Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeitsrente aus der Angestelltenversicherung. Wartezeiterfüllung bei Berufsunfähigkeit wegen Feindeinwirkung. soziale Betroffenheit

 

Orientierungssatz

1. Im Rahmen des § 1263a Abs 1 Nr 3 RVO aF kann für die Prüfung, ob der Versicherte infolge Feindeinwirkung berufsunfähig geworden ist und deshalb die Wartezeit als erfüllt gilt, nur auf die in der Zeit vor der Feindeinwirkung ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung abgestellt werden.

2. Hat der Versicherte die effektiv gegebene Möglichkeit, seine geminderte Erwerbsfähigkeit noch so zu verwerten, und sei es auch nur mit Hilfe des SchwbG, daß sein Verdienst in krassen Mißverhältnis zu dem vollen Verdienst des gesunden vergleichbaren Versicherten steht, so fehlt es jedenfalls, solange der Versicherte diese Möglichkeit nutzt, von vornherein an der vom Gesetz vorausgesetzten besonderen sozialen Betroffenheit des Versicherten, der das Gesetz mit der Gewährung jeder Rente wegen Berufsunfähigkeit allein entgegenwirken will, nämlich die infolge einer gesundheitsbedingten MdE eintretende Minderung des Erwerbseinkommens wenigstens zum Teil auszugleichen.

 

Normenkette

AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1263a Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1949-06-17; AVG § 31 Fassung: 1945-03-17; SchwbG

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 27.09.1972)

SG Duisburg (Entscheidung vom 08.11.1962)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 27. September 1972 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger begehrt Rente wegen Berufsunfähigkeit. Streitig ist, ob er infolge Feindeinwirkung berufsunfähig geworden ist und deshalb die Wartezeit nach § 31 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) iVm § 1263 a Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Fassung (aF) als erfüllt gilt.

Der im Oktober 1919 geborene Kläger war von Januar bis März 1939 als Praktikant in der D. K. in ... beschäftigt. Für ihn sind für diese Zeit Beiträge zur Invalidenversicherung wirksam entrichtet worden. Infolge Schielschwachsichtigkeit ist sein Sehvermögen auf dem rechten Auge seit seiner Kindheit herabgesetzt. Das linke Auge ist seit Herbst 1946 infolge einer am 23. Juli 1942 erlittenen Feindeinwirkung nach Netzhautablösung erblindet.

Der Kläger studierte Rechtswissenschaft. Nach Ablegung der Zweiten juristischen Staatsprüfung war er zunächst im März 1955 als Angestellter beschäftigt. Seit dem 20. April 1955 ist er im Justizdienst tätig. Er war zuerst Hilfsinspektor und ab 15. Dezember 1959 Justizinspektor z.A.. Für die Zeit vom 2. bis 12. März 1955 und vom 1. März 1956 bis zum 30. Juni 1958 sind für ihn Beiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet worden. Mit Wirkung vom 1. August 1960 wurde der Kläger zum Justizinspektor (Beamter auf Lebenszeit) ernannt und dann mit Wirkung vom 1. März 1964 zum Justizoberinspektor mit Wirkung vom 1. Januar 1972 zum Justizamtmann befördert.

Die Erblindung des linken Auges ist als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) anerkannt. Der Kläger erhält eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v.H. sowie Berufsschadensausgleich (Bescheide vom 13. April 1972 und vom 12. Juli 1972).

Am 11. August 1956 beantragte der Kläger bei der Beklagten, ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 9. Oktober 1958 ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei. Mit der gegen den Bescheid erhobenen Klage berief sich der Kläger darauf, er sei infolge Feindeinwirkung berufsunfähig geworden; die Wartezeit gelte daher als erfüllt. Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat die Klage durch Urteil vom 8. November 1962 abgewiesen.

Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hatte die Berufung des Klägers durch Urteil vom 14. Mai 1965 zurückgewiesen, weil der Kläger nicht berufsunfähig sei. Der erkennende Senat hatte dieses Urteil durch Urteil vom 23. März 1966 aufgehoben und den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen, weil seine Annahme, der Kläger sei nicht berufsunfähig, auf einem unzulänglich geklärten Sachverhalt beruhe. Darauf hatte das LSG durch Urteil vom 20. März 1970 die Berufung des Klägers erneut zurückgewiesen; es hatte nunmehr den Anspruch auf Rente deswegen für unbegründet gehalten, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei und auch nicht nach § 31 AVG aF iVm § 1263 a Abs. 1 Nr. 3 RVO aF als erfüllt gelte: nach den eingeholten ärztlichen Sachverständigengutachten könne mit der vom Gesetz geforderten, an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht festgestellt werden, daß der Kläger infolge Feindeinwirkung berufsunfähig geworden sei (ZfS 1970, 228 ff). Dieses Urteil hatte der erkennende Senat durch Urteil vom 16. Februar 1971 (SozR Nr. 15 zu § 1263 a RVO aF) aufgehoben und ausgesprochen, daß zur Anerkennung einer Berufsunfähigkeit begründenden Gesundheitsstörung als Folge einer durch Feindeinwirkung erlittenen gesundheitlichen Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs genüge. Der Rechtsstreit wurde erneut an das LSG zurückverwiesen.

Mit Urteil vom 27. September 1972 hat das LSG unter Zulassung der Revision die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Duisburg vom 8. November 1962 wiederum zurückgewiesen. Seine Entscheidung hat es nunmehr darauf gestützt, die Erblindung des linken Auges des Klägers im Herbst 1946 stehe zwar mit der Feindeinwirkung am 23. Juli 1942 in einem ursächlichen Zusammenhang. Der Kläger sei aber in dem hier bedeutsamen Zeitraum seit August 1956 nicht berufsunfähig i.S. des § 23 Abs. 2 AVG. Er müsse sich auf die von ihm seit 1956 ausgeübte Tätigkeit im gehobenen Justizdienst verweisen lassen, in der er nicht nur vergönnungsweise beschäftigt werde. Nach den erstatteten ärztlichen Sachverständigengutachten werde vom Kläger bei dieser Arbeit kein unzumutbarer Energieaufwand gefordert; bei der Arbeit am Schreibtisch habe weder die Gefahr bestanden noch bestehe sie, daß sich sein Sehvermögen weiter verschlechtere oder daß er das verbliebene Sehvermögen verliere.

Die Leistung des Klägers habe im Jahre 1956 etwa die Hälfte eines Gesunden betragen, während sie jetzt zwischen der Hälfte und einem Drittel liege. Sein Arbeitseinsatz sei bei seiner Dienststelle seit vielen Jahren auf eine Arbeitszeit beschränkt, die im Durchschnitt nicht viel mehr als einen halben Arbeitstag umfasse. Das stimme auch mit der Auffassung der ärztlichen Sachverständigen überein, daß der Kläger im Jahre 1956 das Doppelte an Zeit im Vergleich zu einem Normalsichtigen gebraucht habe und jetzt die zwei- bis dreifache Zeit, wobei die notwendigen Pausen berücksichtigt seien. Die Arbeiten, die er als Beamter im gehobenen Justizdienst leiste, erbringe er mit hinreichender Qualität. Gehe man, um seiner Sehbehinderung gerecht zu werden, für den gesamten Zeitraum ab August 1956 von einem Drittel der gewöhnlichen Arbeitsleistung aus, so habe er mit dem auf diese Weise zu einem Drittel "echt" verdienten Gehalt stets mehr als die Hälfte dessen erlangt, was ein vergleichbarer gesunder Versicherter zu erwerben vermag, wenn beachtet werde, daß sich die Lohnhälfte nicht nach dem Verweisungsberuf, sondern nach dem Ausgangsberuf des Klägers als Praktikant bestimme, in dem er als Hilfsarbeiter zu beurteilen sei.

Gegen das Urteil hat der Kläger Revision eingelegt. Er rügt zunächst, die angefochtene Entscheidung beruhe auf wesentlichen Mängeln des Verfahrens. Das LSG habe die Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten sowie den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt und damit die Vorschriften der §§ 128, 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt. Außerdem habe das LSG die Bestimmungen der §§ 23 AVG, 1263 a RVO aF nicht richtig angewandt. Der Kläger verbleibt bei seiner Auffassung, daß er seiner Tätigkeit im gehobenen Justizdienst nur unter Aufwendung einer ihm unzumutbaren Energie und nur auf Kosten seiner Gesundheit nachgehen könne, so daß er auf diese Tätigkeit nicht verwiesen werden könne. Zudem werde er im gehobenen Justizdienst von jeher nur vergönnungsweise beschäftigt. Bei der Frage der Verweisbarkeit und Zumutbarkeit sei von einem akademischen Beruf und nicht von einer Hilfsarbeitertätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszugehen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 27. September 1972, das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 8. November 1962 und den Bescheid der Beklagten vom 9. Oktober 1958 aufzuheben und diese zu verurteilen ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. September 1956 an zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

II

Die Revision des Klägers ist nicht begründet.

Dem Kläger kann auf seinen Rentenantrag vom 11. August 1956 Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht gewährt werden, weil er mit Rücksicht auf seine Beschäftigung im gehobenen Justizdienst trotz der bei ihm bestehenden erheblichen MdE nicht als berufsunfähig i.S. des § 23 Abs. 2 AVG gelten kann.

Das LSG hat nicht dazu Stellung genommen, ob der Kläger, der eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten nicht zurückgelegt hat, infolge der Erblindung auf dem linken Auge mit Rücksicht auf sein eingeschränktes Sehvermögen auf dem rechten Auge im Herbst 1946 berufsunfähig geworden ist. Ist dies der Fall, so ist der Kläger infolge Feindeinwirkung zunächst berufsunfähig geworden, so daß die Wartezeit nach den vorgenannten Vorschriften als erfüllt gilt, ungeachtet dessen, ob aus anderen Gründen die Berufsunfähigkeit in einem späteren Zeitpunkt nicht mehr bestanden hat. Nach den Feststellungen des LSG ist die Erblindung des linken Auges im Herbst 1946 ursächlich auf die Feindeinwirkung am 23. Juli 1942 zurückzuführen. Das LSG hat zwar seine tatsächlichen Feststellungen zur Beurteilung, ob der Kläger auf Grund der durch Feindeinwirkung erlittenen Gesundheitsschädigung berufsunfähig i.S. des § 23 Abs. 2 AVG geworden ist, ausdrücklich nur für die Zeit seit August 1956 getroffen. Diese Feststellungen lassen aber gleichwohl in materiell-rechtlicher Hinsicht die erforderlichen Rückschlüsse darauf zu, daß der Kläger jedenfalls im Herbst 1946 infolge Feindeinwirkung berufsunfähig geworden ist, so daß die Wartezeit gemäß § 31 AVG aF iVm § 1263 a Abs. 1 Nr. 3 RVO aF als erfüllt gilt.

Der Kläger ist im Herbst 1946 Versicherter i.S. dieser Vorschrift gewesen. Zu diesem Zeitpunkt war die Anwartschaft aus den für ihn für die Monate Januar bis März 1939 entrichteten und wirksamen Pflichtbeiträgen erhalten, wie in den bereits ergangenen Urteilen zutreffend dargelegt worden ist und worüber unter den Beteiligten kein Streit besteht. Für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit, bei der gem. Art. 2 § 7 des Angestelltenversicherungs- Neuregelungsgesetzes (AnVNG) auch für den im Herbst 1946 eingetretenen Versicherungsfall § 25 Abs. 2 AVG anzuwenden ist, hat das LSG zu Recht nur die vom Kläger während seiner versicherungspflichtigen Beschäftigung als Praktikant verrichtete berufliche Tätigkeit berücksichtigt. Im Rahmen des § 1263 a Abs, 1 Nr. 3 RVO aF kann für die Prüfung, ob der Versicherte infolge Feindeinwirkung berufsunfähig geworden ist und deshalb die Wartezeit als erfüllt gilt, nur auf die in der Zeit vor der Feindeinwirkung ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung abgestellt werden. Die Vorschrift setzt voraus, daß die Versicherung im Zeitpunkt der Feindeinwirkung bereits bestanden hat. Es reicht nicht aus, daß ein Versicherungsverhältnis erst nach dem Zeitpunkt der Feindeinwirkung begründet worden ist und erst z.Zt. eines später eingetretenen Versicherungsfalles vorgelegen hat. Anderenfalls würde dem Versicherungsträger ein Risiko für die Folgen eines Tatbestandes auferlegt, der sich bereits vor der Begründung des Versicherungsverhältnisses ereignet hat (BSG in SozR Nr. 14 zu § 1263 a RVO aF). Hieraus folgt, daß es für die Voraussetzungen des § 1263 a Abs. 1 Nr. 3 RVO aF nur auf die vor der Feindeinwirkung ausgeübte versicherte Berufstätigkeit des Versicherten ankommen kann. In diesem Sinne hat auch der 12. Senat des BSG in seinem Urteil vom 17. Mai 1973 - 12 RJ 334/72 - zu der einen ähnlichen Tatbestand regelnden Vorschrift des § 1232 Nr. 1 RVO idF des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) entschieden, daß es für die Frage des Berufsschutzes nur auf den vom Versicherten bis zum Arbeitsunfall ausgeübten versicherungspflichtigen Beruf ankommt, wenn in Frage steht, ob die Wartezeit nach § 1252 Nr. 1 RVO als erfüllt gilt. Hier hat der Kläger bis Herbst 1946 eine anderweitige versicherte Berufstätigkeit ohnehin nicht ausgeübt. Seine versicherungspflichtige Beschäftigung in der Angestelltenversicherung (AnV) im März 1955 und von März 1956 bis Juni 1958 kann für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit infolge Feindeinwirkung im Herbst 1946 jedenfalls keine rechtliche Bedeutung haben.

Kann sonach nur von der versicherungspflichtigen Beschäftigung des Klägers als Praktikant ausgegangen und nur diese Tätigkeit als sein bisheriger Beruf i.S. des § 23 Abs. 2 AVG bewertet werden, so war der Kläger im Herbst 1946 auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes zu verweisen, zu denen er nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten und nach seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen imstande war; denn mit Recht hat das LSG angenommen, daß die Praktikantentätigkeit des Klägers nur einer Hilfsarbeitertätigkeit gleichgestellt werden kann. Nach den Feststellungen des LSG war dem Kläger, der damals keine Ausbildung durchlaufen und insbesondere auch noch nicht Rechtswissenschaft studiert hatte, aber für solche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes im Sinne der Rechtsprechung des BSG der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen. Obschon der Kläger zu den Vollzeitarbeitskräften zu zählen ist, waren für ihn infolge der bestehenden Erblindung des linken Auges und des stark herabgesetzten Sehvermögens auf dem rechten Auge für die jeweils in Betracht kommenden einzelnen Tätigkeiten stets solche besonderen Einschränkungen eines verminderten Leistungsvermögens gegeben, die es ausschlossen, ihn auf solche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes zu verweisen (BSG 30, 167 ff; SozR Nr. 86 zu § 1246 RVO). Das LSG hat dies nach eingehender Aufklärung des Sachverhalts in ausführlichen Darlegungen im einzelnen begründet, so daß auf sie verwiesen werden kann. Dem ist im Revisionsverfahren auch von keiner Seite widersprochen worden. Wenn das LSG das Bestehen dieser besonderen Einschränkungen des verminderten Leistungsvermögens auch erst für die Zeit von August 1956 an festgestellt hat, so ergeben die weiteren Feststellungen des LSG doch, daß die Erblindung auf dem linken Auge und die Herabsetzung des Sehvermögens auf dem rechten Auge schon im Herbst 1946 vorgelegen haben. Abgesehen von dem fortgeschrittenen Lebensalter des Klägers im Jahre 1956 bietet der vom LSG festgestellte Sachverhalt keinen Anhalt dafür, daß das für die Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsfeld ausschlaggebende und vorausgesetzte vornehmlich manuelle Leistungsvermögen des Klägers in der vorhergehenden Zeit seit Herbst 1946 wesentlich anders und besser gewesen ist, als von August 1956 an. Auf Grund allgemeiner Erfahrung muß im Gegenteil angenommen werden, daß der Kläger jedenfalls in der Zeit unmittelbar nach der Erblindung des linken Auges im Herbst 1946 für eine gewisse Zeit noch stärker in seiner Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsfeld behindert gewesen ist, weil er sich an das Sehen allein mit dem schon beeinträchtigten rechten Auge erst hat gewöhnen müssen. Wie lange dieser Zustand der Gewöhnung und Anpassung angedauert hat, ist nicht entscheidend, da es nur darauf ankommt, daß die Erwerbsfähigkeit des Klägers in dieser Zeit unmittelbar nach der Erblindung des linken Auges jedenfalls nicht in einem geringeren Maße herabgesetzt gewesen ist, als es von dem LSG für die Zeit ab August 1956 festgestellt worden ist. Der Senat ist deshalb der Auffassung, daß es weiterer Feststellungen in dieser Hinsicht und einer nochmaligen Zurückverweisung der Sache an das LSG nicht bedarf, sondern daß keine Bedenken bestehen, für die rechtliche Beurteilung im Revisionsverfahren davon auszugehen, daß der Kläger im Herbst 1946 infolge Feindeinwirkung berufsunfähig geworden ist und daß die Wartezeit als erfüllt gilt.

Der Kläger kann aber seit September 1956 nicht als berufsunfähig gelten, so daß ihm deshalb auf seinen Antrag hin Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht zu gewähren ist. Das LSG hat die Ansicht vertreten, der Kläger sei seit August 1956 nicht berufsunfähig i.S. des § 23 Abs. 2 AVG, weil er sich auf seine Beschäftigung im gehobenen Justizdienst als Schwerbeschädigter und seit Jahren als Beamter auf Lebenszeit verweisen lassen müsse. Der Kläger habe damit einen für ihn geeigneten und zumutbaren Arbeitsplatz, weil er die von ihm geforderte Arbeitsleistung weder mit unzumutbarer Energie noch auf Kosten seiner Gesundheit erbringe; er habe auch stets mehr als die führ ihn maßgebliche Lohnhälfte dadurch erworben, daß er seine Dienstbezüge mindestens zu einem Drittel "echt" verdient habe. Dem kann allerdings nicht beigetreten werden.

Zwar kann - entgegen der Auffassung der Revision - der Beurteilung, ob der Kläger seit September 1956 berufsunfähig ist, wiederum nur die letzte vor der Feindeinwirkung am 23. Juli 1942 von ihm ausgeübte versicherte Berufstätigkeit zugrunde gelegt werden, für die die Wartezeit nach § 1263 a Abs. 1 Nr. 3 RVO aF als erfüllt gilt. Hierfür kommt demnach ebenfalls nur seine einer Hilfsarbeitertätigkeit gleichzustellende Praktikantentätigkeit und nicht die von ihm seit dem Jahre 1955 verrichtete versicherte Angestelltentätigkeit in Betracht. Ebenso muß hierbei seine erst nach der Feindeinwirkung abgeschlossene akademische Ausbildung unberücksichtigt bleiben. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann eine bestehende Berufsunfähigkeit dadurch entfallen, daß der Versicherte durch den Erwerb neuer beruflicher Kenntnisse und Fähigkeiten in die Lage versetzt wird, eine ihm nach seiner bisherigen Berufstätigkeit zuzumutende Erwerbstätigkeit auszuüben und dadurch die für ihn maßgebliche Lohnhälfte zu verdienen. Insbesondere muß sich der Versicherte auf einen Arbeitsplatz verweisen lassen, den er - nicht nur vergönnungsweise - erhalten hat und in dem er die für ihn maßgebende Lohnhälfte tatsächlich erwirbt (BSG 30, 167, 190). Die Revision wendet sich jedoch mit Recht gegen die Annahme des LSG, der Kläger werde im Justizdienst nicht nur vergönnungsweise beschäftigt. Die vom Berufungsgericht hierfür gegebene Begründung vermag nicht zu überzeugen.

Daß der Kläger die von ihm während der Beschäftigung im Justizdienst geforderte und erbrachte Arbeitsleistung ohne den Aufwand unzumutbarer Energie und nicht auf Kosten seiner Gesundheit verrichtet, hat das LSG ohne Verletzung von Verfahrensvorschriften festgestellt. Es konnte sich für seine Feststellungen auf übereinstimmende ärztliche Sachverständigengutachten stützen. Hierbei ist aber zu berücksichtigen, daß der Kläger nach den nicht angegriffenen und für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG wegen seiner Sehbehinderung nur die Hälfte bis zu einem Drittel dessen zu leisten vermag, was ein gesunder vergleichbarer Beschäftigter im Justizdienst an Arbeit erledigt, weil nach Auffassung der ärztlichen Sachverständigen ihm während der Arbeitszeit zusätzliche Ruhepausen zu gewähren sind und er wegen der Verlangsamung seines Arbeitstempos für seine Arbeitsleistung die doppelte oder dreifache Zeit benötigt wie ein Normalsichtiger. Mit Rücksicht hierauf beschränkt sich seit vielen Jahren seine Arbeitszeit bei seiner Dienststelle im Durchschnitt auf nicht viel mehr als einen halben Arbeitstag. Die Justizverwaltung fordert vom Kläger auch nur die Hälfte bis ein Drittel des sonst üblichen Arbeitspensums, stellt ihn von Vertretungen frei und gestattet ihm die teilweise Erledigung seiner Arbeit in seiner Wohnung. Gleichwohl erhält der Kläger die vollen Dienstbezüge. Das LSG hat gemeint, diese Rücksichtnahme durch die Justizverwaltung auf die Behinderung des Klägers ändere jedoch nichts daran, daß er einen Teil des Pensums eines Rechtspflegers leiste und hierfür - also nicht nur aus fürsorgerischen Gründen und sozialen Erwägungen - Gehalt beziehe. Das Gehalt des Klägers entspreche seiner Dienstleistung in der von ihm zu fordernden Weise und in dem von ihm zu fordernden Umfang. Der Kläger habe seit 1956 zumindest ein Drittel der gewöhnlichen Arbeitsleistung erbracht und habe mit dem auf diese Weise "echt„ verdienten Gehalt stets zumindest die Hälfte dessen erworben, was ein vergleichbarer gesunder Versicherter zu erwerben vermag. Dieser Betrachtungsweise vermag sich der Senat jedoch nicht anzuschließen.

Der Kläger wird von der Justizverwaltung als Schwerbeschädigter beschäftigt. Die weitgehende Rücksichtnahme auf die von den ärztlichen Sachverständigen bestätigte besonders gelagerte und starke Behinderung des Klägers bei der ihm verbliebenen Erwerbsfähigkeit sowie die besondere Gestaltung seiner Beschäftigung, die auch für die sonst übliche Überlassung von Arbeitsplätzen an Schwerbeschädigte ungewöhnlich ist, kann ihren Grund nur in den gesetzlichen Vorschriften des Schwerbeschädigtengesetzes (SchwBG) vom 16. Juni 1953 (BGBl I S. 389) idF vom 14. August 1961 (BGBl I S. 1233) und in den in Ausführung dieses Gesetzes für den öffentlichen Dienst ergangenen Verordnungen und Anordnungen finden (vgl. z.B. RdSchr. des BMI vom 29.2.1964 - GMBl 246 -). Obgleich das LSG dahin keine Feststellungen getroffen hat, kann die Angabe der Revision zutreffen, daß der Kläger zu den schwerbeschädigten Blinden i.S. des § 1 Abs. 2 Satz 2 SchwBG oder jedenfalls zu den Schwerbeschädigten i.S. des § 4 Abs. 1 Buchst. c SchwBG gehört, deren Beschäftigung dem Arbeitgeber gemäß § 4 Abs. 2 SchwBG- auf je 2 Pflichtplätze für Schwerbeschädigte angerechnet wird. Der Kläger steht jedenfalls als Schwerbeschädigter im Justizdienst in einem vollen Beschäftigungsverhältnis. Er gehört sogar noch zu den Vollzeitarbeitskräften, dh. solchen, die vollschichtig arbeiten können, wenn auch unter Einhaltung entsprechender zusätzlicher Arbeitspausen. Trotz dieses zeitlichen Arbeitsaufwandes erbringt der Kläger mit Rücksicht auf seine Behinderungen nur die Hälfte bis ein Drittel des üblichen Arbeitspensums, was allerdings auch nur von ihm gefordert wird. Die Dienstbezüge werden dem Kläger aber nicht zu einem Drittel für die von ihm auch nur zu einem Drittel erbrachte Arbeitsleistung gezahlt, so daß er - wie das LSG angenommen hat - ein Drittel seines Gehalts "echt" verdient, während zwei Drittel der Dienstbezüge dem Kläger aus sozialen und fürsorgerischen Erwägungen ohne Gegenleistung, also nur vergönnungsweise gewährt werden. Er erhält vielmehr das volle Gehalt für seine vollschichtige Dienstleistung, in der er aber nur ein Drittel der Arbeit schaffen kann. Es ist also gerade der Tatbestand gegeben, der in der Rechtsprechung des BSG stets als deutliches Merkmal einer vergönnungsweisen Beschäftigung angesehen worden ist, nämlich daß dem Beschäftigten ein Entgelt gezahlt wird, daß er durch seine Arbeitsleistung in Wahrheit nicht verdient, Beschäftigung, Arbeitsleistung und Entgelt stehen in einem untrennbaren Zusammenhang und in einer unlöslichen Wechselwirkung. Das Beschäftigungsverhältnis kann nur insgesamt darauf beurteilt werden, ob die Beschäftigung vergönnungsweise erfolgt. Es kann nicht in seine Einzelteile aufgelöst und nur zum Teil betrachtet werden.

Das BSG hat zwar, worauf das LSG hingewiesen hat, in seinem Urteil vom 16. Juni 1955 (BSG 1, 82 ff) ausgesprochen, daß bei der Beurteilung der für Schwerbeschädigte noch in Betracht kommenden Tätigkeiten die durch das SchwBG begründete bevorzugte Stellung der Schwerbeschädigten bei Einstellung und Beschäftigung grundsätzlich nicht zu berücksichtigen ist. In seinem Urteil vom 30. November 1961 (SozR Nr. 15 zu § 1246 RVO) hat das BSG sodann entschieden, daß ein Schwerbeschädigter zwar auch auf Arbeiten verwiesen werden kann, die üblicherweise mit Hilfe des SchwBG erlangt werden, aber nur dann, wenn er sie im wesentlichen auszufüllen vermag und ihm entsprechende Arbeitsplätze auch tatsächlich erreichbar sind. Hier ist ausgeführt: Hat der Schwerbeschädigte, was häufig der Fall sein wird, eine Arbeitsstelle nur mit Hilfe des SchwBG erhalten, obwohl er ihr leistungsmäßig nicht im wesentlichen voll wie ein Gesunder gewachsen ist, führt er sie demnach nur mehr oder weniger deutlich beschränkt aus, so werden aus dieser Tätigkeit keine zu einer zumutbaren Verweisung des Versicherten auf derartige Arbeiten geeignete Schlüsse gezogen werden können. Von dieser Rechtsprechung ist das BSG, soweit ersichtlich, bisher nicht abgegangen. Sie ist jedenfalls für den hier gegebenen besonders gelagerten Fall auch aufrechtzuerhalten. Nach den Feststellungen des LSG ist der Kläger in seiner Erwerbsfähigkeit in einem solchen Maße gemindert, daß er leistungsmäßig den Anforderungen der ihm übertragenen Arbeitsstelle als Schwerbeschädigter im gehobenen Justizdienst keineswegs im wesentlichen voll wie ein Gesunder gewachsen ist, sondern ihnen nur deutlich eingeschränkt unter ungewöhnlichen Arbeitsbedingungen und selbst dann auch nur zur Hälfte bis zu einem Drittel genügen kann. Zudem muß der dem Kläger von der Justizverwaltung eingeräumte Arbeitsplatz selbst unter Berücksichtigung des Schutzes, den das SchwBG gewährt, als eine besondere Ausnahme und ein sonst nicht üblicher Einzelfall angesehen werden. Bei der dem Kläger verbliebenen Fähigkeit zum Erwerb ist ihm, wie sein Beschäftigungsverhältnis bei der Justizverwaltung zeigt, der Arbeitsmarkt praktisch auch insoweit verschlossen, als Hilfe und Schutz für die Schwerbeschädigten durch das SchwBG vorgesehen ist und praktisch gewährt werden kann.

Der Arbeitsmarkt ist sonach dem Kläger praktisch nicht nur verschlossen, soweit es sich um Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes handelt, denen körperliche Arbeit das Gepräge gibt, sondern - wie die Revision mit Recht geltend macht- auch insoweit, als Tätigkeiten in Betracht kommen, zu denen der Kläger im Angestellten- oder Beamtenverhältnis nach dem Erwerb neuer Kenntnisse und Fähigkeiten auf Grund seiner abgeschlossenen akademischen Vorbildung noch fähig ist. Denn auch solche Tätigkeiten kann er nach den Feststellungen des LSG nur innerhalb der Zeit, in der er arbeiten kann, auf Grund seiner durch Feindeinwirkung verursachten gesundheitlichen Beeinträchtigung nur noch mit einem quantitätsmäßig erheblich eingeschränkten Leistungsvermögen und außerdem nur unter solchen Arbeitsbedingungen erbringen, die von den betrieblich üblichen erheblich abweichen. Die ihm mit Hilfe des SchwBG vermittelte Beschäftigung im gehobenen Justizdienst muß als nur vergönnungsweise gewährt außer Betracht bleiben. Bei ihr handelt es sich mithin um eine Nichtverweisungsbeschäftigung.

Obschon der Kläger auf seine Beschäftigung in der Justizverwaltung nicht verwiesen werden darf, kann er gleichwohl nicht als berufsunfähig i.S. des § 23 Abs. 2 AVG gelten. Der 5. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 11. Juli 1972 (SozR Nr. 103 zu § 1246 RVO) bereits ausgesprochen, daß die Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit grundsätzlich nicht deshalb abgelehnt werden kann, weil der Versicherte durch Verrichtung einer Nichtverweisungstätigkeit ebensoviel oder mehr verdient, wie ein gesunder Versicherter gleicher Art mit der Verrichtung des bisherigen Berufs des Versicherten tariflich verdienen würde. Etwas anderes gilt aber, wenn das Entgelt des Versicherten aus einer Nichtverweisungstätigkeit für sich allein - also ohne Hinzurechnung der Rente - das Entgelt eines Versicherten gleicher Art, der die bisherige Tätigkeit des Versicherten verrichtet, in krasser Weise übersteigt. Der Senat schließt sich dieser vom 5. Senat vertretenen Rechtsauffassung an. Hierbei kann es keine Rolle spielen, daß der Versicherte seine Beschäftigung und seinen Verdienst nur der Hilfe und dem Schutz des SchwBG verdankt, da entscheidend nur ist, daß der Versicherte unter Verwertung der ihm verbliebenen Fähigkeit zum Erwerb einen solchen Verdienst tatsächlich erzielt. Hat der Versicherte die effektiv gegebene Möglichkeit, seine geminderte Erwerbsfähigkeit noch so zu verwerten, und sei es auch nur mit Hilfe des SchwBG, daß sein Verdienst in krassen Mißverhältnis zu dem vollen Verdienst des gesunden vergleichbaren Versicherten steht, so fehlt es jedenfalls, solange der Versicherte diese Möglichkeit nutzt, von vornherein an der vom Gesetz vorausgesetzten besonderen sozialen Betroffenheit des Versicherten, der das Gesetz mit der Gewährung jeder Rente wegen Berufsunfähigkeit allein entgegenwirken will, nämlich die infolge einer gesundheitsbedingten MdE eintretende Minderung des Erwerbseinkommens wenigstens zum Teil auszugleichen. Hier hat der vom LSG hervorgehobene Gesichtspunkt Gültigkeit, daß es das soziale Schutzbedürfnis des in der Erwerbsfähigkeit eingeschränkten Versicherten nicht gebietet, ein Einkommen, das er erzielt, deswegen außer Betracht zu lassen, weil er seine Stelle auf Grund des SchwBG erhalten hat.

Der Kläger hat nach den Feststellungen des LSG seit September 1956 während seiner Beschäftigung im gehobenen Justizdienst stets ein solches Gehalt und solche Dienstbezüge erhalten, die jedenfalls zu dem vollen Verdienst eines gesunden Hilfsarbeiters in einem krassen Mißverhältnis gestanden haben. Dies gilt erst recht für die Zeit, seitdem der Kläger die Dienstbezüge eines Justizamtmanns vom 1. Januar 1972 erhält. Der Kläger kann sonach seit September 1956 nicht als berufsunfähig i.S. des Gesetzes gelten, so daß ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht zusteht. Seine Revision kann daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647553

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