Leitsatz (redaktionell)
Ein Versicherter ist arbeitsunfähig iS des RVO § 182 Abs 1 Nr 2, wenn er seiner bisher ausgeübten (oder einer ähnlich gearteten) Erwerbstätigkeit wegen Krankheit überhaupt nicht mehr oder nur unter der Gefahr hin nachgehen kann, seinen Zustand zu verschlimmern.
Bei einem ungelernten Arbeiter ist der Rahmen der ähnlich gearteten Tätigkeiten, deren Ausübung ihn zugemutet werden können, verhältnismäßig weit. Das gilt insbesondere dann, wenn das bisherige Arbeitsverhältnis nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit gelöst wurde.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1961-07-12
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. April 1970 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Seit ihrer Entlassung aus der Volksschule (1935) arbeitete sie in der Landwirtschaft, als Hausgehilfin, Zimmermädchen, Werkhilfe und Telefonistin. Vom 22. Juli 1963 bis zum 5. April 1966 war sie bei der Firma M-Sch KG in G als Arbeiterin beschäftigt, vom 18. Juli bis zum 5. November 1966 war sie Packerin bei der Firma R B GmbH in G. Wegen Beschwerden an der Wirbelsäule gewährte ihr die Beklagte Krankengeld vom 7. Oktober 1966 an. Aufgrund eines Gutachtens des Landesobermedizinalrats Dr. S von der Vertrauensärztlichen Dienststelle der Landesversicherungsanstalt H in G mit einer zusätzlichen chirurgischen Begutachtung des Dr. med. S G mit dem Ergebnis, daß der Befund keine Arbeitsunfähigkeit begründete, stellte die Beklagte die Zahlung des Krankengeldes vom 25. Dezember 1966 an ein.
Die Klägerin legte der Beklagten eine am 19. Januar 1967 ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des Dr. F vor, nach der Arbeitsunfähigkeit seit dem 25. Dezember 1966 wegen "schwerer chron. rez. Wurzelischialgien" bestehe, und begehrte Zahlung von Krankengeld über den 24. Dezember 1966 hinaus. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 23. Januar 1967 ab. Mit Bescheid vom 20. April 1967 wies die Widerspruchsstelle der Beklagten den Widerspruch zurück.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Klägerin sei während des streitigen Zeitraums zwar krank, aber nicht arbeitsunfähig gewesen, da sie vom 25. Dezember 1966 an wieder zur Verrichtung von Frauenarbeit ohne Heben und Tragen von Lasten einsatzfähig gewesen sei. Sie könne Arbeiten im Sitzen, Stehen und Umhergehen ohne Tragen und Heben von Lasten verrichten. Wenn die Klägerin vorher im wesentlichen Packarbeiten mit Heranholen (Heben und Tragen) von Kisten mit 60 Ritzeln von je 450 gr Gewicht beschäftigt gewesen sei, so sei es fraglich, ob das vom 25. Dezember 1966 an vorhandene Leistungsvermögen die Wiederaufnahme dieser Tätigkeit erlaubt habe. Diese Frage könne jedoch auf sich beruhen, weil die Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Klägerin nicht allein nach den Besonderheiten ihrer unmittelbar vor dem 7. Oktober 1966 ausgeübten Tätigkeit vorgenommen werden dürfe. Die Klägerin sei dieser ungelernten Tätigkeit bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit am 7. Oktober 1966 nur knapp drei Monate nachgegangen; diese Tätigkeit könne nicht als ihr Beruf wegen dieser kurzen Zeitspanne angesehen werden. Es müsse vielmehr eine ähnlich gelagerte Tätigkeit zugrunde gelegt werden, wie z. B. ausschließliches Verpacken und Bedienen einer Packmaschine ohne Heben und Tragen von Lasten, zumal da die Klägerin wegen Auflösung ihres Arbeitsverhältnisses mit der Firma nicht mehr auf ihren früheren Arbeitsplatz hätte zurückkehren können. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat gegen das Urteil Revision eingelegt.
Sie trägt vor: Das am 25. Dezember 1966 vorhandene Leistungsvermögen habe nicht ausgereicht, um die vorher ausgeübte Tätigkeit als Packerin wieder aufzunehmen. Die Klägerin sei daher während der streitigen Zeit arbeitsunfähig gewesen und habe damit einen Anspruch auf Fortzahlung des Krankengeldes. Denn maßgebend sei die unmittelbar vor Eintritt des Versicherungsfalles ausgeübte Erwerbstätigkeit. Der Begriff der Arbeitsunfähigkeit sei nicht von der Dauer der vor Eintritt der Erkrankung ausgeübten Beschäftigung abhängig, soweit es sich hierbei nicht nur um eine augenblickliche Zufallstätigkeit gehandelt habe. Hiervon könne aber bei einer drei Monate andauernden Tätigkeit als Packerin nicht gesprochen werden. Die Verweisung der Klägerin auf ähnlich geartete Tätigkeiten wie ausschließliches Verpacken oder Bedienen einer Packmaschine ohne Heben und Tragen sei nicht zulässig, weil es sich um grundsätzlich anders geartete Tätigkeiten handele. Die Arbeitsunfähigkeit werde nicht durch die Möglichkeit ausgeschlossen, den Erwerbsverlust durch Übergang in andere Berufstätigkeiten zu beseitigen.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG Niedersachsen vom 14. April 1970 und des Urteils des SG Hildesheim vom 6. Mai 1969 sowie der Bescheide der Beklagten vom 23. Januar 1967 und 20. April 1967 die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin für die Zeit vom 25. Dezember 1966 bis zum 20. April 1967 Krankengeld in gesetzlicher Höhe zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Die Revision ist nicht begründet.
Nach § 182 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wird Krankengeld gewährt, wenn die Krankheit den Versicherten arbeitsunfähig macht. Hierzu hat der Senat in seinem Urteil vom 30. Mai 1967 (BSG 26, 288) ausgesprochen, daß ein Versicherter, der wegen seiner Krankheit nicht mehr auf seinen bisherigen Arbeitsplatz zurückkehren und auch nicht eine ähnlich geartete leichtere Erwerbstätigkeit verrichten könne, arbeitsunfähig bleibe, auch wenn sein Zustand nicht mehr besserungsfähig sei, des weiteren ist Arbeitsunfähigkeit anzunehmen, wenn diese Tätigkeiten nur auf die Gefahr hin, den Gesundheitszustand zu verschlimmern, verrichtet werden können. Die Prüfung, ob Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit vorliegt, richtet sich grundsätzlich nach der zuletzt tatsächlich ausgeübten Tätigkeit. Ob es sich dabei um gelernte oder ungelernte Arbeiten handelt, ist ohne Belang (BSG 19, 179, 181; 26, 288, 290). Die Entscheidung hängt im vorliegenden Fall davon ab, welche Arbeiten die Klägerin noch verrichten konnte. Das LSG hat es offen gelassen, ob die Klägerin ihre unmittelbar vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit verrichtete Tätigkeit wieder hätte ausüben können. Nach den unangefochtenen Feststellungen konnte sie aber in dem streitigen Zeitraum trotz ihrer Krankheit noch Arbeiten im Sitzen, Stehen und Umhergehen ohne Tragen und Heben von Lasten verrichten. Das reicht aus, um die Arbeitsunfähigkeit zu verneinen. Denn es hat sich um eine ähnlich gelagerte Tätigkeit gehandelt, die nach der genannten Entscheidung (BSG 26, 288) eine Arbeitsunfähigkeit ausschloß. Bei einer ungelernten Arbeiterin ist der Rahmen der Tätigkeiten, die ihr noch zugemutet werden können, relativ weit (vgl. auch RVA in GE 2834 vom 13. November 1924 AN 1925, 34). Sie konnte noch im Packbereich beschäftigt werden; dabei müssen die Besonderheiten der letzten Tätigkeit (auch teilweises Heben) außer Betracht bleiben. Ein ins Gewicht fallender Unterschied zwischen der anfangs verrichteten Tätigkeit (mit Heben) und der zuletzt verrichteten (ohne Heben) besteht nicht. Beide sind ungelernte Tätigkeiten ohne Vorbildung; denn auch hier handelt es sich um leichtere Arbeiten, die sich nicht wesentlich von den vorher verrichteten unterscheiden. Das muß insbesondere dann gelten, wenn wie hier das Arbeitsverhältnis nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit gelöst wurde. Die Klägerin war daher in dem streitigen Zeitraum nicht mehr arbeitsunfähig und hat deshalb keinen Anspruch auf Krankengeld.
Die Revision muß deshalb zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen