Leitsatz (amtlich)
In dem Vorbringen, das LSG habe BVG § 1 unrichtig angewandt, weil es zu Unrecht eine Gesundheitsstörung ursächlich auf eine Schädigung im Sinne des BVG zurückgeführt habe, liegt in der Regel ein Angriff gegen die tatsächlichen Feststellungen des LSG in der Richtung, daß das LSG bei der Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und bei der Sachaufklärung gegen die SGG §§ 128 Abs 1 S 1, 103 S 1 verstoßen habe.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03; BVG § 1 Fassung: 1950-12-20; SGG § 103 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. September 1955 wird aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger, geboren am 9. Dezember 1882, erhielt nach der allein noch vorhandenen Karteikarte des Versorgungsamts (VersorgA.) bis zum Jahre 1945 im Wege des Härteausgleichs Versorgungsrente wegen folgender Dienstbeschädigungen aus dem ersten Weltkrieges "Unbedeutende Metallsplitter in der rechten Lunge und Verwachsung des rechten Zwerchfelles durch Schußverletzung"; eine im zeitlichen Zusammenhang mit dem Wehrdienst beobachtete genuine Epilepsie war als Dienstbeschädigung nicht anerkannt. Er beantragte am 24. September 1951 Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Auf Grund eines Gutachtens des Versorgungsarztes erkannte das VersorgA. Köln mit Bescheid vom 6. Juni 1952 als Schädigungsfolgen "zwei Stecksplitter in der Brustwand sowie im Mittelfellbereich, Rippenverschwartung rechts, Steckschußnarbe in der rechten Lungenseite" an, lehnte aber Rente ab, da die Erwerbsfähigkeit insoweit nicht um wenigstens 25 v.H. gemindert sei; die übrigen Leiden, besonders eine Lungenerweiterung und chronische Bronchitis, seien anlage- und altersbedingt. Den Einspruch des Klägers wies der Beschwerdeausschuß des VersorgA. am 15. Mai 1953 zurück. Der Kläger legte Berufung ein; mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) am 1. Januar 1954 ging die Berufung als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Köln über. Das SG. hörte in der mündlichen Verhandlung als Gutachter Dr. S...; dieser verneinte den ursächlichen Zusammenhang der Lungenerweiterung und der Bronchitis mit dem Wehrdienst. Durch Urteil vom 25. März 1954 wies das SG. die Klage ab. Der Kläger legte Berufung beim Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen ein. Das LSG. holte ein Gutachten des P.-Krankenhauses in Bonn ein, Dr. O... und Prof. Dr. K... bestätigten am 21. April 1955 die bereits anerkannten Schädigungsfolgen: das nachweisbare Lungenemphysem sei vorwiegend die Folge eines im Alter auftretenden Elastizitätsverlustes des Lungengewebes und insoweit ein sogenanntes Altersemphysem; die chronische Bronchitis sei eine fast regelmäßige Komplikation des Lungenemphysems und führe auch zu den festgestellten Bronchiektasien; die rechtsseitige Pleuraverschwartung habe aber durch ihre Schrumpfungstendenz mit größter Wahrscheinlichkeit zu einer Verschlimmerung der vorgenannten Leiden geführt, daher sei ein Kausalzusammenhang mit der Kriegsverletzung anzunehmen; die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) sei mit Wirkung vom 1. Januar 1955 an mit 30 v.H. zu bewerten. Der Beklagte trat den Schlußfolgerungen aus dem ärztlichen Befund in dem Gutachten entgegen. Das LSG. hob durch Urteil vom 7. September 1955 das Urteil des SG. Köln und die Entscheidung des Beschwerdeausschusses auf und verurteilte, gestützt auf das Gutachten von Dr. O... und Prof. Dr. K... den Beklagten, den Bescheid des VersorgA. Köln vom 6. Juni 1952 dahin abzuändern, daß dem Kläger seit dem 1. Oktober 1951 eine Beschädigtenrente nach einer MdE. von 30 v.H. zu gewähren sei, unter zusätzlicher Anerkennung einer chronischen Bronchitis als Dienstbeschädigung; im übrigen wurde die Berufung zurückgewiesen. Die Revision ließ das LSG. nicht zu. Das Urteil wurde dem Kläger am 11. Oktober 1955, dem Beklagten am 12. Oktober 1955 zugestellt.
Der Beklagte legte am 20. Oktober 1955 Revision ein und beantragte,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Berufung in vollem Umfang zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Am 18. November 1955 begründete er die Revision:
Die Revision sei nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG statthaft, das LSG. habe bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhanges der Bronchitis mit einer Schädigung im Sinne des § 1 BVG diese Vorschrift verkannt. Die Revision sei auch begründet; die chronische Bronchitis, das Lungenemphysem und die Bronchiektasien seien reine Folgen eines altersbedingten normalen Verschleißprozesses; die Auffassung, die das LSG. in Übereinstimmung mit Dr. O... und Prof. Dr. K... vertreten habe, widerspreche sowohl der ärztlichen Lehrmeinung wie auch dem von den Gutachtern selbst ermittelten Röntgenbefund, dieser Befund weise die klassischen Symptome des normalen Altersverschleißes auf; das Gutachten besage auch nicht, daß beim Kläger eine ausgedehnte Pleuraverschwartung vorliege, und es enthalte nichts über die Vitalkapazität; auch deshalb seien die Schlußfolgerungen der Gutachter nicht haltbar; da die Bronchitis keine Schädigungsfolge sei, habe das LSG. zu Unrecht die MdE. mit 30 v.H. bewertet.
Dem Kläger wurde durch Beschluß vom 24. März 1956 für das Revisionsverfahren das Armenrecht bewilligt; er beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II.
1.) Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. In dem Vorbringen, das LSG. habe § 1 BVG unrichtig angewandt, weil es zu Unrecht eine Gesundheitsstörung ursächlich auf eine Schädigung im Sinne des BVG zurückgeführt habe, liegt im vorliegenden Fall - wie in der Regel - ein Angriff gegen die tatsächlichen Feststellungen des LSG. in der Richtung, daß das LSG. bei der Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und bei der Sachaufklärung gegen die §§ 128 Abs. 1 Satz 1, 103 Satz 1 SGG verstoßen habe; dies ergibt sich hier aus den vom Beklagten substantiiert vorgetragenen Tatsachen und Beweismitteln, die Rüge ist daher auch in der durch § 164 Abs. 2 Satz 2 gebotenen Form geltend gemacht. Es ist deshalb für die Statthaftigkeit der Revision unerheblich, daß nicht ausdrücklich Verfahrensmängel gemäß § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gerügt sind (BSG. 1 S. 227); es ist weiter unerheblich, daß der Beklagte sich für die Statthaftigkeit der Revision auf § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG berufen hat.
Der Kläger stützt seinen Anspruch nach dem BVG auf Schädigungsfolgen aus dem ersten Weltkrieg; der Anspruch kann daher nur noch geltend gemacht werden, wenn die Gesundheitsstörung auf einen vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes gestellten Antrag als Folge einer Schädigung anerkannt war oder mit einer anerkannten Gesundheitsstörung im ursächlichen Zusammenhang steht (§ 57 Abs. 2 BVG). Die chronische Bronchitis, das Lungenemphysem und die Bronchiektasien, an denen der Kläger unstreitig leidet, sind als Folgen des Wehrdienstes nach den versorgungsrechtlichen Vorschriften, die vor dem Inkrafttreten des BVG gegolten haben, nicht anerkannt gewesen, dies hat auch das LSG. nicht angenommen; es hat aber zu Unrecht festgestellt, daß diese Leiden mit anerkannten Schädigungsfolgen in ursächlichem Zusammenhang stehen. Gegen diese Feststellung sind zulässige und begründete Revisionsgründe geltend gemacht, sie ist daher für das Bundessozialgericht (BSG.) nicht bindend (§ 103 SGG). Schon im Berufungsverfahren hat der Beklagte, nachdem ihm das ärztliche Gutachten vom 21. April 1955 mitgeteilt worden war, in dem Schriftsatz vom 17. August 1955 darauf hingewiesen, daß die Befunde der Gutachter vor allem das von ihnen gefertigte Röntgenbild, die Schlußfolgerungen der Gutachter nicht zu tragen vermögen, soweit auch nur eine Verschlimmerung der altersbedingten Bronchitis durch die Folgen des Wehrdienstes angenommen worden ist. Unter diesen Umständen hätte sich das LSG. bei der Erforschung des Sachverhalts nicht mit den nicht näher begründeten und zumindest teilweise den Befunden widersprechenden Schlußfolgerungen der Gutachter mit Bezug auf den Zusammenhang des Leidens mit dem Wehrdienst begnügen dürfen, es hätte im Hinblick auf die substantiierten Einwendungen des Beklagten eine Ergänzung des Gutachtens herbeiführen, unter Umständen noch ein Obergutachten einholen müssen; der Beklagte hat in der Revision darauf hingewiesen, daß nur eine ausgedehnte Pleuraverschwartung die Bronchitis allenfalls hätte verursachen können, daß die Gutachter eine solche ausgedehnte Pleuraverschwartung rechts aber nicht festgestellt haben und daß nach dem Röntgenbild auch die Bronchiektasien beiderseits ausgebildet sind und nicht nur auf der von der Schußverletzung betroffenen Brustseite. Das LSG. hat, wenn es dem insoweit nicht überzeugenden Gutachten von Dr. O... und Professor Dr. K... gefolgt ist, die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen, überschritten (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG), zugleich hat es auch gegen die Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, verstoßen (§ 103 SGG). Hierin liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens, den der Beklagte auch gerügt hat. Unter diesen Umständen kann dahingestellt bleiben, ob die Revision auch nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG statthaft wäre.
2.) Die Revision des Beklagten ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG., wenn es sich bei der Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens in den Grenzen des § 128 SGG hält und den Sachverhalt weiter aufklärt, zu anderen tatsächlichen Feststellungen und damit auch zu einer anderen Entscheidung kommt. Das Urteil des LSG. beruht mithin auf den gerügten Mängeln des Verfahrens (§ 162 Abs. 2 SGG). Es ist deshalb aufzuheben. Gleichzeitig ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, weil das bisherige Ergebnis der Beweisaufnahme für eine Entscheidung nicht ausreicht. Das LSG. hat den Beklagten verurteilt, "die chronische Bronchitis" als Schädigungsfolge anzuerkennen, damit also als ein durch den Wehrdienst hervorgerufenes und nicht etwa nur als ein durch den Wehrdienst verschlimmertes Leiden; es wird bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung zunächst klarzustellen haben, ob durch den Wehrdienst das Leiden hervorgerufen oder ob es nur verschlimmert worden ist; auch Dr. O... und Prof. Dr. K... sind in ihrem Gutachten davon ausgegangen, die nach früheren versorgungsrechtlichen Vorschriften anerkannte Pleuraverschwartung (Rippenfellverschwartung) habe - nur - eine Verschlimmerung der chronischen Bronchitis hervorgerufen. Das LSG. würde, falls eine Verschlimmerung des Leidens anzuerkennen wäre, weiterhin zu prüfen haben, ob das Ergebnis der Ermittlungen ausreicht, den Beklagten zu verurteilen, Rente nach einer MdE. von 30 v.H. schon vom 1. Oktober 1951 an zu gewähren; Dr. O... und Prof. Dr. K... haben die MdE., soweit sie auf den Wehrdienst zurückzuführen ist, ausdrücklich erst "mit Wirkung vom 1. Januar 1955 an" mit 30 v.H. bewertet.
Fundstellen