Orientierungssatz
Der juristische Vorbereitungsdienst der Gerichtsreferendare dient zwar der Ausbildung für einen Beruf, er ist aber ebensowenig eine Hochschulausbildung iS des AVG § 36 Abs 1 Nr 4, wie eine Assistententätigkeit an der Hochschule, die nach dem Studium (vergleiche BSG 1963-09-18 1 RA 166/60 = BSGE 20, 35) und wie ein Praktikum, das vor oder nach dem Studium zu leisten ist (vergleiche BSG 1963-07-19 1 RA 282/61 = BSGE 19, 239).
Normenkette
RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; AVG § 36 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 13. Februar 1964 wird aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 15. Oktober 1963 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beklagte bewilligte dem am 7. Mai 1896 geborenen Kläger durch Bescheid vom 18. April 1961 Altersruhegeld ab 1. Mai 1961. Der Kläger beanstandete die Höhe seiner Rente und verlangte, daß die Zeit seiner Schul- und Hochschulausbildung bei der Berechnung der Rente mit 66 Monaten als Ausfallzeit berücksichtigt werde. Die Beklagte lehnte das ab, weil die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) - in der Fassung vor dem Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) - nicht erfüllt seien; der Kläger habe nicht innerhalb von zwei Jahren nach Abschluß seiner Hochschulausbildung eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen.
Der Kläger beendete seine Schulzeit am 4. August 1914 mit dem Reifezeugnis; er studierte Rechtswissenschaft ab November 1914 (mit Unterbrechung durch den Kriegsdienst vom 16. August 1915 bis 2. Januar 1919) bis 31. Juli 1920; vom 13. Dezember 1920 bis zum 16. Januar 1923 war er Gerichtsreferendar und vom 22. Juni 1923 bis 30. April 1927 Assessor im Staatsdienst. Für die Zeit vom 22. Juni 1923 bis 30. April 1927 wurde er nachversichert. Das Sozialgericht (SG) Hamburg wies die Klage durch Urteil vom 15. Oktober 1963 ab. Auf die Berufung des Klägers hob das Landessozialgericht (LSG) Hamburg am 13. Februar 1964 das Urteil des SG auf; es entsprach dem Klagebegehren im wesentlichen: Der Begriff Hochschulausbildung im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG schließe auch die Referendarausbildung ein; der Kläger habe danach rechtzeitig - für die Anrechnung der streitigen Ausfallzeit - eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen. Das LSG ließ die Revision zu.
Die Beklagte legte fristgemäß und formgerecht Revision ein; sie beantragte,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Sie machte geltend, das LSG habe § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG (in der Fassung) vor dem RVÄndG vom 9. Juni 1965) verletzt.
Der Kläger beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Nachdem durch Art. 1 § 2 Nr. 19 Buchst. d des RVÄndG vom 9. Juni 1965 die Frist des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG zur Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung von zwei auf fünf Jahre verlängert worden ist, hat sich die Beklagte bereit erklärt, die streitigen Ausfallzeiten, und zwar die Schulausbildung von Mai 1911 bis August 1914 sowie die Hochschulausbildung vom November 1914 bis Juli 1915 und von Februar 1919 bis Juli 1920, für die Rente des Klägers ab 1. Juli 1965 zu berücksichtigen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Nr. 1, 165 SGG).
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist auch begründet.
Die Zeit der Schul- und Hochschulausbildung des Klägers kann nicht als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG in der Fassung vor dem RVÄndG vom 9. Juni 1965 angerechnet werden, weil der Kläger nicht im Anschluß an seine abgeschlossene Hochschulausbildung (oder einer anschließenden Ersatzzeit) innerhalb von zwei Jahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen hat. Der Begriff der Hochschulausbildung in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG ist gleichbedeutend mit dem Hochschulstudium. Das Hochschulstudium kann sowohl durch eine bestandene Hochschul- oder Staatsprüfung als auch mit einer Promotion abgeschlossen werden. Die Erreichung des ersten möglichen Abschlusses ist Endzeitpunkt der anrechnungsfähigen Ausfallzeit und zugleich Beginn der Zweijahresfrist für die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung. Diese Rechtsauffassung hat der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in den Urteilen vom 19. Juli 1963 (BSG 19, 239), vom 18. September 1963 (BSG 20, 35) und vom 25. Oktober 1963 - 1 RA 327/62 - vertreten und begründet. Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung nach nochmaliger Prüfung der Rechtslage auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers und der Ausführungen des LSG an.
Der Kläger wurde am 13. Dezember 1920 als Gerichtsreferendar in den juristischen Vorbereitungsdienst einberufen; er hatte also seine juristische Hochschulausbildung bereits vor Dezember 1920 - mit der Ablegung der ersten juristischen Staatsprüfung - abgeschlossen. In der sonach im Laufe des Jahres 1922 endenden Zweijahresfrist hat der Kläger keine versicherungspflichtige Beschäftigung im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG aufgenommen; er war vielmehr nach den Feststellungen des LSG erst im Anschluß an seinen juristischen Vorbereitungsdienst, also ab Mitte Januar 1923, versicherungspflichtig beschäftigt.
Der juristische Vorbereitungsdienst der Gerichtsreferendare dient zwar der Ausbildung für einen Beruf, er ist aber ebensowenig eine Hochschulausbildung im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG, wie eine Assistententätigkeit an der Hochschule, die nach dem Studium (BSG 20, 35) und wie ein Praktikum, das vor oder nach dem Studium zu leisten ist (BSG 19, 239). Diese Regelung schließt zwar Angehörige akademischer Berufe, wenn sie eine Tätigkeit in Berufen anstreben, die neben dem Hochschulstudium einen längeren praktischen und wissenschaftlichen Vorbereitungsdienst voraussetzen, von der Vergünstigung der Anrechnung von Ausfallzeiten für Schul- und Hochschulausbildung in der Regel aus; das bedeutet jedoch nicht, daß das Gesetz insoweit, als es diesen Personenkreis nicht an dieser Vergünstigung teilhaben läßt, eine "unbeabsichtigte und der Ausfüllung fähige Lücke" gelassen hat. Diese Regelung verletzt auch nicht Art. 3 GG, sie hält sich vielmehr im Rahmen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers; eine willkürliche Differenzierung ist nicht ersichtlich. In dem RVÄndG vom 9. Juni 1965 (Abs. 1 § 2 Nr. 19 Buchst. a) ist die Frist, innerhalb derer eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen worden sein muß, auf fünf Jahre verlängert worden, weil "beiden meisten wissenschaftlichen Ausbildungen im Anschluß an das Hochschulstudium eine weitere Ausbildung, die keine Hochschulausbildung im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 4 ist und oftmals länger dauert als zwei Jahre", erforderlich ist (vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Beseitigung von Härten in der gesetzlichen Rentenversicherung, BT-Drucks. IV/2572 S. 26); damit werden auch für Personen in der Lage des Klägers günstigere Voraussetzungen für die Anrechnung der Schul- und Hochschulausbildung als Ausfallzeiten geschaffen.
Wenn der Gesetzgeber im Zuge einer "allgemeinen Überholung" des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung nunmehr eine ihm zweckmäßiger und gerechter erscheinende Lösung gewählt hat, so ergibt sich daraus nicht, daß die frühere Regelung grundgesetzwidrig war; es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, den Zeitpunkt für die Beseitigung von Härten und für Leistungsverbesserungen in der sozialen Rentenversicherung zu bestimmen. Die Regelung über die Verlängerung der "Aufnahmefrist" von zwei auf fünf Jahre in Art. 1 § 2 Nr. 19 Buchst. d RVÄndG ist mit Wirkung vom 1. Juli 1965 in Kraft getreten (Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. e RVÄndG); sie gilt zwar auch für Versicherungsfälle, die vor dem 1. Juli 1965, aber nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind (Art. 5 § 4 Buchst. e); Art. 5 § 6 RVÄndG bestimmt jedoch ausdrücklich, daß höhere Leistungen, die durch dieses Gesetz begründet werden, erst ab 1. Juli 1965 zu gewähren sind.
Daß hiernach für die Berechnung der Rente des Klägers für die hier streitige Zeit vor dem 1. Juli 1965 noch die für ihn weniger günstigen Vorschriften des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG in der Fassung vor dem RVÄndG vom 9. Juni 1965 maßgebend sind, stellt ebenfalls keinen Verstoß gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) dar. Mit dem Gleichheitssatz ist es jedenfalls vereinbar, daß der Gesetzgeber in der Sozialversicherung neu eingeführte Leistungsverbesserungen nicht in die Vergangenheit ausdehnt; die Festlegung eines Stichtages für die von der Leistungsverbesserung erfaßten Tatbestände ist sachgerecht und entspricht in der Regel dem Sinn und Zweck einer solchen Neuregelung (vgl. ua BSG 11, 278, 287; 14, 95; 15, 46, 51).
Der Kläger hat somit für die Zeit vor dem 1. Juli 1965 keinen Anspruch auf eine höhere Rente.
Für die Zeit nach dem 1. Juli 1965 hat die Beklagte die Rente des Klägers nach Art. 5 § 6 RVÄndG neu festzustellen.
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das LSG hat sonach zu Unrecht das Urteil des SG aufgehoben. Unter Aufhebung des Urteils des LSG ist die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen