Leitsatz (amtlich)
Hat der Versicherungsträger eine Zeit des Luftwaffenhelfer-Dienstes als Ersatzzeit (AVG § 28 Abs 1 Nr 1 = RVO § 1251 Abs 1 Nr 1) vorgemerkt, so schließt das die Vormerkung derselben Zeit als Ausfallzeit der weiteren Schulausbildung iS von AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b (= RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b) nicht aus; erst im späteren Leistungsfall ist zu entscheiden, ob und in welcher Form die Zeit dann anrechnungsfähig ist.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1972-10-16; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1972-10-16; AVG § 35 Abs. 1; RVO § 1258 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 15.09.1978; Aktenzeichen L 3 An 219/77) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 29.08.1977; Aktenzeichen S 20 An 99/77) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. September 1978 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 29. August 1977 wird zurückgewissen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist, ob der am 23. Mai 1926 geborene Kläger die Vormerkung der Zeit vom 17. Februar 1943 bis 7. Februar 1944 als Ausfallzeit beanspruchen kann. In dieser Zeit war er als Luftwaffenhelfer verpflichtet und in einer Flakstellung eingesetzt; zugleich war er noch Schüler der 8. Klasse einer Oberschule und nahm als solcher an dem für die Luftwaffenhelfer "angeordneten" Schulunterricht in dem etwa 1,5 km entfernten Schulgebäude teil.
Die Beklagte hat in ihrem Bescheid vom 5. August 1976 die Zeit wegen des damals geleisteten militärähnlichen Dienstes als Ersatzzeit (iS von § 28 Abs 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes -AVG- iVm § 3 Abs 1 Buchst e des Bundesversorgungsgesetzes) vorgemerkt. Der Kläger begehrt demgegenüber - zumindestens auch - die Vormerkung als Ausfallzeit, weil sie ihm nur dann aufgrund seiner freiwilligen Beiträge (iS des Art 2 § 54a des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes) später angerechnet werde. Sein Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 29. März 1977).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, die streitige Zeit als Ausfallzeit vorzumerken (Urteil vom 29. August 1977). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage abgewiesen (Urteil vom 15. September 1978). Nach seiner Ansicht ist es wegen der unterschiedlichen Rechtsfolgen und Wertigkeit von Ersatzzeiten und von Ausfallzeiten nicht zulässig, eine als Ersatzzeit zu qualifizierende Zeit auch oder wahlweise als Ausfallzeit zu erfassen; alternative Anrechnungsmöglichkeiten seien dem deutschen Sozialversicherungsrecht generell fremd. Da der militärische Einsatz den Charakter der Zeit geprägt, sein zeitlicher Umfang auch den des Schulunterrichts überwogen habe, komme hier nur die Einordnung als Ersatzzeit in Frage.
Mit der zugelassenen Revision beantragt der Kläger (sinngemäß),
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Er hält § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG für verletzt und macht geltend, daß bei dem täglichen fünfstündigen Schulunterricht der militärähnliche Einsatz zeitlich nicht überwogen habe und auch bei bloßem Schulbesuch eine Beitragsleistung unterblieben wäre.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision des Klägers ist von Erfolg; entgegen der Ansicht des LSG kann er verlangen, daß die streitige Zeit - auch - als Ausfallzeit vorgemerkt wird.
Nach § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG ist Ausfallzeit ua die Zeit einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden weiteren Schulausbildung bis zur Höchstdauer von vier Jahren. Diese Voraussetzungen sind ohne Zweifel erfüllt. Allerdings verlangt die Rechtsprechung zusätzlich, daß die Schulausbildung Zeit und Arbeitskraft des Schülers in einem Maße in Anspruch nimmt, daß ihm nicht einmal eine Halbtagstätigkeit daneben zugemutet werden kann (SozR 2200 § 1259 Nr 25 unter Hinweis auf BSGE 36, 156); eine solche Beanspruchung ist jedoch beim Besuch der 8. Klasse einer Oberschule, zumal bei Einrechnung der Schulwege und der Hausarbeiten, auch unter den hier gegebenen Kriegsverhältnissen, ohne weiteres anzunehmen.
Der Bewertung der streitigen Zeit als Ausfallzeit kann im vorliegenden Falle ferner nicht entgegengehalten werden, daß der Kläger wegen des außerdem geleisteten militärähnlichen Dienstes ohnedies keine zumutbare Halbtagstätigkeit hätte ausüben können. Die Rechtsprechung zur Schulausbildung hat bisher nicht danach gefragt, ob außer dem Schulbesuch auch andere Umstände eine Halbtagsbeschäftigung ausgeschlossen hätten. Doch selbst wenn es hierauf ankäme, wäre zu beachten, daß die Rechtsprechung auch beim militärähnlichen Dienst eine vergleichbare zeitliche Beanspruchung verlangt (vgl SozR Nr 69 zu § 1251 RVO für den Notdienst). Das Ausspielen beider Tätigkeiten (Schulbesuch, Luftwaffenhelferdienst) gegeneinander müßte also dazu führen, die betreffende Zeit letztlich weder als Ersatzzeit noch als Ausfallzeit anzusehen. Daß das nicht richtig sein kann, liegt auf der Hand. Die Konkurrenz läßt sich auch nicht dadurch ausräumen, daß nur die zeitlich überwiegende Tätigkeit (hier wohl der Luftwaffenhelferdienst mit seiner langen Einsatzbereitschaft) berücksichtigt wird, weil es für ein solches Vorgehen keinen es rechtfertigenden Grund gibt.
Die streitige Zeit könnte als Ausfallzeit somit nur dann unbeachtet bleiben, wenn ihre Einordnung als Ersatzzeit die gleichzeitige Bewertung als Ausfallzeit ausschlösse. Das LSG hat das angenommen; der Senat vermag dieser Auffassung jedoch nicht zu folgen. Aus dem Gesetz ergibt sich nicht, daß eine Zeit nicht zugleich Ersatz- und Ausfallzeit sein kann. Das AVG regelt mehrfach das Zusammentreffen von versicherungsrechtlich bedeutsamen Zeiten. Es bestimmt in § 35 Abs 1 AVG allgemein, daß bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre die auf die Wartezeit anzurechnenden Versicherungszeiten (dh Beitrags- und Ersatzzeiten), die Ausfallzeiten und die Zurechnungszeit zusammengerechnet werden, soweit sie nicht auf dieselbe Zeit entfallen. Daneben finden sich Einzelbestimmungen zum Verhältnis von Beitragszeiten zu Ersatzzeiten (§ 27 AVG, vgl dazu SozR 2200 § 1251 Nr 34; Art 2 § 15 Abs 2 AnVNG), zum Verhältnis von Beitragszeiten zu Ausfall- und Zurechnungszeiten (§ 32 Abs 7 Satz 2 AVG; vgl. dazu BSGE 41, 41, 49 ff und SozR 2200 § 1259 Nr 9), zum Verhältnis von Zurechnungszeiten zu Versicherungs- und Ausfallzeiten (§ 30 Abs 2 Satz 4 AVG), nicht dagegen zum Verhältnis von Ersatzzeiten zu Ausfallzeiten. Insoweit kann aber wohl mit dem LSG auf den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsatz zurückgegriffen werden, daß unter den in § 35 Abs 1 AVG genannten Zeiten eine Rangfolge in dem Sinne besteht, daß die versicherungsrechtlich "stärkere" Zeit die schwächere verdrängt (so der 4. Senat des Bundessozialgerichts -BSG- in SozR 2200 § 1255 Nr 9), jedenfalls für den Regelfall, was Abweichungen aufgrund der genannten Einzelvorschriften nicht ausschließt. Dem LSG ist ferner darin zuzustimmen, daß die Ersatzzeit gegenüber der Ausfallzeit eine "stärkere" Zeit ist, weil nur Ersatzzeiten, nicht aber Ausfallzeiten auf die Wartezeit für Renten angerechnet werden. Die Vorinstanz hat jedoch nicht bedacht, daß diese Rangfolge allein bei den im Einzelfall auch anrechnungsfähigen Zeiten bedeutsam werden kann; demzufolge befassen sich insbesondere § 35 Abs 1 AVG wie aber auch die angeführten Einzelvorschriften nur mit der Anrechnung im Leistungsfalle. Die versicherungsrechtlich "stärkere" Zeit kann demnach die schwächere lediglich dann verdrängen, wenn die stärkere Zeit dem Versicherten auch durch Anrechnung zugute kommt; eine nicht anrechnungsfähige Ersatzzeit vermag deshalb die Anrechnung einer Ausfallzeit nicht auszuschließen.
Im Vormerkungsverfahren, um das es sich hier handelt, ist jedoch noch nicht über die spätere Anrechnung der geltend gemachten Zeiten zu entscheiden. Das hat der Senat bereits früher zur Vormerkung von Ausfallzeiten dargelegt (BSGE 31, 226, 230); dasselbe gilt jedenfalls heute nach der Erweiterung des § 28 Abs 2 Satz 2 AVG um den Buchstaben c auch für die Ersatzzeiten; im einen wie im anderen Falle läßt sich die Anrechenbarkeit erst nach Eintritt des Versicherungsfalles beurteilen. Daraus ist aber die Folgerung zu ziehen, daß dem Kläger die streitige Zeit gegenwärtig nicht nur als Ersatzzeit, sondern auch als Ausfallzeit vorzumerken ist. Erst im Leistungsfalle hat dann der Versicherungsträger zu entscheiden, ob und in welcher Form sie dem Kläger zugute kommen kann. Nur wenn sie dann als Ersatzzeit anrechnungsfähig wäre, würde ihre Einordnung als Ausfallzeit gegenstandslos werden.
Hiernach war auf die Revision des Klägers das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen. Soweit das SG in den Gründen seiner Entscheidung einerseits den angefochtenen Bescheid der Beklagten nur teilweise für rechtswidrig, andererseits aber lediglich eine Vormerkung als Ausfallzeit für gerechtfertigt hielt, bedurfte es keiner Änderung des erstinstanzlichen Urteilstenors; es genügt hier die Klarstellung, daß die Beklagte die streitige Zeit auch als Ausfallzeit vorzumerken hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen