Leitsatz (amtlich)
1. Geht einer Maßnahme der Rehabilitation eine Zeit der Arbeitsunfähigkeit unmittelbar voraus, so ist das Übergangsgeld - jedenfalls in der Regel - aus dem nach RVO § 182 Abs 5 maßgebenden letzten Entgelt vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit zu ermitteln.
2. Der Annahme einer bis zum Beginn der Maßnahme fortdauernden Arbeitsunfähigkeit (für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit) steht nicht entgegen, daß sich der Behinderte zwischenzeitlich der Arbeitsvermittlung (für leichtere Arbeiten) zur Verfügung gestellt hat.
Normenkette
AVG § 18 Abs. 1 Fassung: 1974-12-21; RVO § 1241 Abs. 1 Fassung: 1974-12-21; AVG § 18a Abs. 1 Fassung: 1974-08-07; RVO § 1241a Abs. 1 Fassung: 1974-08-07, § 182 Abs. 4 Fassung: 1974-08-07, Abs. 5 Fassung: 1974-08-07; AFG § 103
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 15.08.1978; Aktenzeichen L 6 An 1727/77) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 24.08.1977; Aktenzeichen S 5 An 2514/76) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. August 1978 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Revisionsverfahren.
Gründe
I
Streitig ist die Berechnung eines Übergangsgeldes für eine dem Kläger für die Zeit vom 21. Juni 1976 an bewilligte Maßnahme der Berufsförderung (Umschulung zum Industriekaufmann).
Der Kläger war als Lagerist im Angestelltenverhältnis rentenversicherungspflichtig beschäftigt und am 12. Juli 1974 an einer Lungentuberkulose arbeitsunfähig erkrankt. Seine letzten Arbeitsverdienste betrugen (ohne einmalige Zuwendungen) für Juni 1513,18 DM, für Juli 1395,99 DM und für die Zeit vom 1. bis 23. August (1974) 983,60 DM. Das Arbeitsverhältnis endete zum 31. Dezember 1975.
Der Kläger bezog ab 24. August 1974 Krankengeld und ab dem 4. Februar 1976 Arbeitslosengeld. Das Krankengeld war nach dem Verdienst für Juli 1974 berechnet.
Demgegenüber legte die Beklagte dem Übergangsgeld den Augustverdienst von 1974 zugrunde, wobei sie zur Ermittlung des Regellohnes das Bruttoentgelt für die 23 Verdiensttage durch 23 teilte. Hierbei ergaben sich Tagesbeträge von 33,67 DM, ab September 1976 von 37,37 DM (Bescheid vom 6. August 1976) und ab September 1977 von 41,07 DM (Bescheid vom 23. November 1977, während des Rechtsstreits erteilt). Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 1976).
Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte, das Übergangsgeld aus dem Entgelt für Juni 1974 neu zu berechnen (Urteil vom 24. August 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hat diese Verpflichtung auf die Zeit ab September 1977 erstreckt und die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 15. August 1978). Zur Begründung hat es ausgeführt, für die Berechnung des Übergangsgeldes nach § 18 Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) könne nicht stets der vor Beginn der Maßnahme zuletzt abgerechnete Lohnzeitraum (hier: Kalendermonat) maßgebend sein. Die Vorschrift verweise uneingeschränkt auf § 182 Absätze 4 und 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO), die ausschließlich auf Entgelte vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit abstellten. § 18 Abs 1 AVG gelte zwar gleichermaßen für "vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder einer Maßnahme" versicherungspflichtig Beschäftigte. Das rechtfertige aber allenfalls dann, wenn einer Maßnahme keine Arbeitsunfähigkeit vorangehe, das Übergangsgeld nach dem zuletzt vor der Maßnahme erzielten Entgelt zu berechnen. In den anderen Fällen seien die Verhältnisse vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit maßgebend. Das gelte jedenfalls dann, wenn diese Berechnungsart für den Betreuten günstiger sei; insoweit bezog sich das LSG auf das Urteil des erkennenden Senats vom 17. April 1978 zu § 18 Abs 2 AVG (SozR 2200 § 1241 Nr 6). Der Kläger habe somit Anspruch auf Berücksichtigung des im Juni 1974 erzielten höheren Entgelts.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 18 Abs 1 AVG, 182 Abs 5 RVO. Auf den letzten vor der Arbeitsunfähigkeit abgerechneten Lohnzeitraum dürfe jedenfalls dann nicht mehr abgestellt werden, wenn die Arbeitsunfähigkeit nicht ununterbrochen bis zum Beginn der Rehabilitationsmaßnahme bestanden habe; der Kläger sei ab Februar 1976 - während des Bezuges von Arbeitslosengeld - wieder arbeitsfähig gewesen.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
II
Die Revision der Beklagten war zurückzuweisen.
Der Kläger hat gem §§ 18 Abs 1, 18a Abs 1 AVG (idF vor Juli 1977) Anspruch auf Übergangsgeld unter Berücksichtigung des Lohnabrechnungszeitraumes vom 1. bis 30. Juni 1974. Die Neufassung durch das 20. Rentenanpassungsgesetz vom 27. Juni 1977 ist hier nicht anwendbar (vgl Art 3 § 1 Abs 1 dieses Gesetzes).
Nach § 18 Abs 1 AVG "gelten" für die Berechnung des Übergangsgeldes bei einem Betreuten, der - wie hier der Kläger - "vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder einer Maßnahme" gegen Arbeitsentgelt versicherungspflichtig beschäftigt war, § 182 Abs 4 und 5 RVO. Hiervon bestimmt Abs 4 (im Grundsatz), daß das "Krankengeld" 80 vH des "wegen der Arbeitsunfähigkeit" entgangenen, nach weiteren Absätzen zu berechnenden Regellohnes beträgt; Abs 5 nimmt dann hierfür als Ausgangspunkt Entgelte, die in den letzten "vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit" abgerechneten Lohnzeiträumen erzielt worden sind.
Schon dieser Überblick zeigt, daß die in § 18 Abs 1 AVG angeordnete unmittelbare Anwendung des § 182 Abs 4 und 5 RVO nur im Sinne einer entsprechenden Anwendung gemeint sein kann. Diese Absätze betreffen nur Fälle einer Arbeitsunfähigkeit; nach § 18 Abs 1 AVG ist jedoch Übergangsgeld auch dann zu zahlen, wenn der Betreute nicht arbeitsunfähig ist, aber iS von § 17 AVG wegen der Teilnahme an der Maßnahme keine ganztägige Erwerbstätigkeit ausüben kann. In einem solchen Falle kann bei Anwendung des § 182 Abs (4 und) 5 RVO nicht an Entgelte vor dem Beginn einer Arbeitsunfähigkeit angeknüpft werden. Es bleibt dann nur die Möglichkeit einer entsprechenden Anwendung des § 182 Abs 5 RVO in dem Sinne, daß anstelle der Worte "vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit" die Worte "vor Beginn der Maßnahme" gesetzt werden.
Kein Grund besteht aber andererseits, deswegen stets vom Beginn der Maßnahme auszugehen, wie die Beklagte noch in den Vorinstanzen gemeint hat. Bei bestehender Arbeitsunfähigkeit kann vielmehr ohne weiteres an den Beginn der Arbeitsunfähigkeit angeknüpft und auf das letzte nach § 182 Abs 5 RVO maßgebende Entgelt vor der Arbeitsunfähigkeit zurückgegriffen werden. Das entspricht nicht nur dem Wortlaut der hier auszulegenden Vorschriften, sondern auch ihrem Sinn und Zweck. Das LSG weist zutreffend darauf hin, daß die die Rehabilitationsmaßnahme auslösende Behinderung dann meist mit der Arbeitsunfähigkeit zusammenhängt und daß während der Arbeitsunfähigkeit etwa noch erzielte Entgelte in der Regel niedriger sind als zuvor erzielte.
Da es somit im Rahmen des § 18 Abs 1 AVG Fälle gibt, in denen einmal auf Entgelte vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit, ein anderes Mal auf Entgelte vor Beginn der Maßnahme abzustellen ist, kann sich allerdings die Frage stellen, ob bei Betreuten mit vorangegangener Arbeitsunfähigkeit das Übergangsgeld nicht ausnahmsweise nach dem letzten Entgelt vor Beginn der Maßnahme zu berechnen ist, wenn diese Berechnung zu einem für den Betreuten günstigeren Ergebnis führt. Insoweit liegen Parallelen zur entsprechenden Auslegung des § 18 Abs 2 AVG bei freiwillig Versicherten nahe (vgl. Urteil des Senats vom 17. April 1978, SozR 2200 § 1241 Nr 6, und Urteil des 1. Senats vom 25. November 1978 - 1 RA 13/78 -). Da diese Frage im vorliegenden Falle nicht erheblich ist, braucht der Senat sie hier jedoch nicht zu entscheiden.
Das LSG hat hier jedenfalls zu Recht den höheren Verdienst im Juni 1974 deshalb zugrunde gelegt, weil dies das Entgelt im letzten vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit abgerechneten Kalendermonat (§ 182 Abs 5 Satz 2 RVO) war. Dabei ist der Beklagten allerdings darin zuzustimmen, daß der Rückgriff auf diesen Verdienst nur dann zulässig war, wenn die am 12. Juli 1974 begonnene Arbeitsunfähigkeit tatsächlich bis zum Beginn der Maßnahme am 21. Juni 1976 fortbestand. Entgegen der Auffassung der Beklagten war dies aber nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG der Fall.
Das angefochtene Urteil ist dahin zu verstehen, daß der Kläger vor Beginn der Maßnahme ab 12. Juli 1974 ununterbrochen bis zum Beginn der Maßnahme am 21. Juni 1976 arbeitsunfähig gewesen war. Das LSG hat zwar nur den Beginn der Arbeitsunfähigkeit ausdrücklich genannt; andererseits wird aber auch keine Beendigung dieser Arbeitsunfähigkeit in dem Zeitraum, auf den sich die Feststellungen des LSG beziehen, mitgeteilt. Damit ist zwar die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit nicht ausdrücklich festgestellt. In den Ausführungen des LSG zu den Fällen einer der Maßnahme vorangehenden Arbeitsunfähigkeit deutet jedoch nichts darauf hin, daß das LSG hier nicht nur an die Fälle einer der Maßnahme unmittelbar vorangehenden Arbeitsunfähigkeit, sondern auch an die Fälle einer irgendwann vorangegangenen Arbeitsunfähigkeit gedacht haben könnte. Das Urteil kann somit nach seinem Gesamtzusammenhang nur dahin verstanden werden, daß das LSG eine ununterbrochen zumindest bis zum Beginn der Maßnahme fortdauernde Arbeitsunfähigkeit festgestellt hat.
Gegen eine solche fortbestehende Arbeitsunfähigkeit spricht nicht der vom LSG festgestellte Bezug von Arbeitslosengeld (Alg). Der Bezug von Alg ab 4. Februar 1976 besagt nicht, daß der Kläger von diesem Zeitpunkt ab für seine letzte Beschäftigung als Lagerist wieder arbeitsfähig war (vgl Urteil des 4. Senats BSGE 46, 295, 297). Arbeitsunfähigkeit und Verfügbarkeit sind nicht deckungsgleich, wie § 118 Abs 1 Nr 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) zeigt. Danach ruht das Alg beim Bezug von Krankengeld (vgl Hennig/Kühl/Heuer, AFG, § 103 Anm 2a; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd 2, S 392b). Arbeitsunfähig ist, wer weder seine letzte Erwerbstätigkeit noch eine ähnliche Arbeit verrichten kann (vgl BSG SozR 2200 § 182 Nr 12). Eine Verweisung auf berufsfremde Tätigkeiten findet in der Krankenversicherung nicht statt (BSGE 26, 288). Auf eine berufsfremde Tätigkeit muß sich der Versicherte ausnahmsweise nur dann verweisen lassen, wenn er diese tatsächlich ausübt (BSGE 32, 18). Die bloße Bereitschaft, eine derartige Arbeit auszuüben, schließt dagegen Arbeitsunfähigkeit nicht aus (BSG SozR 2200 § 182 Nr 12). Desgleichen ist die Arbeitsunfähigkeit eines Versicherten, der an einer Arbeitserprobung als berufsfördernde Maßnahme teilnimmt, weiterhin nach der vor dieser Maßnahme "zuletzt ausgeübten Erwerbstätigkeit" zu beurteilen (BSG SozR 2200 § 182 Nr 34 und Urteil vom 12. September 1978 - 5 RJ 6/77 -). Der Annahme fortdauernder Arbeitsunfähigkeit im Beruf als Lagerist steht demnach nicht entgegen, daß sich der Kläger im Februar 1976 (für andere leichtere Arbeiten) der Arbeitsverwaltung zur Verfügung gestellt hat.
Die Feststellung durchgehender Arbeitsunfähigkeit steht auch mit dem übrigen Sachverhalt (der Kläger wurde umgeschult, weil er seine Arbeit als Lagerist nicht mehr verrichten konnte) nicht in Widerspruch, sondern fügt sich im Gegenteil harmonisch ein.
Da die Beklagte gegen die Feststellung durchgehender Arbeitsunfähigkeit Verfahrensrügen nicht erhoben hat, war diese Feststellung für das Revisionsgericht maßgebend. Demnach ist die Revision der Beklagten mit der Kostenfolge aus § 193 Sozialgerichtsgesetz zurückzuweisen.
Fundstellen