Leitsatz (redaktionell)
Waisenrente der Kinder nach dem Tode der Mutter bei Überleben des Vaters: #1. Nach BVG § 45 Abs 5 S 1 ist der Waisenrentenanspruch von Kindern nach dem Tode der Mutter ohne Rücksicht auf das Geschlecht der Waisen an andere Voraussetzungen geknüpft, als der Anspruch der ehelichen Kinder, deren Vater an den Folgen einer Schädigung gestorben ist. Es handelt sich also um die Frage, ob diese unterschiedlichen Voraussetzungen mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des GG Art 3 vereinbar sind.
Das ist zu bejahen. Stirbt der Vater eines ehelichen Kindes, so hat dieses regelmäßig seinen Haupternährer verloren. Beim Tode der Mutter stellt dagegen der Vater durch seine Erwerbstätigkeit den Lebensunterhalt des Kindes meist sicher.
Normenkette
BVG § 45 Abs. 5 S. 1 Fassung: 1950-12-20; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Abs. 2 Fassung: 1949-05-23
Tenor
Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 28. September 1955 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen
Gründe
Die Mutter der Kläger wurde nach dem Einmarsch der russischen Truppen in Ungarn Ende 1944 verschleppt und starb am 22. Juni 1945 in einem Arbeitslager in Rußland. Der Vater der Kläger ist erwerbstätig und bezieht keine Witwerrente. Ihr Antrag auf Bewilligung der Waisenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 7. April 1953 wurde durch Bescheid des Versorgungsamts (VersorgA.) F - Außenstelle Bad H - vom 30. September 1954 abgelehnt, weil ihr Vater noch lebe und keine Witwerrente beziehe. Der Widerspruch der Kläger blieb erfolglos (Bescheid des Landesversorgungsamts - LVersorgA. - Hessen vom 6. Januar 1955).
Das Sozialgericht (SG.) Fulda hat die Klage durch Urteil vom 28. September 1955 abgewiesen: Die Voraussetzungen des § 45 Abs. 5 Satz 1 BVG seien nicht erfüllt. Diese Vorschrift widerspreche auch nicht dem im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) enthaltenen Gleichberechtigungsgrundsatz. Zwar seien die Eltern ihren Kindern gegenüber gleichmäßig zum Unterhalt verpflichtet. Die Gestaltung des Gesellschaftslebens im Bundesgebiet zeige aber, daß der Ehemann im allgemeinen der alleinige Verdiener sei. Davon gehe auch das BVG aus. Das SG. hat die Sprungrevision ausdrücklich zugelassen. In der Rechtsmittelbelehrung hat es u. a. ausgeführt, daß die Zulassung der Sprungrevision einer Anregung des Vertreters der Kläger entspreche. Sie sei nach § 161 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nur zulässig, wenn der Rechtsmittelgegner einwillige. Außerdem hat das SG. noch die Berufung zugelassen.
Der Prozeßbevollmächtigte der Kläger hat gegen das ihm am 7. Oktober 1955 zugestellte Urteil durch einen beim Bundessozialgericht (BSG.) am 28. Oktober 1955 eingegangenen Schriftsatz mit Einwilligung des Beklagten Sprungrevision eingelegt und mit einem weiteren Schreiben (eingegangen am 1.11.1955) beantragt,
den Bescheid des VersorgA. F - Außenstelle H - vom 30. September 1954, den Bescheid des LVersorgA. Hessen vom 6. Januar 1955 und das Urteil des SG. Fulda vom 28. September 1955 aufzuheben und den Klägern die beantragte Waisenrente zuzuerkennen.
Der Prozeßbevollmächtigte hat in der Revisionsbegründung vom 25. November 1955 die Nichtanwendung der Art. 3 Abs. 2, 117 GG gerügt. § 45 Abs. 5 BVG stehe mit der ebenfalls unterschiedlichen und grundgesetzwidrigen Regelung über die Gewährung der Witwen- und Witwerrente in engem Zusammenhang. Diese gehe auf die Vorstellung über die familienrechtliche Stellung der Eheleute, insbesondere auf die bisher für sie geltenden Vorschriften über die Unterhaltsverpflichtung zurück. Die Erfahrung des Lebens zeige aber, daß die soziale Struktur und die Lebensverhältnisse insbesondere der ländlichen Bevölkerung eine Erwerbstätigkeit der Ehefrau über das normale Maß hinaus verlange. Das zeige auch der vorliegende Fall, in dem die Mutter der Kläger als Inhaberin einer Landwirtschaft und als Näherin die Familie ernährt habe. Art. 3 Abs. 2 GG trage diesen veränderten Lebensverhältnissen Rechnung. Es widerspreche daher dieser Vorschrift, wenn die Gewährung der Waisenrente nach § 45 Abs. 5 beim Tode der Mutter davon abhängig gemacht werde, daß der Vater nicht mehr lebt oder Witwerrente bezieht.
Der Beklagte hat beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen; hilfsweise: als unbegründet zurückzuweisen.
Die Revision sei unzulässig, weil das Urteil nach § 143 SGG mit der Berufung anfechtbar gewesen sei und daher § 161 Abs. 1 i. V. mit § 150 SGG nicht eingreife; in sachlicher Hinsicht hält er das angefochtene Urteil für zutreffend.
Das SG. konnte die Sprungrevision gegen sein Urteil nicht zulassen. Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet nach § 143 SGG regelmäßig die Berufung statt. Nur in denjenigen Fällen, in denen diese Urteile an sich nicht berufungsfähig, sondern nur nach § 150 SGG ausnahmsweise mit der Berufung anfechtbar sind, eröffnet § 161 Abs. 1 SGG den Beteiligten die Möglichkeit, unter Übergehung des Berufungsverfahrens die Revision unmittelbar beim BSG. (Sprungrevision) einzulegen (BSG. 1 S. 69; 2 S. 135). In dieser Vorschrift ist abschließend geregelt, unter welchen Voraussetzungen gegen Urteile der Sozialgerichte die Revision statthaft ist. Daneben bleibt für eine Zulassung der Revision durch die Sozialgerichte kein Raum (ebenso Hastler, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 6 zu § 162 SGG; für § 566 a ZPO: RGZ. 146 S. 209; Stein-Jonas-Schönke-Pohle, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., § 566 a II 1). Im vorliegenden Fall konnte das Urteil des SG. nach § 143 SGG mit der Berufung angefochten werden, weil keiner der in den §§ 144-149 SGG genannten Ausschließungsgründe vorliegen. Eine Zulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG kam daher nicht in Frage. Somit wäre die Sprungrevision an sich nicht statthaft. Die Verwerfung des Rechtsmittels hätte aber zur Folge, daß die Kläger auch keine Berufung mehr einlegen könnten, weil die Einlegung der Sprungrevision als Verzicht auf das Rechtsmittel der Berufung gilt (§ 161 Abs. 2 SGG). Die Kläger könnten dann das Urteil des SG. nicht mehr anfechten. Ein solches Ergebnis müßte ihnen unverständlich erscheinen, weil sie darauf vertrauten, daß sie auf dem ihnen durch das SG. gewiesenen Prozeßweg eine für sie günstige Entscheidung über ihren Waisenrentenanspruch erreichen können. Sie konnten, zumal das SG. "die Sprungrevision zugelassen" und auch in der Rechtsmittelbelehrung auf diesen Rechtsbehelf hingewiesen hatte, nicht ohne weiteres erkennen, daß die vom SG. ausgesprochene Zulassung der Berufung, aus der sie die Zulässigkeit der Sprungrevision herleiteten, gegen das Gesetz verstößt. In einem solchen Fall, in dem der Beteiligte im Vertrauen auf die Richtigkeit der Entscheidung über die Zulassung der Berufung Sprungrevision eingelegt hat, um unter Übergehung des zweiten Rechtszuges eine streitige Rechtsfrage einer raschen höchstrichterlichen Entscheidung zuzuführen, muß daher die Revision statthaft sein (vgl. BSG. 2 S. 135; 3 S. 276; SozR. SGG § 161 Bl. Da 3 Nr. 8). Die aus diesen Gründen statthafte Revision ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, (§§ 161 Abs. 1 Satz 2, 164 SGG). Sie ist daher zulässig.
Die Revision ist aber nicht begründet.
Die von den Klägern gerügte Gesetzesverletzung liegt nicht vor. § 45 Abs. 5 Satz 1 BVG, auf den es bei der Entscheidung über den Waisenrentenanspruch der Kläger ankommt, verstößt nicht gegen das Grundgesetz. Der Senat konnte dies in eigener Zuständigkeit feststellen (vgl. Urt. des 8. Senats vom 14.3. 1957 - SozR. BVG § 43 Bl. Ca 1 Nr. 1). Das SG. hat ausgeführt, daß § 45 Abs. 5 Satz 1 BVG nicht gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 2 GG) verstoße. Die Revision bekämpft diese Ansicht, mißt aber § 45 Abs. 5 Satz 1 BVG ebenfalls am Gleichberechtigungsgrundsatz. Art. 3 Abs. 2 GG betrifft jedoch nur solche Vorschriften, durch die das männliche Geschlecht gegenüber dem weiblichen (oder umgekehrt) benachteiligt wird. § 45 Abs. 5 Satz 1 BVG behandelt indessen, wie der 8. Senat in seinem Urteil vom 14. März 1957 ausgeführt hat, den Waisenrentenanspruch von ehelichen Kindern, deren Mutter an den Folgen einer Schädigung gestorben ist, ohne Rücksicht auf das Geschlecht der Waisen, und knüpft ihn an andere Voraussetzungen als den Anspruch der ehelichen Kinder, deren Vater an den Folgen einer Schädigung gestorben ist. Letztere erhalten die Rente stets (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 BVG), erstere nur dann, wenn entweder der Vater nicht mehr lebt oder Witwerrente bezieht (§ 45 Abs. 5 Satz 1 BVG). Es handelt sich also bei § 45 Abs. 5 Satz 1 BVG nicht darum, ob ein Geschlecht gegenüber dem anderen benachteiligt wird, sondern um die Frage, ob die ehelichen Kinder nach dem Tode der Mutter (infolge einer Schädigung) gegenüber den ehelichen Kindern nach dem Tode des Vaters versorgungsrechtlich benachteiligt werden. Daraus folgt, daß es hier darauf ankommt, ob die unterschiedlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Waisenrente mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sind. Dies trifft, wie der Senat in seinem Urteil vom 14. März 1957 entschieden hat, zu. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Gesetzgeber, daß er weder Gleiches ungleich noch Ungleiches gleich behandelt. Eine hiernach unzulässige Behandlung ist aber nur dann anzunehmen, wenn sich ein sachgerechter Grund für eine gesetzliche Vorschrift nicht finden läßt (vgl. Urteil des 8. Senats vom 14.3.1957 mit weiteren Hinweisen). Der Gesetzgeber hat im § 45 Abs. 5 Satz 1 BVG verschiedenartige Tatbestände verschieden geregelt, ohne die ihm durch den allgemeinen Gleichheitssatz gesetzten Grenzen zu überschreiten. Wenn der Vater eines ehelichen Kindes stirbt, hat dieses regelmäßig den Haupternährer verloren. Es wird zwar durch den Tod der Mutter ebenfalls hart betroffen, der Vater stellt durch seine Erwerbstätigkeit den Lebensunterhalt des Kindes aber meist sicher. Nur dann, wenn er nicht mehr lebt oder Witwerrente bezieht, und damit für das Kind nicht sorgen kann, soll es eine Rente erhalten. Diese Verschiedenheit der Tatbestände läßt eine unterschiedliche Behandlung der Waisen im BVG je nach dem, ob die Mutter oder der Vater an den Folgen einer Schädigung gestorben ist, als sachgemäß erscheinen. Das Gericht hat nicht zu prüfen, ob diese Regelung zweckmäßig oder sozialpolitisch gut oder schlecht ist (vgl. Urteile des erkennenden Senats vom 14.3.1957 und vom 26.10.1956 in BSG. 4 S. 75 (83, 84) mit weiteren Hinweisen). Wenn sich aus dieser Regelung Härten ergeben, kann in besonders begründeten Fällen im Wege des Härteausgleichs (§ 89 BVG) geholfen werden.
Den Klägern steht hiernach keine Waisenrente zu, weil ihr Vater noch lebt und keine Witwerrente bezieht. Die Revision ist daher als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten, weil die Kosten des Beklagten nicht erstattungsfähig sind (§ 193 Abs. 4 SGG).
Fundstellen