Leitsatz (redaktionell)
Zur Frage der Überzeugung von der Unrechtmäßigkeit eines Bescheides bei Nichtbeachtung der Rechtsprechung des BSG.
Orientierungssatz
Zur Frage, ob man die Tätigkeit eines Kohlenhauers und eines kaufmännischen Angestellten bei der Hauptverwaltung der Saarbergwerke als gleichartig iS des RKG § 35 aF ansehen kann.
Normenkette
RKG § 35 Fassung: 1934-05-17
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 15. Dezember 1965 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte unter entsprechender Neufassung des zweiten Satzes des Urteilsausspruches verurteilt wird, die dem Kläger entzogene Bergmannsrente nach § 93 Abs. 1 RKG neu festzustellen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Unter den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte verpflichtet ist, eine Rente neu festzustellen, die dem Kläger zwar bindend, aber nach seiner Ansicht zu Unrecht entzogen worden ist.
Die Beklagte hatte dem im Jahre 1920 geborenen Kläger - ausgehend von seinem Beruf als Kohlenhauer - ab 23. August 1954 eine Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit (BU) alten Rechts nach den §§ 37 Nr. 1 und 38 des Saarknappschaftsgesetzes (SKG) bewilligt. Die Rente wurde mit Bescheid vom 30. April 1959 ab 1. Januar 1957 auf Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit umgestellt.
Mit Bescheid vom 17. Juli 1959 entzog die Beklagte die Bergmannsrente nach § 86 Abs. 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) in Verbindung mit Art. 2 § 31 Abs. 1 des Knappschaftsversicherungs-Neuregelungsgesetzes (KnVNG), weil der Kläger als kaufmännischer Angestellter bei der Hauptverwaltung der Saarbergwerke beschäftigt und daher nicht mehr berufsunfähig im Sinne des SKG sei. Der Bescheid wurde nicht angefochten. Da die Zustellung erst im September 1959 erfolgt war, wurde die Bergmannsrente bis Ablauf des Monats Oktober 1959 gezahlt.
Am 3. Dezember 1963 beantragte der Kläger, unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 4.April 1963 - 5 RKn 28/60 - (BSG 19, 67 ff), die Entziehung gemäß § 93 Abs. 1 RKG zu überprüfen.
Mit Bescheid vom 27. Februar 1964 lehnte die Beklagte eine Neufeststellung nach § 93 Abs. 1 RKG mit der Begründung ab, sie könne sich nicht davon überzeugen, daß der Entziehungsbescheid zu Unrecht ergangen sei. Ein vom Ausschuß für Sozialpolitik des Landtages des Saarlandes eingesetzter Unterausschuß sei am 20. Juni 1951 zu dem Ergebnis gekommen, daß alle Arbeiten im Bergbau, die der knappschaftlichen Versicherung unterliegen, als gleichartig behandelt werden müßten. Daher sei die vom Kläger im Zeitpunkt der Rentenentziehung ausgeübte Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter seiner Hauptberufstätigkeit als Kohlenhauer als nicht nur im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig, sondern auch gleichartig anzusehen.
Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juli 1964 zurückgewiesen. Die dagegen erhobene Klage auf Zahlung von Bergmannsrente über den Entziehungszeitpunkt hinaus bis zum 30. Juni 1964 - ab 1. Juli 1964 erhält der Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit - hat das Sozialgericht (SG) für das Saarland mit Urteil vom 6. September 1965 unter Zulassung der Berufung abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland hat auf die Berufung des Klägers mit Urteil vom 15. Dezember 1965 das Urteil des SG, den Bescheid der Beklagten vom 27. Februar 1964 und den Widerspruchsbescheid vom 30. Juli 1964 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Rentenentziehungsbescheid vom 17. Juli 1959 aufzuheben. Zur Begründung hat es ausgeführt, bei der Überprüfung nach § 93 RKG handele es sich nicht um eine eigentliche Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers; daher unterliege diese Entscheidung in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung. Die Unrechtmäßigkeit der Rentenentziehung sei so offensichtlich, daß die Beklagte sie hätte erkennen müssen. Sie habe sowohl bei Erlaß des Entziehungsbescheides vom 17. Juli 1959 als auch bei der von ihr vorgenommenen Überprüfung nach § 93 RKG gegen das Gesetz verstoßen und schon bei der Rentenentziehung eine bereits seit Jahren vorliegende höchstrichterliche Rechtsprechung nicht beachtet. Sie hätte erkennen müssen, daß eine dem Hauptberuf als Kohlenhauer im wesentlichen gleichartige Tätigkeit nur eine bergmännische Tätigkeit sein könnte. Daher könne der Kläger einen ihn begünstigenden neuen Bescheid (Aufhebung des Entziehungsbescheides) verlangen, so daß ihm vom Zeitpunkt der Rentenentziehung bis zur Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, die Bergmannsrente nachgezahlt werden müsse.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie hält sich nicht für verpflichtet, die dem Kläger durch bindenden Bescheid vom 17. Juli 1959 entzogene Bergmannsrente im Wege der Neufeststellung nach § 93 Abs. 1 RKG über den Zeitpunkt der Entziehung hinaus weiterzugewähren. Die Entziehung sei nach dem zur Zeit der Erteilung des Entziehungsbescheides geltenden Recht nicht zu Unrecht erfolgt; habe sich nach dem Erlaß des Bescheides das Recht geändert, so werde die Entziehung dadurch nicht rechtswidrig. Die Gewährung der Rente habe auf den Vorschriften des SKG beruht. Hinsichtlich des Begriffs "Gleichartigkeit" im Sinne des § 38 SKG sei man im Saarland in ständiger Praxis davon ausgegangen, alle der knappschaftlichen Versicherung unterliegenden Arbeiten im Bergbau seien als gleichartig zu behandeln. Zu diesem Ergebnis sei der vom Ausschuß für Sozialpolitik des Saarländischen Landtages eingesetzte Untersuchungsausschuß in Anlehnung an die Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts gekommen. Das Knappschaftsoberversicherungsamt für das Saarland habe sich als höhere Spruch- und Beschlußbehörde (§ 107 SKG) diese Auffassung zu eigen gemacht und sie bis zu seiner Auflösung am 1. Januar 1959 in jahrelanger, ständiger Rechtsprechung vertreten. Die gleiche Auffassung sei bei einer Entziehung der Rente gemäß § 60 SKG in Verbindung mit § 1293 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF vertreten worden. Das BSG habe zu der Frage, ob und ggf. unter welchen Umständen eine nach den Vorschriften des SKG gewährte Rente entzogen werden könne, noch nicht Stellung genommen. Für die Beklagte habe daher keine Veranlassung bestanden, die zur Frage der Gleichartigkeit im Sinne des § 35 RKG aF ergangene Rechtsprechung des BSG auf nach § 38 SKG gewährte Renten anzuwenden. Schließlich habe sie (die Beklagte) bei der erneuten Prüfung der Rechtmäßigkeit des bindend gewordenen Rentenentziehungsbescheides auch berücksichtigt, daß bis zur Einführung des RKG im Saarland (16. 9. 1958) einem Versicherten, der seine bisher verrichtete knappschaftliche Tätigkeit aus erzwungenen Gründen oder auch freiwillig aufgegeben und sich einer Angestelltentätigkeit zugewandt hatte, die Knappschaftsrente entzogen worden sei, wenn der Rentenempfänger - wie im vorliegenden Fall - auf Grund neuer Kenntnisse und Fähigkeiten in der Lage gewesen sei, eine seiner Hauptberufsarbeit im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Tätigkeit auszuüben. Wenn der Saarländische Gesetzgeber und die Saarländische Rechtsprechung in diesen Fällen die Ablehnung und Entziehung einer Rente als mit dem Zweck und Ziel der Sozialversicherung im Einklang stehend angesehen hätten und auch der bundesdeutsche Gesetzgeber jetzt diese Ansicht teile, wie sich aus § 86 Abs. 2 RKG n.F. ergebe, so sei ein Festhalten der Beklagten an der Bindungswirkung ihres Bescheides nicht als Verletzung ihrer Pflicht zu sozial angemessener Rechtsausübung anzusehen.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 6. September 1965 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 15. Dezember 1965 zurückzuweisen,
hilfsweise die Sache zur erneuten Verhandlung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für richtig; bereits zur Zeit des Erlasses des Entziehungsbescheides habe eine gefestigte Rechtsprechung des BSG vorgelegen, bei deren Beachtung die Entziehung nicht hätte erfolgen dürfen. Auf die frühere Spruchpraxis des Saarländischen Oberversicherungsamtes komme es nicht an.
II
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Nach § 93 Abs. 1 RKG hat die Beklagte die entzogene Bergmannsrente des Klägers neu festzustellen, wenn sie sich bei erneuter Prüfung davon überzeugt, daß sie dem Kläger diese Rente zu Unrecht entzogen hat. Als "überzeugt" von der Unrechtmäßigkeit der Ablehnung ist der Versicherungsträger anzusehen, wenn die Unrechtmäßigkeit so offensichtlich ist, daß er dies bei der erneuten Prüfung hätte erkennen müssen (BSG 19, 38, 43, 44). Für die Entscheidung des vorliegenden Falles ist daher zu prüfen, ob der Rentenentziehungsbescheid vom 17. Juli 1959 unrechtmäßig war und ob die Unrechtmäßigkeit so offensichtlich ist, daß die Beklagte dieses bei einer erneuten Prüfung hätte erkennen müssen.
Da eine Rentenentziehung nur erfolgen konnte, wenn der Kläger nicht mehr berufsunfähig im Sinne des § 38 SKG war und nach dieser Bestimmung ein Versicherter dann als berufsunfähig gilt, wenn er weder imstande ist, die von ihm bisher verrichtete knappschaftliche Tätigkeit noch andere im wesentlichen gleichartige und wirtschaftlich gleichwertige Tätigkeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlichen Betrieben auszuüben, mußte die Beklagte bei ihrer Entscheidung auch prüfen, ob die Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter bei der Hauptverwaltung der Saarbergwerke gleichartig mit der früher ausgeübten Tätigkeit als Kohlenhauer war. Für die Entscheidung des Rechtsstreits ist somit ausschlaggebend, ob die Annahme der Gleichartigkeit der beiden Tätigkeiten bei der Rentenentziehung so offensichtlich unrichtig war, daß die Beklagte dieses bei einer erneuten Prüfung hätte erkennen müssen.
Zur Frage der Gleichartigkeit im Sinne des § 35 RKG aF, der inhaltlich dem § 38 SKG entspricht, lag im Juli 1959 das Urteil des erkennenden Senats vom 28. März 1957 (BSG 5,73 ff) vor, in welchem - abweichend von der Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamt (RVA) - erkannt worden war, die Tätigkeiten eines Gedingeschleppers und eines kaufmännischen Angestellten in einem bergbaulichen Betrieb seien so unterschiedlich, daß man sie nicht als im wesentlichen gleichartig ansehen könne. In seinen Entscheidungen vom 12. Juli 1956 (BSG 3, 171 ff) und vom 28. März 1957 (BSG 5, 84 ff) hatte der Senat ausgeführt, daß es bei der Beurteilung der Gleichartigkeit zweier Tätigkeiten entscheidend auf die Artverwandtschaft dieser Tätigkeiten ankomme; so waren der Tätigkeit eines Hauers die Übertagetätigkeiten als erster Anschläger, als Reservefördermaschinist und als Brückenaufseher, nicht jedoch die Tätigkeiten als erster Maschinist oder Lokomotivführer als im wesentlichen gleichartig angesehen worden.
Die Beklagte hätte bei Erlaß des Rentenentziehungsbescheides vom 17. Juli 1959 unschwer feststellen können, daß das BSG bewußt von der Rechtsprechung des früheren RVA abgewichen war und daß nach seiner gefestigten Rechtsprechung eine Gleichartigkeit der Tätigkeit eines Kohlenhauers mit der eines kaufmännischen Angestellten bei der Hauptverwaltung der Saarbergwerke nicht angenommen werden konnte. Es konnte damit erkennen, daß der Kläger hiernach noch als berufsunfähig im Sinne des § 35 RKG aF und damit auch im Sinne des § 38 SKG anzusehen war. Diese Rechtsprechung des BSG konnte insbesondere deshalb als gesichert angesehen werden, weil es sich um die Auslegung einer Rechtsvorschrift handelte, die seit der Rentenversicherungsreform des Jahres 1957 kein aktuelles Recht mehr war und nur noch für Knappschaftsrenten alter Art bedeutsam werden konnte. Der Umstand, daß das Saarländische Oberversicherungsamt - ebenso wie das frühere RVA - die Auffassung vertreten hatte, alle Arbeiten im Bergbau, die der knappschaftlichen Versicherung unterliegen, seien als gleichartig anzusehen, konnte für die Beklagte im Juli 1959 kein Grund mehr dafür sein, die oben erwähnte Rechtsprechung des BSG unberücksichtigt zu lassen. Mindestens seit der Einführung des bundesdeutschen Knappschaftsrechts und der Sozialgerichtsbarkeit im Saarland (Gesetz Nr. 635 bzw. Gesetz Nr. 629, beide vom 18. Juni 1958) mußte die Beklagte bei der Auslegung des § 38 SKG die im Bundesgebiet geübte feste und ständige Rechtsprechung zu § 35 RKG beachten, zumal § 38 SKG dem vorher auch im Saarland in Kraft gewesenen § 35 RKG aF nachgebildet worden war und auch inhaltlich der bundesdeutschen Regelung entsprechen sollte. Daß die Beklagte die feste und ständige Rechtsprechung des BSG bei der Entziehung der Rente des Klägers unbeachtet gelassen hat, genügt für die Annahme, daß die Rentenentziehung offensichtlich unrechtmäßig war. Es kann nicht gefordert werden, daß die Rechtsauslegung von jedem ernstlich vertretbaren Zweifel frei ist. Es genügt, daß sie sich in gesicherter Judikatur durchgesetzt hat. Eine weitergehende Forderung würde dem § 93 RKG einen großen Teil seiner Wirkung nehmen (vgl. SozR Nr. 6 zu RVO § 1300).
Daß der Gesetzgeber bei der Reform des Rentenversicherungsrechts im Jahre 1957 als Voraussetzung der Bergmannsrente bei den noch ausübbaren Tätigkeiten nicht mehr das Erfordernis der Gleichartigkeit zur früher verrichteten knappschaftlichen Arbeit aufrechterhalten hat, kann die Entscheidung dieses Rechtsstreits nicht beeinflussen. Schon in seiner Entscheidung vom 28.März 1957 (BSG 5,83) hat der erkennende Senat darauf hingewiesen, es könne zutreffen, daß die Beachtung der Forderung der "wesentlichen Gleichartigkeit" in Grenzfällen zu unbillig scheinenden Ergebnissen führe. Dies abzustellen sei jedoch Aufgabe des Gesetzgebers, der das auch in dem damals schon vorliegenden Entwurf für die Knappschaftsrentenreform vorgesehen habe.
Da bei einer Beachtung der genannten höchstrichterlichen Entscheidungen dem Kläger die Bergmannsrente durch den Bescheid vom 17. Juli 1959 nicht hätte entzogen werden können, weil er immer noch berufsunfähig im Sinne des § 38 SKG war, mußte der Antrag des Klägers, die Rentenentziehung gemäß § 93 Abs. 1 RKG zu überprüfen, zur Neufeststellung der entzogenen Bergmannsrente führen.
Die teilweise Neufassung der Urteilsformel war geboten, weil sich aus § 93 Abs. 1 RKG zwar eine Verpflichtung zur Neufeststellung, nicht aber zur Aufhebung eines bindend gewordenen Rentenentziehungsbescheids ergibt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen