Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit. sonstiger Ausbildungsberuf. tarifliche Gleichstellung
Orientierungssatz
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG kann ein Facharbeiter nur auf Tätigkeiten iS des § 1246 Abs 2 S 2 RVO zumutbar verwiesen werden, die entweder in die Gruppe der Facharbeitertätigkeiten mit einer Ausbildungsdauer von mindestens zwei Jahren oder in die Gruppe der sonstigen Ausbildungsberufe (Anlernberufe) gehören. Darüber hinaus kann ein Facharbeiter auf ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden, wenn diese infolge besonderer Qualifikationsmerkmale tariflich wie angelernte Tätigkeiten eingestuft sind (vgl BSG 1981-12-09 1 RJ 124/80 = SozR 2200 § 1246 Nr 86).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 15.07.1981; Aktenzeichen L 8 J 29/80) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 10.01.1980; Aktenzeichen S 11 J 21/78) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht (§ 1246 Reichsversicherungsordnung -RVO-).
Der 1929 geborene Kläger arbeitete zunächst als Schiffsjunge und als Matrose in der Binnenschiffahrt. Ab 1950 war er dann in der Eisen- und Stahlindustrie nacheinander als zweiter und erster Maschinist sowie ab 1958 als Obermaschinist beschäftigt. Nachdem er im Oktober 1975 einen Herzinfarkt erlitten hatte, ist er seit dem 26. Oktober 1976 bei seiner bisherigen Arbeitgeberin in der Werkzeugausgabe tätig und erhält im Rahmen der tariflichen Verdienstsicherung 90 vH seines Lohnes als Obermaschinist. Die Beklagte gewährte dem Kläger vom 7. April bis zum 19. Mai und vom 1. bis zum 7. September 1976 Heilmaßnahmen. Mit Bescheid vom 16. August 1977 erkannte sie bei ihm Erwerbsunfähigkeit auf Zeit vom 14. Oktober 1975 bis zum 25. Oktober 1976 an.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 26. Oktober 1976 zu gewähren (Urteil vom 10. Oktober 1980). Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 15. Juli 1981). Es hat ausgeführt, als Obermaschinist sei der Kläger versicherungsrechtlich der Berufsgruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen. Gesundheitlich sei er nicht mehr in der Lage, diese Tätigkeit oder Arbeiten in einem anerkannten oder sonstigen Ausbildungsberuf oder tariflich wie sonstige Ausbildungsberufe bewertete Tätigkeiten zu verrichten. Seine jetzige nach der Lohngruppe 4 des Lohnrahmentarifvertrages für die Eisen- und Stahlindustrie in Nordrhein-Westfalen (NW) entlohnte Tätigkeit in der Werkzeugausgabe könne nicht zur Gruppe der sonstigen Ausbildungsberufe gezählt werden. Die Verdienstsicherung müsse bei der qualitativen Bewertung dieser Tätigkeit außer Betracht bleiben.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt eine Verletzung des § 1246 RVO. Entgegen der Ansicht des LSG sei die vom Kläger seit dem 26.Oktober 1976 ausgeübte Tätigkeit ihm zuzumuten. Sie hebe sich aus dem Kreis der ungelernten Tätigkeiten aufgrund besonderer Merkmale heraus, wofür auch die tarifliche Eingruppierung als wichtiges Indiz spreche. Wenn das LSG einen Facharbeiter nur auf solche Tätigkeiten verweisen wolle, die tariflich wie Tätigkeiten eingestuft seien, für die eine Ausbildungszeit von zwei Jahren oder eine gleich zu bewertende betriebliche Ausbildung erforderlich sei, so könne das mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht in Einklang gebracht werden.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Urteile des SG und des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist begründet.
Ausgangspunkt für die Prüfung des Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit (§ 1246 Abs 2 RVO) ist die "bisherige Berufstätigkeit" des Klägers. Als Obermaschinist hat das LSG ihn derjenigen Berufsgruppe zugeordnet, die durch den Leitberuf des Facharbeiters gekennzeichnet ist. Dagegen wendet sich die Beklagte nicht, und das angefochtene Urteil läßt auch insoweit keine unrichtige Rechtsanwendung erkennen. Da der Kläger seinen "bisherigen Beruf" nicht mehr auszuüben vermag, kann er nach der ständigen Rechtsprechung des BSG nur auf Tätigkeiten iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbar verwiesen werden, die entweder in die Gruppe der Facharbeitertätigkeiten mit einer Ausbildungsdauer von mindestens zwei Jahren oder in die Gruppe der sonstigen Ausbildungsberufe (Anlernberufe) gehören. Darüber hinaus kann ein Facharbeiter auf ungelernte Tätigkeiten nur verwiesen werden, wenn diese infolge besonderer Qualifikationsmerkmale tariflich wie angelernte Tätigkeiten eingestuft sind (vgl Urteile des erkennenden Senats in SozR 2200 § 1246 Nrn 38, 71 und aus der neueren Rechtsprechung des BSG aaO Nr 86 mwN). Die Feststellungen des LSG haben ergeben, daß der Kläger nach der Gruppe 4 des Lohnrahmentarifvertrages für die Eisen- und Stahlindustrie NW entlohnt wird. Auf die davon erfaßten Tätigkeiten kann ein ehemaliger Facharbeiter zumutbar verwiesen werden, weil diese Gruppe zu den sonstigen Ausbildungsberufen iS der genannten Rechtsprechung gehört.
In der Lohngruppe 4 sind nämlich Arbeiten aufgeführt, die zu ihrer Ausführung ein Können verlangen, wie es entweder durch ein Anlernen von mehr als sechs Monaten oder durch ein Anlernen von mehr als einem Monat und zusätzlicher Erfahrung von mindestens sechs Monaten erworben wird. Die zuerst genannten Tätigkeiten gehören zur Gruppe der sonstigen Ausbildungsberufe, weil sie eine echte betriebliche Ausbildung von weniger als 2 Jahren erfordern, die über eine bloße Einarbeitung und Einweisung hinausgeht. Aber auch die in der Lohngruppe 4 zuletzt genannten Tätigkeiten fallen unter die sonstigen Ausbildungsberufe iS der höchstrichterlichen Rechtsprechung, weil dort die tarifliche Gleichstellung der nur ein Anlernen von mehr als einem Monat und zusätzliche Erfahrungen von mindestens sechs Monaten erfordernden Tätigkeiten mit den - echten - sonstigen Ausbildungsberufen mit einer Anlernzeit von mehr als sechs Monaten erfolgt, ohne daß hierfür erkennbar qualitätsfremde Gründe maßgebend sind. Diese Gleichbehandlung genügt aber für die Einstufung der vom Kläger noch ausgeübten Tätigkeit in die Gruppe der sonstigen Ausbildungsberufe (vgl die Urteile des erkennenden Senats in SozR 2200 § 1246 Nrn 16 und 21).
Da somit der angefochtene Bescheid vom 16. August 1977 nicht rechtswidrig ist, mußte der Revision der Beklagten stattgegeben werden (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen