Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 12.03.1996) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 12. März 1996 insoweit aufgehoben, als es den Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit betrifft. Insoweit wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit hat.
Der 1937 geborene Kläger hat keinen Ausbildungsberuf mit formalem Abschluß. Eine Ausbildung zum Polsterer in den Jahren 1952 bis 1954 schloß er nicht ab. Von 1962 bis 1966 war er als Bauhilfsarbeiter und anschließend bis 1973 als Hilfsarbeiter tätig. Ab Mai 1976 arbeitete er als Straßenbaufacharbeiter. Ausweislich einer von der Beklagten eingeholten Arbeitgeberauskunft betrug die Einarbeitungszeit weniger als drei Monate. Der Kläger wurde nach der Lohngruppe IV 4.2 des Bundesrahmentarifvertrages für das Baugewerbe entlohnt. Ab 6. Juni 1991 war er arbeitsunfähig und bezog vom 6. Juli 1991 bis 27. Oktober 1992 Krankengeld. Anschließend erhielt er Arbeitslosengeld und bezieht nunmehr Arbeitslosenhilfe.
Im April 1992 beantragte der Kläger die Gewährung einer Versichertenrente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 9. Juni 1992; Widerspruchsbescheid vom 23. Oktober 1992).
Das SG Gießen hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, der Kläger sei weder erwerbs- noch berufsunfähig. Er könne noch körperlich leichte Tätigkeiten mit gewissen Einschränkungen vollschichtig ausüben. Im Hinblick auf seine zuletzt verrichtete Tätigkeit sei er als angelernter Arbeiter einzuordnen und auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar. Dort könne er unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Leistungseinschränkungen noch als Pförtner tätig sein (Urteil vom 28. Juni 1994). Das Hessische LSG hat die Berufung des Klägers durch Urteil vom 12. März 1996 zurückgewiesen und sich der Begründung des erstinstanzlichen Urteils im Ergebnis angeschlossen. Es hat festgestellt, der Kläger sei zwar nicht mehr in der Lage, die seit 1976 ausgeübte Tätigkeit als Straßenbaufacharbeiter zu verrichten. Er könne jedoch noch leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne Überkopf-Arbeiten, ohne häufiges Hocken, Bücken oder Knien, ohne Heben und Tragen von Lasten bis zu 10 kg ohne technische Hilfsmittel, in wechselnder Körperhaltung überwiegend im Sitzen und ohne Witterungseinflüsse, ohne besondere nervliche Belastung sowie ohne Schichtdienst vollschichtig ausüben. Die konkrete Benennung einer Tätigkeit sei nicht erforderlich. Der Kläger sei deshalb nicht erwerbsunfähig und auch nicht berufsunfähig. Wegen der in der Arbeitgeberauskunft genannten Einarbeitungszeit von weniger als drei Monaten sei er der Gruppe der Ungelernten zuzuordnen. Aufgrund der Entlohnung nach der Lohngruppe IV 4.2 des Bundesrahmentarifvertrages für das Baugewerbe könne er zwar maximal als Angelernter angesehen werden. Dann sei ihm aber ein beruflicher Abstieg in die nächstniedrigere Gruppe der Ungelernten zumutbar. Wenn auch Zweifel gegeben seien, ob er eine Tätigkeit als Pförtner ausüben könne, so stehe ihm der allgemeine Arbeitsmarkt mit anderen ungelernten Tätigkeiten in Industrie und Handel offen.
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts (§§ 103, 106 SGG, §§ 43, 44 SGB VI). Er trägt vor: Das LSG habe wegen der von ihm vorgelegten Stellungnahme des Arztes Dr. W. … weiter ermitteln müssen, ob er zu einer vollschichtigen Tätigkeit noch in der Lage sei. In materiell-rechtlicher Hinsicht habe das LSG ihn – entgegen der Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 9. September 1986 – 5b RJ 82/85 – SozR 2200 § 1246 Nr 140 und vom 29. Juni 1989 – 5 RJ 49/88 – SozR 2200 § 1246 Nr 169) aufgrund der Entlohnung in die Gruppe der Facharbeiter einstufen und für die Ablehnung des Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit ihm eine zumutbare Anlerntätigkeit benennen müssen. Sofern im übrigen die bei ihm festgestellten Leistungseinschränkungen nicht bereits eine sog Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen darstellten und schon nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit erforderten, sei schließlich eine Benennung jedenfalls deshalb notwendig, weil für die Versichertengruppe, welcher der Kläger angehöre, eine erhebliche Gefahr der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes bestehe, wie sich aus den Vorlagebeschlüssen des 13. Senats an den Großen Senat des BSG vom 23. November 1994 in den Verfahren 13 RJ 19/93, 13 RJ 71/93, 13 RJ 73/93 und 13 RJ 1/94 ergebe.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Gießen vom 28. Juni 1994 und des Hessischen Landessozialgerichts vom 12. März 1996 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Juni 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Oktober 1992 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. April 1992 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, zu gewähren,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
1. Die Revision des Klägers ist unbegründet, soweit sie einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit betrifft. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß dem Kläger eine solche Rente nicht zusteht.
Daß der Kläger die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung erfüllt, ist nicht zweifelhaft. Er ist indessen nicht erwerbsunfähig. Erwerbsunfähig sind nach § 44 Abs 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt. Diese Voraussetzungen liegen beim Kläger nicht vor. Das LSG hat festgestellt, daß er noch körperlich leichte Arbeiten mit näher bezeichneten Einschränkungen vollschichtig verrichten kann. Diese Feststellungen sind nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden und damit für den Senat bindend (§ 163 SGG). Insbesondere brauchte das LSG sich im Hinblick auf die vorgelegte Stellungnahme des Arztes Dr. W. … nicht gedrängt zu fühlen, das gesundheitliche Leistungsvermögen des Klägers weiter aufzuklären. Das LSG hat sich im angefochtenen Urteil mit dieser ärztlichen Äußerung kritisch auseinandergesetzt und ist zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, daß es keiner weiteren Sachaufklärung bedürfe. Gegen die Beweiswürdigung hat der Kläger keine begründeten Verfahrensrügen erhoben. Sein Vorbringen, das LSG habe das Leistungsvermögen falsch beurteilt, reicht hierfür nicht aus.
Mit dem festgestellten Leistungsvermögen muß sich der Kläger im Rahmen des Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisen lassen, ohne daß ihm eine andere, von ihm noch leistbare Arbeit dem Tätigkeitstyp nach benannt zu werden braucht. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß im Rahmen von § 1247 RVO, dem die Nachfolgevorschrift des § 44 SGB VI entspricht, jeder Versicherte – anders als bei der Rente wegen Berufsunfähigkeit – pauschal auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden kann, wobei der Versicherte grundsätzlich auch einen wesentlichen sozialen Abstieg in Kauf nehmen muß, solange er im Rahmen seiner objektiven Leistungsfähigkeit noch tätig sein kann (vgl BSG, Urteil vom 28. August 1991 – 13/5 RJ 47/90 – SozR 3-2200 § 1247 Nr 8 mwN). Allerdings besteht auch bei der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit die Pflicht, eine Verweisungstätigkeit namentlich „konkret”) zu benennen, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt (BSG, Urteile vom 1. März 1984 – 4 RJ 43/83 – SozR 2200 § 1246 Nr 117, vom 6. Juni 1986 – 5b RJ 42/85 – SozR § 1246 Nr 136, vom 28. August 1991 – 13/5 RJ 47/90 – SozR 3-2200 § 1247 Nr 8 und vom 14. September 1995 – 5 RJ 50/94 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 50). Darüber hinaus ist trotz vollschichtigen Leistungsvermögens eines Versicherten für ihn die Fähigkeit, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder mehr als geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit zu erzielen (§ 44 Abs 2 Satz 1 SGB VI), dann nicht gegeben, wenn er nur noch Vollzeitarbeitsplätze ausfüllen kann, die in dieser Weise typischerweise in der Arbeitswelt als Erwerbsmöglichkeiten nicht vorhanden sind, oder wenn er nur noch Vollzeittätigkeiten auszuüben vermag, bei denen wegen ihrer Seltenheit zumindest die erhebliche Gefahr einer „Verschlossenheit des Arbeitsmarktes” besteht (zu diesen sog Seltenheits- oder Katalogfällen vgl etwa BSG, Urteile vom 25. Juni 1986 – 4a RJ 55/84 – SozR 2200 § 1246 Nr 137 und vom 9. September 1986 – 5b RJ 50/84 – SozR 2200 § 1246 Nr 139). Wie im Senatsurteil vom 14. September 1995 (5 RJ 50/94 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 50) im einzelnen ausgeführt, ist die bisherige Rechtsprechung des BSG zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes nicht ergänzungsbedürftig.
Nach den Feststellungen des LSG besteht jedoch kein Anhalt dafür, daß beim Kläger der eine oder der andere Ausnahmefall vorlag. Insbesondere stellten die beim Kläger bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen qualitativer Art keine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen dar. Vielmehr handelt es sich um eine Mehrzahl bloß gewöhnlicher Leistungseinschränkungen, die nicht dazu führen, daß der Kläger nur noch unter nicht betriebsüblichen Arbeitsbedingungen hätte arbeiten können.
Soweit der Kläger sich zur Begründung seiner Revision auf die Vorlagebeschlüsse des 13. Senats des BSG vom 23. November 1994 in den Verfahren 13 RJ 19/93, 13 RJ 71/93, 13 RJ 73/93 und 13 RJ 1/94 bezieht, hält der Senat sein Vorbringen für unerheblich und verweist auf die Gründe seines Urteils vom 14. September 1995 (5 RJ 50/94 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 50) und vom 12. Juni 1996 (5 RJ 2/96 – SozR 3-2600 § 43 Nr 11). In diesen Entscheidungen ist auch ausgeführt, daß der Senat wegen der Vorlage zur Rechtsfortbildung nach § 41 Abs 4 SGG an einer Entscheidung nicht gehindert ist und der Kläger bei einer abweichenden Entscheidung des Großen Senats nach Maßgabe der §§ 44 ff SGB X geschützt wird. Daß dieser Schutz nur längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren in die Vergangenheit zurückreicht, ist eine sozialpolitische Entscheidung des Gesetzgebers, die als Grundsatzregelung für alle Fälle einer nachgeholten Leistungserbringung – dh nicht nur für Streitigkeiten wie die vorliegende – gilt, und die der Senat nicht dadurch korrigieren kann, daß er entscheidungsreife Sachen unentschieden läßt.
Im übrigen hat der Gesetzgeber durch die im Zweiten Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (Zweites SGB VI-Änderungsgesetz – 2. SGB VI-ÄndG) vom 2. Mai 1996 (BGBl I S 659) vorgenommene Ergänzung des § 43 Abs 2 SGB VI klargestellt, daß nicht berufsunfähig ist, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist. Entsprechend steht ein vollschichtiges Leistungsvermögen – ohne Berücksichtigung der jeweiligen Arbeitsmarktlage – erst recht der Annahme von Erwerbsunfähigkeit entgegen, § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI. Dies gilt gemäß § 302b Abs 3 SGB VI idF des 2. SGB VI-ÄndG für alle Versicherten, deren Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 1. Juni 1996 noch nicht begonnen hat. Im vorliegenden Fall hat die vom Kläger begehrte Rente, da über sie noch nicht abschließend „rechtskräftig”) entschieden ist, noch nicht „begonnen”.
2. Hinsichtlich des Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit ist die zulässige Revision in dem Sinne begründet, daß das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung nicht zu. Das LSG wird noch Feststellungen nachzuholen haben, wie lange der Kläger als Straßenbaufacharbeiter mit Entlohnung nach Lohngruppe IV 4.2 des Bundesrahmentarifvertrages für das Baugewerbe tätig gewesen ist und welchen Wert diese Tätigkeit des Klägers hatte.
Berufsunfähig nach § 43 Abs 2 Satz 1 SGB VI ist ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Nach Satz 2 der genannten Vorschrift umfaßt der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Bisheriger Beruf iS dieser Vorschrift ist nach der Rechtsprechung des BSG in der Regel die zuletzt auf Dauer verrichtete versicherungspflichtige Tätigkeit des Versicherten. Hiervon ausgehend hat das LSG den bisherigen Beruf des Klägers nicht hinreichend ermittelt. Zwar ist das LSG aufgrund der festgestellten und nicht mit zulässigen Verfahrensrügen angegriffenen Tatsachen unter Würdigung der einschlägigen Rechtsprechung des Senats rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gelangt, daß dem Kläger wegen der Arbeitgeberauskunft sowie der Entlohnung seiner letzten Tätigkeit kein Facharbeiterstatus zugebilligt werden kann und er im Rahmen des sog Mehrstufenschemas allenfalls als Angelernter anzusehen ist. Für die anschließende Beurteilung der Frage, ob dem Versicherten eine Verweisungstätigkeit zu benennen ist, bedarf es aber der Feststellung, ob die zuletzt verrichtete Tätigkeit nicht nur vorübergehend ausgeübt worden ist (vgl Urteil des Senats vom 27. April 1989 – 5/5b RJ 74/87 – SozR 2200 § 1246 Nr 163) und es sich dabei um eine Anlerntätigkeit oberen oder unteren Ranges gehandelt hat. Nur im letzten Fall kann auf eine Benennung verzichtet werden (BSG, Urteil vom 29. März 1994 – 13 RJ 35/93 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 45).
Hiervon ausgehend wird die Wertigkeit der zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Straßenbaufacharbeiter anders als bisher geschehen aufzuklären und festzustellen sein. Der Senat verweist dazu auf seine Urteile vom 18. Januar 1995 (5 RJ 18/94 – SozVers 1996, 49) und 18. September 1996 (5 RJ 106/95 – MittLVA Oberfr 1997, 140). Dort ist ausgeführt worden, daß ausschlaggebend für die Zuordnung einer bestimmten Tätigkeit zu einer der im sog Mehrstufenschema enthaltenen Gruppen nicht allein die Ausbildung, sondern die Qualitätsanforderungen der verrichteten Arbeiten insgesamt sind, dh der aus einer Mehrzahl von Faktoren ermittelte Wert der Arbeit für den Betrieb auf der Grundlage der in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO bzw der in der Nachfolgevorschrift des § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI jeweils am Ende genannten Merkmale der Dauer und des Umfangs der Ausbildung sowie des bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit. Es kommt also auf das Gesamtbild an. Aufgrund dieses Gesamtbildes kann eine Tätigkeit, die nicht nach Maßgabe einer Ausbildungsordnung erlernt worden ist, einer gelernten oder angelernten gleichgestellt sein. Im Falle des Klägers ist das LSG zu dem Ergebnis gelangt, daß es sich bei der vom Kläger verrichteten Tätigkeit als Straßenbaufacharbeiter um eine allenfalls angelernte Tätigkeit gehandelt habe, weil er einerseits nach der Arbeitgeberauskunft vom 13. August 1992 weniger als drei Monate angelernt und andererseits nach der Lohngruppe IV 4.2 entlohnt worden sei. Schon die genannte Auskunft reicht jedoch nicht aus. Sie sagt nichts darüber aus, welchen qualitativen Wert die vom Kläger verrichtete Tätigkeit hatte und welche Anlernzeit in der Regel für die Tätigkeit erforderlich war; beim Kläger kann sie durchaus sehr kurz gewesen sein, weil er aufgrund seiner langjährigen vorherigen Tätigkeit Fähigkeiten und Kenntnisse mitbrachte, welche die regelmäßige Anlernzeit verkürzten.
Sofern sich nach Ermittlungen in dieser Richtung nicht bereits ergibt, daß der Kläger als Straßenbaufacharbeiter eine Anlerntätigkeit oberen Ranges verrichtet hat, wird zu prüfen sein, ob sich aus der tariflichen Einstufung etwas anderes zugunsten des Klägers ergibt. In diesem Rahmen hat das BSG nämlich tariflichen Regelungen Bedeutung beigemessen, und zwar unter zwei Gesichtspunkten: zum einen der abstrakten – „tarifvertraglichen” – Klassifizierung der Tätigkeit (iS eines verselbständigten Berufsbildes) innerhalb eines nach Qualitätsstufen geordneten Tarifvertrages, zum anderen der – „tariflichen” – Eingruppierung des Versicherten in eine bestimmte Tarifgruppe des jeweiligen Tarifvertrages durch den Arbeitgeber (BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 22/90 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 22 mwN). In beiden Bereichen sind die Folgerungen für die Wertigkeit einer Arbeit jedoch verschieden.
Soweit die Tarifvertragsparteien eine bestimmte Berufsart im Tarifvertrag aufführen und einer Tarifgruppe zuordnen, kann in der Regel davon ausgegangen werden, daß die tarifvertragliche Einstufung der einzelnen in der Tarifgruppe genannten Tätigkeiten auf deren Qualität beruht; denn die Tarifvertragsparteien als unmittelbar am Arbeitsleben Beteiligte nehmen relativ zuverlässig eine Bewertung von Berufstätigkeiten vor, die den Anforderungen auch des Mehrstufenschemas und der Qualität des Berufes in bezug auf die in § 1246 Abs 2 RVO bzw § 43 Abs 2 SGB VI genannten Merkmale entspricht. Demgemäß läßt zB die abstrakte (tarifvertragliche) Einordnung einer bestimmten Berufstätigkeit in eine Tarifgruppe, in der auch Facharbeiter eingeordnet sind, in der Regel den Schluß zu, daß diese Berufstätigkeit im Geltungsbereich des Tarifvertrages entsprechend zu qualifizieren ist. Das rechtfertigt sich aus der Annahme, daß die Tarifvertragsparteien, die die genaue Art der Arbeit im Geltungsbereich des Tarifvertrages kennen, die überdies gewohnt sind, solche Einstufungen vorzunehmen, die Tätigkeit richtig eingeordnet haben. Von dem Grundsatz, daß von der tarifvertraglichen Einstufung bei der Berufsart auszugehen ist, gelten lediglich Ausnahmen, wenn die Einstufung durch qualitätsfremde Merkmale bestimmt ist.
Der Kläger ist von seinem Arbeitgeber nach dem gemeinsamen Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe entlohnt worden. Daß dieser Tarifvertrag nach Qualitätsstufen geordnet ist, hat das LSG festgestellt, ohne daß dies in rechtlicher Hinsicht zu beanstanden wäre. Dieser Tarifvertrag enthält allerdings keine Einordnung des Straßenbaufacharbeiters in eine der Tarifgruppen. Die Lohngruppe IV, in der der Kläger sich befand, ist nur durch die Bezeichnung „gehobener Baufacharbeiter” definiert, ohne daß der Straßenbaufacharbeiter oder die an diese Tätigkeit gestellten Anforderungen genannt wären. Insoweit ist zwar die Wertung des LSG nicht zu beanstanden, daß die Lohngruppe IV, die rangmäßig hinter der Facharbeiter-Lohngruppe III „Spezialbaufacharbeiter”) steht, im Lohngruppengefüge des Tarifvertrages sog Anlerntätigkeiten betrifft. Das LSG hat es dann aber an der notwendigen Wertung fehlen lassen, ob es sich bei dem „gehobenen Baufacharbeiter” um einen Angelernten oberen oder unteren Ranges handelt. Angesichts des Umstandes, daß nach den jeweiligen Gruppenbezeichnungen die Lohngruppe IV rangmäßig höher steht als die nachfolgenden Lohngruppen, welche nach ihrer Bezeichnung „Baufacharbeiter”, „Baufachwerker”, „Bauwerker”) qualitativ niedrigere Anlerntätigkeiten enthalten, könnte es naheliegen, entgegen der Auffassung des LSG die in Lohngruppe IV genannten gehobenen Baufacharbeiter unter Berücksichtigung der Urteile des Senats vom 18. Januar 1994 (5 RJ 18/94 – SozVers 1996, 49) und 18. September 1996 (5 RJ 106/95 – MittLVA Oberfr 1997, 140) als Angelernten oberen Ranges anzusehen.
Der tariflichen Zuordnung des einzelnen Versicherten durch den Arbeitgeber kommt allerdings ebenfalls eine – allerdings schwächere – Bedeutung zu. In diesem Rahmen wird das LSG zunächst zu beachten haben, daß die Lohngruppe IV – wie erwähnt – die Tätigkeit eines Angelernten oberen Ranges betreffen kann. Die Eingruppierung durch den Arbeitgeber ist ein Anhaltspunkt dafür, daß die vom Versicherten ausgeübte Tätigkeit in ihrer Wertigkeit der Berufs- und Tarifgruppe entspricht, nach der er bezahlt wird. Das ist in der Rechtsprechung des BSG mitunter als „Indiz” oder „Anhalt” bezeichnet worden. Die Richtigkeit dieser Eingruppierung kann aber durchaus „widerlegt” werden (BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 22/90 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 22 mwN). Dies geschieht dadurch, daß die Einordnung des Versicherten in die Tarifgruppe anhand der abstrakten Merkmale einerseits und der Tatsachen andererseits geprüft wird, deren Feststellung die abstrakten Merkmale fordern. Rechtfertigen die tatsächlichen Feststellungen die Einordnung in die Tarifgruppe nicht, so steht fest, daß der Arbeitgeber die Einordnung in die tarifliche Lohngruppe zu Unrecht vorgenommen hat oder daß er Gründe gehabt hat, die jedenfalls nicht qualitativer Art sind. Handelt es sich aber, wie im vorliegenden Fall, um eine lediglich allgemeine Beschreibung der Voraussetzungen der Lohngruppe, bei der dem Arbeitgeber ein erheblicher Spielraum verbleibt, welche Tatsachen er zum Anlaß nehmen will, seinen Arbeitnehmer, der keine formelle Berufsausbildung hat, in eine (höhere) Lohngruppe einzuordnen, so muß das Gericht nachprüfen, von welchen tatsächlichen Voraussetzungen der Arbeitgeber bei der Einstufung des Arbeitnehmers in das Tarifgefüge ausgegangen ist. Denn nur dann ist die Beurteilung möglich, ob der Arbeitgeber die Einstufung nach den vom Tarifvertrag vorgegebenen qualitativen Anforderungen an die Tätigkeit vorgenommen hat oder sachfremde Gründe für ihn leitend gewesen sind.
Sollte der Kläger hiernach im Mehrstufenschema als Angelernter oberen Ranges einzugruppieren sein, wird sich für das LSG die Frage stellen, welche zumutbare Verweisungstätigkeit namentlich benannt werden kann. Die pauschale Verweisung des LSG auf ungelernte Tätigkeiten in Industrie und Handel würde hierfür allerdings nicht ausreichen, weil weder erkennbar ist, welche durch Qualitätsmerkmale herausgehobene ungelernte Tätigkeit dem Kläger zugemutet wird, noch überprüft werden kann, ob er dieser konkreten Tätigkeit gewachsen ist (BSG, Urteil vom 29. März 1994 – 13 RJ 35/93 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 45).
Das angefochtene Urteil kann auf der gerügten fehlerhaften Rechtsanwendung und der infolgedessen unterbliebenen weiteren Sachaufklärung beruhen, denn bei weiteren Ermittlungen wäre ein Anspruch des Klägers auf Rente wegen Berufsunfähigkeit möglicherweise anders beurteilt worden.
Da der Senat die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, war die Sache insoweit an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Fundstellen