Leitsatz (amtlich)

An der ständigen Rechtsprechung (vergleiche ua BSG 1974-03-12 2 RU 289/73 = SozR 1500 § 144 Nr 2), daß bei mehreren selbständigen Ansprüchen - hier Rente, Sterbegeld, Überbrückungshilfe und Überführungskosten - die Zulässigkeit der Berufung je gesondert zu überprüfen ist, wird festgehalten.

 

Leitsatz (redaktionell)

Alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit wäre auch dann wesentliche Unfallursache im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung gewesen, wenn sich der unter Alkoholeinfluß stehende Fahrer eines Pkw kurz vor dem Befahren einer Kurve mit nachfolgendem Unfall nach einem heruntergefallenen Bonbon gebückt hätte.

 

Normenkette

SGG § 144 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, Nr. 2 Fassung: 1953-09-03; RVO § 550

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerinnen wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 22. Mai 1974 geändert. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 12. Oktober 1972 wird als unzulässig verworfen, soweit sie die Ansprüche der Klägerin zu 1) auf einmalige und wiederkehrende Leistungen für eine Zeitraum bis zu 13 Wochen betrifft. Im übrigen wird die Revision der Klägerinnen zu 1) - 3) zurückgewiesen. Die Beklagte hat den Klägerinnen ein Drittel der Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob den Klägerinnen Entschädigungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) nach ihrem am 25. Juni 1971 bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückten Ehemann bzw Vater zustehen.

Der Ehemann der Klägerin zu 1. und Vater der minderjährigen Klägerinnen zu 2. und 3., H. K. (K.), befand sich am 25. Juni 1971 gegen 17,20h mit seinem Personenkraftwagen auf der Heimfahrt von der Arbeitsstätte. Im Wagen befand sich auch der Arbeitskollege B. . Beim Durchfahren einer Rechtskurve kam das Fahrzeug nach links von der Fahrbahn ab, prallte gegen einen Wasserdurchlaß und überschlug sich mehrmals. K. verstarb noch an der Unfallstelle. Die am folgenden Tag gegen 9,45h entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,91vT.

Mit dem an die Klägerin zu 1. gerichteten Bescheid vom 11. Oktober 1971 lehnte die Beklagte die Entschädigung von Unfallfolgen ab, weil der von K. genossene Alkohol als die allein rechtlich wesentliche Unfallursache anzusehen sei. Auf die Klage der Klägerin zu 1. hat das Sozialgericht (SG) Gießen die Beklagte verurteilt, den tödlichen Verkehrsunfall des Ehemanns der Klägerin als Wegeunfall anzuerkennen und zu entschädigen (Urteil vom 12. Oktober 1972). Der Unfall sei durch die Suche nach einem hinuntergefallenen Bonbon wesentlich mitverursacht worden. Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte - Berufungsklägerin - in der mündlichen Verhandlung vom 22. Mai 1974 (Bl 132 R der LSG-Akte) erklärt, der Bescheid vom 11. Oktober 1971 umfasse auch die Ablehnung der Unfallentschädigung an die minderjährigen Kinder der Klägerin zu 1. . Daraufhin haben die Klägerinnen Anschlußberufung eingelegt mit dem Antrag, das Urteil des SG Gießen vom 12. Oktober 1972 dahin abzuändern, daß die Beklagte verurteilt wird, auch den minderjährigen Kindern des K. Hinterbliebenenleistungen zu gewähren. Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen sowie die Anschlußberufung zurückgewiesen. Es hat zur Begründung ua ausgeführt: Die Berufung sei nicht gemäß § 144 Abs 1 Nrn 1 und 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - wegen einmaliger und wiederkehrender Leistungen bis zu einem Zeitraum von 13 Wochen ausgeschlossen (Sterbegeld, eventuell entstandene Kosten der Überführung und Überbrückungshilfe). Die von dem Bundessozialgericht (BSG) vertretene gegenteilige Auffassung sei nicht überzeugend begründet. In Fällen der vorliegenden Art sei ein einheitlicher prozessualer Anspruch im Streit. Die Versicherungsträger lehnten stets Hinterbliebenenansprüche nur allgemein mit der Begründung ab, ein versicherter Arbeitsunfall habe nicht vorgelegen. Da die verschiedenen Einzelleistungen an Hinterbliebene dem Grunde nach sämtlich davon abhingen, daß der Tod des Versicherten durch einen Arbeitsunfall eingetreten sei, und über den Leistungsumfang zunächst kein Streit bestehe, handele es sich stets um einen einheitlichen prozessualen Anspruch auf Hinterbliebenenbezüge allgemein. Wegen der Einheitlichkeit des Rechtsgrundes und des prozessualen Anspruches habe sich das SG daher auf ein Grundurteil beschränken dürfen (§ 130 SGG), ohne Einzelleistungen anzuführen. Im gleichen Umfang sei mit der Berufung der geltend gemachte Anspruch beim Berufungsgericht anhängig geworden. Dieser erfordere seiner Natur nach eine einheitliche Entscheidung, und es sei nicht zu vertreten, hiervon einzelne Leistungen auszunehmen und hinsichtlich der Zulässigkeit der Berufung gesondert zu behandeln. Die Berufungsausschließungsgründe der §§ 144ff SGG seien als Ausnahmevorschriften eng auszulegen. Wegen der Rentenleistungen müsse das Verfahren vor dem Berufungsgericht ohnehin durchgeführt werden, so daß eine Entlastung nicht eintrete, wenn die Berufung hinsichtlich der in § 144 Abs 1 Nrn 1 und 2 ausgeführten Leistungen ausgeschlossen werde. Das Gesetz enthalte keine dahingehende Bestimmung, daß beim Zusammentreffen einer zulässigen mit einer nicht zulässigen Berufung diese nicht mit nachgeprüft werden dürfe. Ein Berufungsausschluß im oben genannten Sinne könne im Interesse der materiellen Gerechtigkeit nicht hingenommen werden.

Die Berufung der Beklagten sei begründet, die Anschlußberufung der Klägerinnen dagegen nicht. Während der Zurücklegung des Heimweges habe für K. kein Versicherungsschutz bestanden, weil der genossene Alkohol die allein rechtlich wesentliche Ursache des Unfalles dargestellt und zur Lösung von der betrieblichen Tätigkeit geführt habe. Die Höhe der BAK sei durch von K. eingenommene Medikamente nicht beeinflußt worden. Sie habe zur Unfallzeit weit über dem Grenzwert von 1,3vT gelegen. Betriebsbedingte Umstände, die neben dem genossenen Alkohol mindestens als wesentliche Teilursache zu werten wären, ließen sich nicht feststellen. Der Unfall sei darauf zurückzuführen, daß K. in der Kurve die Lenkung zu spät und zu wenig betätigt sowie außerdem leicht gebremst habe, wodurch die Lenkwirkung der Vorderräder noch herabgesetzt worden sei. Nicht feststellbar sei, inwieweit die Suche nach einem heruntergefallenen Bonbon für das Unfallgeschehen ursächlich gewesen sei. Es bestehe zwar ein gewisser zeitlicher Zusammenhang. Der Zeuge B. habe aber nicht sagen können, welche Entfernung das Fahrzeug zu der Unglückskurve gehabt habe, als K. sich gebückt habe. Im übrigen sei das Aufheben eines Bonbons kein sich aus der Zurücklegung des versicherten Heimweges ergebender Umstand, der geeignet sei, als wesentliche Ursache gleichwertig neben der festgestellten alkoholbedingten absoluten Fahruntüchtigkeit zu stehen. Es handele sich dabei um ein Verhalten des K., das seiner persönlichen Sphäre entstamme und außerdem seiner Willenssteuerung unterlegen habe und daher auch durch Alkoholeinwirkung beeinflußt gewesen sei. Nach der Lebenserfahrung wirke sich Alkohol auf alle Handlungen eines Kraftfahrers am Steuer enthemmend aus. Da K. die Unfallstelle mehrere Male ohne Schwierigkeiten befahren gehabt habe und andere Umstände als die Höhe der BAK nicht erweislich seien, sei diese die alleinige Unfallursache, so daß Versicherungsschutz nicht bestanden habe.

Mit der zugelassenen Revision tragen die Klägerinnen vor: Hinsichtlich der Ansprüche der Klägerin zu 1. auf Sterbegeld, Überführungskosten und Überbrückungshilfe sei die Berufung der Beklagten unzulässig gewesen und hätte daher vom LSG verworfen werden müssen, weil bezüglich jedes einzelnen im Streit befindlichen Anspruches gesondert zu beurteilen sei, inwieweit die Berufung ausgeschlossen sei.

Das LSG habe sein Recht auf freie richterliche Beweiswürdigung (§ 128 SGG) überschritten, wenn es aus der Gesamtheit des Verfahrens die Überzeugung erlangt habe, andere Umstände als die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit seien als wesentliche Unfallursache nicht erweislich. Die Feststellung, K. habe ... eine langgestreckte Rechtskurve ... zu durchfahren gehabt und habe hierbei einen hinuntergefallenen Bonbon aufheben wollen, hätte dem LSG Veranlassung geben müssen, der Suche nach dem entfallenen Bonbon bei der Entstehung des Unfalles mindestens eine gleich große Rolle beizumessen wie der BAK. Denn der Sachverständige Prof. Dr. F. habe in seinem Gutachten darauf hingewiesen, die zu spät betätigte Lenkung könne durchaus dadurch bedingt gewesen sein, daß der Verstorbene durch die Suche nach dem Bonbon von der Führung des Fahrzeuges so stark abgelenkt worden sei, daß er sich nicht voll auf sein Verhalten in der Kurve konzentriert habe. Der Zeuge B. hätte nach dem zeitlichen Ablauf zwischen der Suche nach dem Bonbon und dem Unfall befragt bzw dazu vernommen werden müssen, in welcher Entfernung von der Kurve, berechnet aus der Geschwindigkeit des Fahrzeugs, K. sich nach dem Bonbon gebückt habe (§ 103 SGG). Wenn das Bücken nach dem Bonbon ursächlich für den Unfall gewesen sei, habe K. unter Unfallversicherungsschutz gestanden, als er verunglückte. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Fr. sei reflexhaftes Greifen nach einem für den Unfall gewesen sei, habe K. unter Unfallversicherungsschutz Fehlverhalten, das häufig auch bei nüchternen Kraftfahrern zu Sachverständigen F. sei reflexhaftes Greifen nach einem sein dürfte. Das Zusichnehmen eines Bonbons und ein damit verbundenes reflexhaftes Fehlverhalten schließe den Versicherungsschutz nicht aus. Entgegen der Auffassung des LSG sei das Greifen nach dem Bonbon keine der Willenssteuerung unterliegende Handlung gewesen. Es könne daher auch nicht durch die Alkoholeinwirkung beeinflußt gewesen sein. Das LSG habe insofern den Unterschied zwischen Reflexbewegung ohne Mitwirkung des Bewußtseins und einer automatischen Reaktion verkannt. Die Reflexhandlung sei keine Willenshandlung, worauf Prof. Dr. F. hingewiesen habe. Das LSG hätte daher nicht ohne einen weiteren geeigneten Sachverständigen, beispielsweise einen Psychologen oder Verhaltensforscher als weiteren Sachverständigen, zu vernehmen, eine gegenteilige Meinung vertreten und das Greifen nach dem Bonbon als willensgesteuerte und damit alkoholbeeinflußbare Handlung werten dürfen.

Die Klägerinnen beantragen,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 22. Mai 1974 aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 12. Oktober 1972 dahin abzuändern, daß die Beklagte verurteilt wird, auch den Klägerinnen zu 2. und 3. Hinterbliebenenleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren sowie die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die form- und frist*-gerecht eingelegte und begründete Revision der Klägerinnen ist durch Zulassung statthaft. Sie ist jedoch nur zu einem Teil begründet.

Das angefochtene Urteil des LSG leidet insoweit an einem wesentlichen, auch ohne ausdrückliche Rüge zu berücksichtigenden Verfahrensmangel, als das LSG die Berufung der Beklagten hinsichtlich sämtlicher Ansprüche der Klägerin zu 1., die sich aus einem Arbeitsunfall ihres Ehemannes (K.) ergeben könnten, für zulässig erachtet, sachlich-rechtlich darüber entschieden und die Klage vollen Umfangs abgewiesen hat, obwohl die Berufung gemäß § 144 Abs 1 Nrn 1 und 2 SGG hätte als unzulässig verworfen werden müssen, soweit sie die dort genannten Ansprüche betraf (BSG 1, 227, 230; 2, 225, 227 und 245, 246; 3, 124, 126 und 234, 235; 15, 65, 67; vgl auch SozR Nr 191 zu § 162 SGG). Zutreffend geht das LSG davon aus, daß die Beklagte mit ihrem Bescheid vom 11. Oktober 1971 alle einer Witwe zustehenden Entschädigungsansprüche nach einem Arbeitsunfall ihres Ehemannes abgelehnt hat bzw das SG der Klägerin zu 1. "alle in Betracht kommenden Leistungen", dh, auch solche auf einmalige und wiederkehrende Leistungen bis zu 13 Wochen wie Sterbegeld, Überführungskosten und Überbrückungshilfe (§§ 589 Abs 1 Nrn 1, 2 und 4, 591 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), zugesprochen hat (Urteil S 7). Im Gegensatz zu der Ansicht des LSG vertritt auch der erkennende Senat in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des 2. Senats des BSG die Rechtsauffassung, daß in derartigen Fällen die Berufung nur hinsichtlich der Dauerleistungen zulässig ist. Gegenüber der von dem 2. Senat in seiner neuesten - vom LSG berücksichtigten - Entscheidung zu dieser Frage (Urteil vom 12. März 1974 in SozR - neue Folge - 1500 § 144 SGG Nr 2) gegebenen Begründung, greifen die von dem LSG zur Stützung seiner gegenteiligen Ansicht vorgebrachten Argumente nicht durch. Auch das LSG bezweifelt nicht, daß es sich jeweils um materiell-rechtlich und prozessual selbständige Ansprüche handelt, die ihren Charakter als solche nicht dadurch verlieren, daß über sie in einem einheitlichen Bescheid entschieden worden ist. Dasselbe gilt auch dann, wenn mit einem solchen Bescheid, wie das eben so häufig geschieht, sowohl über die Hinterbliebenenansprüche der Witwe als auch der Waisen ablehnend entschieden wird mit der Begründung, es liege kein entschädigungspflichtiger Arbeitsunfall vor. Es ist feststehende und niemals bezweifelte Rechtsprechung, daß hinsichtlich aller im Streit befindlichen selbständigen Ansprüche die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Berufung nach den §§ 143ff SGG gesondert zu prüfen und darüber zu entscheiden ist (BSG 3, 135, 139; 5, 222, 225; 6, 11, 15; 10, 264, 266/267 und neuerdings für die Rentenversicherung Urteil vom 20. August 1974 - 4 RJ 101/73 -). Hiervon ausgehend, kann auch dann nichts anderes gelten, wenn alle streitbefangenen Ansprüche eine wesentliche Anspruchsvoraussetzung, wie hier ein Arbeits- bzw Wege*-unfall im Sinne von §§ 548, 550 RVO, gemeinsam haben und mit derselben Begründung über alle Ansprüche in einem Bescheid entschieden wird. Diese Ansprüche verlieren dadurch nicht ihre Eigenständigkeit und werden nicht zu einem einheitlichen Anspruch. Weder die Versicherungsträger noch die Gerichte haben über einzelne Anspruchsvoraussetzungen, sondern über die geltend gemachten Ansprüche als solche zu entscheiden. Daß diese Entscheidung oftmals allein davon abhängt, ob eine allen streitigen Ansprüchen gemeinsame Voraussetzung vorliegt oder nicht, berührt die Ansprüche in ihrer Eigenständigkeit nicht. Auch in einem sogenannten Grundurteil gemäß § 130 SGG kann nicht über einzelne Anspruchsvoraussetzungen entschieden werden, sondern nur über den Anspruch auf eine Geldleistung dem Grunde nach, dh insoweit ist es nur zulässig, eine Entscheidung über die Höhe des Anspruchs zu unterlassen. Allein die Tatsache, daß über mehrere Ansprüche mit ein und demselben Bescheid entschieden wird, kann schon deshalb nicht dazu führen, daß, wenn nur einer dieser Ansprüche berufungsfähig ist, das auch für die übrigen gilt, weil es dann in der Hand der Versicherungsträger läge, zu bestimmen, ob ein sich von der Berufung ausgeschlossener Anspruch dennoch berufungsfähig wird. Stellt man es dagegen entscheidend darauf ab, ob mehrere Ansprüche ua von derselben Voraussetzung abhängig sind, so müßten alle diese Ansprüche auch dann berufungsfähig sein, wenn über sie, was dem Versicherungsträger nicht verwehrt werden kann, jeweils mit einem gesonderten Bescheid entschieden worden ist. Das würde aber dem Gesetz widersprechen, denn in einem solchen Falle könnte die Berufung gegen ein Urteil, das etwa nur einen Anspruch auf Sterbegeld zum Gegenstand hat, nur diesen Anspruch betreffen und wäre deshalb ohne Frage unzulässig (§ 144 Abs 1 Nr 1 SGG). Wenn das LSG daher ausführt, das Verfahrensrecht solle der Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit dienen (Urteil S 10), ist das im Grundsatz zwar richtig, daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, daß unter bestimmten Umständen eindeutige verfahrensrechtliche Bestimmungen außer Acht zu lassen sind. Der 2. Senat führt insoweit in seinem Urteil vom 12. März 1974 (aaO am Ende) zu Recht aus, der Gesetzgeber habe diesen Grundsatz mit dem § 144 Abs 1 RVO eingeschränkt, indem er den Beteiligten für bestimmte Ansprüche nur eine gerichtliche Instanz zur Verfügung stellt. Mag diese Regelung auch in einzelnen Fällen zu unbefriedigenden Ergebnissen führen, so können diese noch in Kauf genommen werden. Denn bei einer gegenüber dem Urteil des SG positiven Entscheidung des LSG hinsichtlich der Hinterbliebenenrente besteht bezüglich der rechtskräftig abgelehnten Ansprüche, die dem Berufungsausschluß unterliegen, immerhin die Möglichkeit der Neufeststellung gemäß § 627 RVO (vgl BSG 13, 181, 186/187, 189; Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl, Anm 7b zu § 627 - früher § 619 - RVO). Die an sich beachtenswerten Erwägungen des LSG konnten nach alledem ein Abweichen von der ständigen Rechtsprechung des BSG nicht rechtfertigen.

Über die Ansprüche der Klägerinnen zu 2. und 3. hat das LSG zu Recht sachlich entschieden. Diese Ansprüche konnten zwar nicht im Wege einer Anschlußberufung in das Verfahren des LSG eingeführt werden, weil insoweit keine Entscheidung des SG vorlag und die Beklagte ihren Bescheid vom 11. Oktober 1971, der nur an die Klägerin zu 1. gerichtet war, erst in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG auf die Klägerinnen zu 2. und 3. erstreckt hatte. Sie hatte damit erstmalig mit hinreichender Deutlichkeit über diese Ansprüche entschieden und ihren ursprünglichen Verwaltungsakt insoweit abgeändert. In entsprechender Anwendung des § 96 SGG ist dieser Bescheid Gegenstand des anhängigen Verfahrens geworden, und das LSG hatte erstinstanzlich darüber zu entscheiden, wobei Berufungsausschließungsgründe, soweit sie überhaupt in Betracht kommen, der Sachentscheidung nicht entgegenstanden (BSG 18, 231, 235; SozR Nr 23 zu § 96 SGG).

In der Sache selbst hat das LSG zutreffend entschieden, daß der Ehemann bzw Vater der Klägerinnen, als er tödlich verunglückte, nicht unter dem Schutz der gesetzlichen UV stand. Nach den nicht angegriffenen und daher für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) lag die BAK des K., als er auf der Heimfahrt von der Arbeitsstätte den tödlichen Verkehrsunfall erlitt, "weit über dem Grenzwert von 1,3vT", so daß er absolut fahruntüchtig war. In verfahrensrechtlich nicht zu beanstandender Weise hat das LSG darüber hinaus festgestellt, die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit sei die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls gewesen, wodurch der Schutz der gesetzlichen UV während des Heimweges (§ 550 RVO) fortfiel. Das LSG ist bei seiner Entscheidung der ständigen Rechtsprechung des 2. und des erkennenden Senats gefolgt, die auch von den Klägerinnen nicht angegriffen wird (vgl SozR - neue Folge - 2200 § 548 RVO Nr 4 mit weiteren Hinweisen). Der Unfall ist unmittelbar dadurch verursacht worden, daß K. die Lenkung seines Fahrzeugs zu spät und zu wenig betätigte und leicht bremste, wodurch die Lenkwirkung der Vorderräder des frontgetriebenen Pkws noch vermindert (Urteil S 14), und der Wagen nach links aus der Rechtskurve getragen wurde (Urteil S 2). Weder die Straßen- oder Witterungs*-verhältnisse noch technische Mängel des Fahrzeuges noch ein plötzlich auftauchendes Hindernis haben als Unfallursache eine Rolle gespielt. Zutreffend hat das LSG aber auch dem von dem Mitfahrer B. bezeugten Umstand keine Bedeutung im Sinne einer wesentlichen Mitursache beigemessen, daß K. sich "vor der Kurve" (Urteil S 15) nach einem heruntergefallenen Bonbon gebückt hat. Entgegen der Auffassung der Klägerinnen brauchte das LSG weder den Zeugen B. nochmals zu vernehmen, noch ein zusätzliches Gutachten etwa eines Psychologen oder Verhaltensforschers einzuholen, ohne sein Recht auf freie richterliche Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 SSG) oder seine Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) zu verletzen. Selbst wenn B. entgegen seiner Aussage vor dem LSG in der mündlichen Verhandlung vom 22. Mai 1974 (Bl 134 R der LSG-Akte) nähere Angaben darüber hätte machen können, in welcher Entfernung vor der Kurve K. sich nach dem Bonbon gebückt hat, hätte das LSG daraus kein anderes Beweisergebnis herleiten müssen. Das LSG hat dieses Verhalten des K. als der Willenssteuerung unterliegende und daher durch Alkohol beeinflußte Handlung gewertet, so daß es diesen Vorgang auch dann nicht als wesentliche Mitursache angesehen hätte, wenn es hätte feststellen können, daß das unmittelbar zum Unfall führende falsche Fahrverhalten des K. von diesem Vorgang beeinflußt gewesen ist. So richtet sich auch der wesentliche Angriff der Revision gegen die Wertung des Bückens nach dem Bonbon als einer willenssteuerbaren Handlung. Hiermit hat das LSG aber nicht gegen § 128 Abs 1 SGG, insbesondere nicht gegen Erfahrungssätze des täglichen Lebens verstoßen. Es brauchte sich auch nicht durch die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. F. zu weiteren Ermittlungen gedrängt zu fühlen. Dieser hatte zwar in seinem Gutachten vom 27. November 1973 (Bl 95ff der LSG-Akte) Erwägungen darüber angestellt, ob es sich um eine reflektorische oder durch Alkohol beeinflußbare Bewegung gehandelt hat, jedoch selbst erklärt, er fühle sich für die Beantwortung dieser Frage fachlich nicht kompetent (Seite 5, 4. Absatz seines Gutachtens), was auch zutrifft, denn Prof. Dr. F. ist Ingenieur und nicht Mediziner oder Psychologe. Mag daher das von ihm berichtete Ergebnis einer eigenen Befragung von etwa 30 Kraftfahrern recht interessant erscheinen, so stellt es doch letztlich nichts anderes dar, als die Wiedergabe einer sehr begrenzten, nicht wissenschaftlich begründeten Meinungssammlung, die keinen repräsentativen Wert haben kann, zumal der Gutachter für sich selbst als erfahrenem Autofahrer die Möglichkeit solcher reflektorischer Reaktionen entschieden von sich weist. Im übrigen geht aus der von ihm formulierten Frage nicht mit genügender Deutlichkeit der entscheidende Unterschied zwischen einer nicht kontrollierbaren Reflexbewegung und einer der Willenssteuerung unterliegenden Handlung hervor. Die Revision will daher auch nicht aus den Ausführungen von Prof. Dr. F. unmittelbar den Schluß gezogen sehen, K. habe reflexartig, dh nicht willenssteuerbar gehandelt. Das LSG mußte sich aber durch diese Ausführungen angesichts des nahezu 3 Jahre zurückliegenden Todes des K. nicht veranlaßt sehen, dieser Frage mit Hilfe weiterer Sachverständiger nachzugehen. Entscheidend konnte nämlich nur sein, wie das Verhalten des K. selbst zu werten ist und nicht wie andere Kraftfahrer in ähnlichen Situationen möglicherweise zu reagieren glauben. Seine Verhaltensweise läßt sich aber nicht mehr mit einiger Zuverlässigkeit klären, weil geeignete Testuntersuchungen nicht mehr möglich sind. Allenfalls aus einem allgemein gültigen Erfahrungssatz könnten Schlüsse gezogen werden. Eine dahingehende Erfahrung, daß Kraftfahrer in vergleichbaren Situationen reflexartig reagieren, gibt es jedoch nicht. Der gewissenhafte Kraftfahrer wird sich vielmehr in aller Regel sachgemäß verhalten. Das LSG konnte der Auffassung sein, daß das Hinunterfallen eines Bonbons kein Ereignis ist, das nach der Lebenserfahrung zwangsläufig eine unkontrollierbare Reflexreaktion hervorruft. Eine solche Reaktion ist um so weniger zu erwarten, wenn ein Kraftfahrer eine Geschwindigkeit einhält, die "mit Rücksicht auf die unübersichtliche Kurve bedenklich hoch" erscheint (Urteil S 14). Sollte sich ein nüchterner Fahrer in einer solch gefährlichen Situation trotzdem bücken, so wäre das kein Maßstab, der hier angelegt werden könnte. Denn auch ein leichtsinniger Fahrer handelt dann nicht unkontrollierbar, er läßt vielmehr die erforderliche Sorgfalt außer Acht. Gegen die Annahme einer bloßen Reflexbewegung spricht überdies auch die Aussage des Zeugen B., wonach K. zunächst geschimpft hat: "Verdammter Bonbon, der ist mir runtergefallen" (SG-Akten Bl 48/49 - im wesentlichen bestätigt vor dem LSG - Bl 134 R). Konnte das LSG somit ohne Verfahrensverstoß davon ausgehen, das Bücken nach dem Bonbon sei eine der Willenssteuerung unterliegende Handlung gewesen, so ist auch der weitere Schluß nicht zu beanstanden, das entsprechende Verhalten des K. sei durch den genossenen Alkohol - wegen der dadurch bedingten Enthemmung - beeinflußt gewesen. Die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit konnte deshalb auch dann als die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls erachtet werden, wenn das Greifen nach dem Bonbon eine wesentliche Mitursache für das unmittelbar zum Unfall führende falsche Lenk- und Fahr*-verhalten war. Die unmittelbare Ursache eines Verkehrsunfalls stellt in solchen Fällen immer ein Fehlverhalten dar. Ob eine Ursache wesentlich im Sinne der im Recht der gesetzlichen UV geltenden Kausalitätsnorm ist, richtet sich nicht nach der Quantität oder der zeitlichen Reihenfolge des Eintritts der Bedingung in die Kausalkette, sondern nach dem Wert, der der einzelnen Bedingung nach der Auffassung des täglichen Lebens zukommt (BSG 1, 72, 76; 12, 242, 246; 13, 40, 42; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-8. Aufl Band II, Stand: Februar 1975, S 480i mit weiteren Hinweisen). Die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des K. wäre also auch dann wesentliche Unfallursache gewesen, wenn das durch den genossenen Alkohol mitverursachte Greifen bzw Bücken nach dem Bonbon das Lenk- und Fahr*-verhalten des K. - wie die Revision meint - nur wenige Sekunden vor dem Zusammenstoß bzw dem Unfall beeinflußt hätte. Denn andere Umstände, die den Unfall auch dann verursacht hätten, wenn K. nicht alkoholbedingt fahruntüchtig gewesen wäre, hat das LSG nicht festgestellt, noch sind sie ersichtlich. Wäre der Unfall sonach wahrscheinlich nicht eingetreten, wenn K. nicht unter Alkoholeinfluß gestanden hätte, so war seine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit die rechtliche allein wesentliche Unfallursache, wodurch der Schutz der gesetzlichen UV ausgeschlossen wird. Die Nichterweisbarkeit anderer wesentlicher Unfallursachen geht insoweit zu Lasten der Klägerinnen (BSG 12, 242, 246; 35, 216, 218). Das LSG hat daher die sachlich-rechtlichen Voraussetzungen für die Ansprüche der Klägerinnen auf Hinterbliebenenbezüge zutreffend verneint und, soweit nicht die Rechtskraft des Urteils des SG Gießen vom 12. Oktober 1972 entgegensteht, die Klagen mit Recht abgewiesen.

Die Revision konnte somit nur soweit Erfolg haben, als das LSG die Klage der Klägerin zu 1. auch hinsichtlich der Ansprüche auf einmalige und wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen (Sterbegeld, evtl entstandene Überführungskosten und Überbrückungshilfe) abgewiesen hat.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654329

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