11 RV 584/61 -). Das LSG hat danach den Antrag des Klägers nach § 109 SGG nicht deshalb ablehnen dürfen, weil die Ärzte der Frankfurter Nervenklinik bei dem Kläger einen Zustand von "seelischer Depression" verneint hätten und damit - nach Ansicht des LSG - die Behauptung des Klägers, er leide an seelischen Depressionen, bereits widerlegt sei. Das LSG hat insoweit keine Feststellungen treffen dürfen, ohne die Beweise zu erheben und zu würdigen, die es nach §109 SGG hat erheben und würdigen müssen. Ebensowenig hat das LSG den Antrag nach § 109 SGG deshalb ablehnen dürfen, weil der Kläger angegeben habe, seine seelischen Depressionen seien auf seine Dystrophie, die er in der Kriegsgefangenschaft durchgemacht habe, zurückzuführen, "eine Dystrophie aber (früher) weder behauptet noch nachgewiesen" sei. Auch über die Frage, ob der Kläger während seiner Kriegsgefangenschaft an einer Dystrophie oder an einer anderen für die Entstehung oder den Verlauf seines Leidens bedeutsamen Vorerkrankung gelitten hat oder nicht, hat das LSG keine Feststellungen treffen dürfen, ohne den Beweis nach § 109 SGG zu erheben und zu würdigen. Der Kläger hat im übrigen schon im Verwaltungsverfahren jedenfalls geltend gemacht, daß auch seine "Nervenschwäche" und seine "seelische Beschaffenheit" auf schädigende Einwirkungen der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zurückzuführen seien; um "ein völlig neues Vorbringen" im Berufungsverfahren hat es sich insoweit nicht gehandelt. Für den Antrag nach § 109 SGG ist es unerheblich gewesen, ob der Kläger alle medizinischen Tatsachen, die für die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen den psychischen Störungen und der Kriegsgefangenschaft haben bedeutsam sein können, von sich aus vorgetragen oder gar "rechtzeitig behauptet hat". Wenn der Kläger - wie das LSG angenommen hat - (erst) durch das Gutachten der Frankfurter Nervenklinik, in dem es heißt, es sei "die Möglichkeit zu diskutieren, ob es sich um eine Dystrophiefolge handele, die psychische Veränderungen i.S. eines hirnorganischen Dauerschadens hervorrufen könne", veranlaßt worden ist, den Antrag nach § 109 SGG zu stellen, so kann ihm hieraus verfahrensrechtlich kein Nachteil erwachsen. Ist aber das LSG - worauf seine Ausführungen hindeuten können - etwa der Meinung gewesen, es habe den Kläger mit seinem Vorbringen, seine psychischen Störungen seien Dystrophiefolge, ausschließen dürfen, weil er dies nicht früher behauptet habe, so hat hierfür keine gesetzliche Grundlage bestanden. Der Kläger wäre, sofern die Berufung statthaft ist, nicht gehindert gewesen, auch noch im Berufungsverfahren ein "neues Leiden" nachzuschieben (vgl. Urteil des BSG vom 14. Dezember 1961 - 11 RV 748/61 -).
Das LSG hat danach, wenn es den von dem Kläger bestimmten Arzt nicht gehört hat, weil es angenommen hat, das Gutachten könne seine Entscheidung nicht mehr beeinflussen, § 109 SGG verletzt. In dem Verstoß gegen § 109 SGG liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens (vgl. auch BSG 2, 255 und 258); Der Kläger hat diesen Mangel in der nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gebotenen Form gerügt. Die Revision ist daher nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Da sie der Kläger frist- und formgerecht eingelegt und begründet hat, ist sie auch zulässig. Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG wenn es die Verfahrensvorschrift des § 109 richtig anwendet, zu einem anderen Ergebnis kommt. Der Senat kann in der Sache nicht entscheiden, der Sachverhalt ist infolge des Verstoßes des LSG gegen eine verfahrensrechtliche Vorschrift nicht ausreichend geklärt. Die Sache ist daher zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs, 1 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen