Leitsatz (amtlich)

In der Rentenversicherung der Angestellten wird der Kinderzuschuß Berechtigten gewährt, damit er ihn oder einen ihm gleichkommenden Betrag - zum Unterhalt des Kindes verwendet. Verbraucht der Berechtigte den Kinderzuschuß zu seinem eigenen Lebensunterhalt und verweigert er die Zustimmung zur Aushändigung des Kinderzuschusses an den, der das Kind überwiegend unterhält, so hat das - von dem Dritten angerufene - Versicherungsamt die Zustimmung des Versicherten zu ersetzen.

 

Normenkette

AVG § 39 Abs. 8 S. 3 Fassung: 1957-02-23, S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1262 Abs. 8 S. 3 Fassung: 1957-02-23, S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Der Beklagte wird verpflichtet, die Zustimmung des Beigeladenen zur Aushändigung des zu seiner Rente gehörenden Kinderzuschusses an die Klägerin zu ersetzen.

Soweit der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 5. Mai 1959 und die Urteile des Sozialgerichts Stuttgart vom 24. August 1961 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. April 1962 dem entgegenstehen, werden sie aufgehoben.

Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Aus der 1948 geschiedenen Ehe der Klägerin mit dem Beigeladenen entstammt ein 1947 geborener Sohn. Dieser wird seit seiner Geburt allein von der Klägerin unterhalten. Der Beigeladene, der für den Sohn einen Kinderzuschuß zu seiner Rente aus der Angestelltenversicherung erhält, ist nicht damit einverstanden, daß der Versicherungsträger den Kinderzuschuß der Klägerin aushändigt. Die Klägerin beantragte daher im Dezember 1958 beim Versicherungsamt (VA) Cuxhaven, daß die Zustimmung des Beigeladenen ersetzt werde (§ 39 Abs. 8 Satz 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -).

Das VA ersetzte die Zustimmung und ordnete zugleich die Überweisung des Kinderzuschusses an die Klägerin ab Januar 1959 an (Beschluß vom 5. Januar 1959). Auf den Widerspruch des Beigeladenen hin hob das Oberversicherungsamt (OVA) Stade den Beschluß des VA auf (Widerspruchsbescheid vom 5. Mai 1959). Es ging davon aus, daß der Gesetzgeber dem - das Kind unterhaltenden - Dritten den Kinderzuschuß nicht in jedem Falle zuerkennen, sondern in Härtefällen einen sozialen Ausgleich gewähren wolle; bei der sonach zu treffenden Ermessensentscheidung seien daher, weil der Kinderzuschuß einerseits fester Rentenbestandteil, andererseits ein Unterhaltsbeitrag für das Kind sei, die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse des Versicherten und des Kindes, nicht auch die des Dritten abzuwägen. Der Beigeladene sei schwer krank und mangels sonstiger Einnahmen auf die Rente angewiesen, die ohne den Kinderzuschuß monatlich nur noch 114,60 DM betrage und für die einfachste Lebensführung nicht ausreiche. Der Sohn dagegen lebe, wenn auch aus dem Verdienst seiner Mutter - nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) im Jahre 1959 monatlich 441,- DM und in den folgenden Jahren zwischen 683,- DM und 747,- DM (netto) - in durchaus geordneten Verhältnissen, so daß er zur Sicherung seines Unterhalts des Kinderzuschusses nicht bedürfe.

Die Klage und die Berufung der Klägerin hatten keinen Erfolg. Nach der Ansicht des LSG hat das OVA das ihm zustehende Ermessen sachgemäß ausgeübt, zumal nach bürgerlichem Recht nur die Klägerin, nicht aber der Beigeladene dem Sohne unterhaltspflichtig sei.

Die Klägerin legte die vom LSG zugelassene Revision ein mit dem Antrag,

die Urteile der Vorinstanzen und den Widerspruchsbescheid aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Zustimmung des Beigeladenen zur Aushändigung des Kinderzuschusses an sie zu ersetzen,

hilfsweise, den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Sie rügte eine Verletzung des formellen und materiellen Rechts (§§ 103, 128, 157 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, 39 Abs. 8 AVG, Art. 6, 20, 103 des Grundgesetzes).

Der Beklagte und der Beigeladene beantragten,

die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig und im wesentlichen begründet.

Nach § 39 Abs. 8 Satz 1 AVG kann der Kinderzuschuß, auf den ein Berechtigter Anspruch hat, mit seiner Zustimmung einem Dritten auf dessen Antrag ausgehändigt werden, wenn dieser - wie die Klägerin - den Unterhalt des Kindes überwiegend (oder allein) bestreitet. Verweigert der Berechtigte - hier der Beigeladene - die Zustimmung, so kann das VA sie ersetzen (§ 39 Abs. 8 Satz 3 AVG). Das VA ist danach nur befugt, über die Ersetzung der Zustimmung zu entscheiden. Die Aushändigung des Kinderzuschusses an den Dritten obliegt dem Versicherungsträger. Mit Recht hat deshalb das OVA den Beschluß des VA insoweit aufgehoben, als dieses auch die Überweisung des Kinderzuschusses an die Klägerin angeordnet hat.

Das OVA hätte jedoch - entgegen der Ansicht des LSG - nicht auch im übrigen die Entscheidung des VA aufheben und die Ersetzung der Zustimmung ablehnen dürfen. Das LSG ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß das VA und auf Widerspruch das OVA nach seinem Ermessen handelt, wenn es bei einer Weigerung des Berechtigten darüber befindet, ob es dessen Zustimmung ersetzen soll. Dafür spricht neben dem Wortlaut des § 39 Abs. 8 Satz 3 AVG, der das meist schon auf ein Ermessen hindeutende Wort "kann" verwendet, das Fehlen gesetzlicher Tatbestandsmerkmale, die zur Zustimmungsersetzung zwingen, wie auch die Sinnlosigkeit einer Einschaltung des VA (in § 583 Abs. 7 Reichsversicherungsordnung idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 neuerdings: des Vormundschaftsgerichts) für eine rein formale Handlung, als die sich die Zustimmungsersetzung darstellen würde, wenn allein die Weigerung des Berechtigten sie herbeiführte; die Zustimmungsersetzung hätte dann nämlich dem Versicherungsträger überlassen bleiben können, der nach § 39 Abs. 8 Satz 1 AVG über die Aushändigung des Kinderzuschusses ohnedies entscheiden und die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür prüfen muß.

Wenn eine Behörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist eine Rechtswidrigkeit auch gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Gerade das trifft auf den mit der Klage angefochtenen Widerspruchsbescheid des OVA zu. Dazu bedarf es keines Eingehens auf die verfahrensrechtlichen Rügen der Revision, die sich im wesentlichen gegen die Feststellung wenden, daß der Beigeladene seinen Unterhalt allein aus der Rente bestreiten müsse; es kann auch offen bleiben, ob sich aus den von der Klägerin herangezogenen Art. 6 und 20 des Grundgesetzes höherrangige Richtlinien ableiten lassen, die zugunsten der Klägerin zu beachten wären. Der Widerspruchsbescheid erweist sich nämlich als rechtswidrig schon dann, wenn die Rente des Beigeladenen sein einziges Einkommen ist und eine für die Klägerin günstige Einwirkung des Grundgesetzes auf die Auslegung des § 39 Abs. 8 Satz 3 AVG außer acht bleibt.

Der Zweck der dem VA erteilten Ermächtigung und die von ihm zu beachtenden Gesichtspunkte sind zwar nicht ausdrücklich im Gesetz genannt, ergeben sich aber aus dem Sinn und Zweck des Kinderzuschusses und aus der Regelung, die das Gesetz insoweit getroffen hat.

Nach § 39 Abs. 1 AVG erhöht sich die Rente eines Berechtigten für jedes Kind um den Kinderzuschuß. Dieser ist deshalb ein Bestandteil der Rente. Daraus erklärt sich auch, warum die Aushändigung an den Dritten der Zustimmung des Versicherten bedarf und im Weigerungsfalle ihre Ersetzung erforderlich ist. Für die hier zu entscheidende Frage ist damit indes wenig gewonnen, vielmehr folgendes ausschlaggebend:

Der Kinderzuschuß bedarf keiner besonderen Beiträge; er ist auch in der Höhe von den Beiträgen des Versicherten unabhängig und bei allen Versicherten gleich hoch (§ 39 Abs. 4 AVG). Er wird für eine Zeit gewährt, in der das Kind in der Regel unterhaltsbedürftig ist (§ 39 Abs. 3 AVG). Der Versicherte erhält oder behält den Kinderzuschuß für sein Kind nicht in jedem Falle. Mehreren Berechtigten wird der Kinderzuschuß für dasselbe Kind nur einmal gewährt, und zwar dem, der das Kind überwiegend unterhält (§ 39 Abs. 6 AVG). Ähnlich kann der Versicherte im Falle des § 39 Abs. 8 AVG den Kinderzuschuß zugunsten eines Dritten einbüßen, wenn dieser den Unterhalt des Kindes überwiegend bestreitet.

Diese gesetzliche Regelung erhellt, was schon das Wort Kinderzuschuß nahelegt: der Gesetzgeber will dem Versicherten den Kinderzuschuß nicht als Gegenleistung für besondere Beiträge und nicht bloß deshalb gewähren, weil er Kinder hat, der Versicherte soll vielmehr diesen - oder einen ihm gleichkommenden - Betrag zum Unterhalt des Kindes verwenden. In diesem Sinne ist der Kinderzuschuß zweckgebunden. Diese Funktion des Kinderzuschusses wird in den Fällen des § 39 Abs. 6 und 8 AVG dadurch erfüllt, daß der Kinderzuschuß dem Berechtigten oder dem Dritten zugeführt wird, der das Kind überwiegend unterhält. § 39 Abs. 8 AVG soll gerade die Unbilligkeiten vermeiden, die entstehen, wenn der Versicherte unter Ausnutzung seiner formalen Rechtsposition den für das Kind gedachten Zuschuß für sich behält und Dritten den Unterhalt des Kindes überläßt. Der Gesetzgeber will sich damit nicht etwa der Interessen des Dritten annehmen, sondern dem Sinn und Zweck des Kinderzuschusses gerecht werden, indem er die Möglichkeit schafft, den Kinderzuschuß über den unterhaltgewährenden Dritten seiner wirklichen Zweckbestimmung zuzuführen.

Aufgabe des VA nach § 39 Abs. 8 Satz 3 AVG ist es deshalb, notfalls gegen den Willen des Versicherten dafür zu sorgen, daß der Kinderzuschuß dem Kind zugute kommt. Alle anderen Erwägungen sind in der Regel abwegig. Insbesondere darf die Rechtsstellung des Versicherten nicht überbewertet und zur Rechtfertigung des "Eingriffs" in sie nicht eine Abwägung der Interessen des Versicherten und der des Kindes verlangt und vorgenommen werden. Dem Zweck der dem VA erteilten Ermächtigung entspricht es auch nicht, die Ersetzung der Zustimmung davon abhängig zu machen, ob der Unterhalt des Kindes ohne den Kinderzuschuß gefährdet und ob und inwieweit der Versicherte nach bürgerlichem Recht (§ 1603 BGB) dem Kinde unterhaltspflichtig ist, zumal die Gewährung des Kinderzuschusses hiervon gleichfalls nicht abhängt. Nicht sozialer Ausgleich ist der Sinn und Zweck des § 39 Abs. 8 AVG, sondern Wahrung der dem Kinderzuschuß zugedachten Funktion, nämlich der Verwendung für das Kind.

Das bedeutet keineswegs, daß das VA die Zustimmung des Versicherten immer ersetzen müßte, wenn ein Dritter das Kind überwiegend unterhält. Das wird etwa dann nicht in Frage kommen, wenn der Versicherte selbst mit zum Unterhalt des Kindes beiträgt und sein Beitrag die Höhe des Kinderzuschusses erreicht oder ihr doch nahekommt. Weil in diesen Falle der Versicherte die dem Kinderzuschuß innewohnende Funktion bereits erfüllt, besteht zu einem Eingreifen des VA kein Anlaß. Im vorliegenden Falle hätte das OVA (wie schon das VA) sein Ermessen fehlerfrei jedoch nur in der Weise ausüben können, daß es die Zustimmung des Beigeladenen ersetzte. Die Erwägungen des OVA sind dem Zweck der vom Gesetzgeber erteilten Ermächtigung nicht gerecht worden. Die - nicht zu verkennende - Notlage des Beigeladenen und die schon bestehende Sicherung des Kindesunterhalts aus dem Arbeitsverdienst der Klägerin durften kein Grund sein, von der Zustimmungsersetzung abzusehen. Das OVA hat den Sinn und Zweck des § 39 Abs. 8 AVG auch insoweit verkannt, als es glaubte, zum Ausgleich sozialer Härten berufen zu sein. Allein ausschlaggebend war, daß der Beigeladene den Kinderzuschuß (oder einen gleichkommenden Betrag) weder ganz noch teilweise bisher für den Sohn verwandte und dies auch künftig nicht tun will. Der Kinderzuschuß wird also von ihm in voller Höhe seinem Zweck entfremdet. Dies zu verhüten, wäre die Aufgabe des OVA gewesen. Unter den Gegebenheiten des vorliegenden Falles hätte das OVA daher entsprechend dem Antrag der Klägerin die Zustimmung des Beigeladenen zur Aushändigung des Kinderzuschusses an sie ersetzen, d. h. die Entscheidung des VA bestätigen müssen.

Der Widerspruchsbescheid des OVA und die Urteile der Vorinstanzen waren daher aufzuheben, soweit sie die Ersetzung der Zustimmung betreffen. Insoweit war der Rechtsstreit für das Bundessozialgericht (BSG) spruchreif. Weil die Ablehnung des Antrages der Klägerin unter jedem denkbaren Gesichtspunkt ein Ermessensmißbrauch wäre, war der Beklagte zu verpflichten (BSG 9, 232, 239), die Zustimmung des Beigeladenen zu ersetzen. Der Beklagte kann das in der Weise tun, daß er nunmehr dessen Widerspruch gegen die vom VA bereits ausgesprochene Zustimmungsersetzung zurückweist.

Der Senat hat zugleich die bisherige Bezeichnung des Beklagten berichtigt. Das OVA (der Regierungspräsident) Stade ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht beteiligungsfähig, weil das niedersächsische Landesrecht ihm diese Fähigkeit nicht zugesprochen hat (§ 70 Nr. 3 SGG). Beklagter ist das Land Niedersachsen, vertreten durch den Regierungspräsidenten (OVA) Stade.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 241

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