Beteiligte
Kläger und Revisionskläger |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Der 1934 geborene Kläger, der Anfang 1971 in seinem Beruf als Schiffsführer einen schweren Arbeitsunfall mit Hirnverletzung erlitten hat und deswegen von der Beklagten die Vollrente wegen Erwerbsunfähigkeit bezieht (Bescheide vom 25. Mai und 21. Dezember 1973), verlangt die Gewährung eines Pflegegeldes nach § 558 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die Beklagte hat in den Bescheiden, in denen sie als Unfallfolgen u.a. ein posttraumatisches Anfallsleiden mit psychischen Veränderungen, allgemeiner Verlangsamung, Antriebsminderung, Kopfschmerzen und Schwindelgefühl anerkannt hat, das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit verneint und sich dabei auf die von ihr gehörten ärztlichen Sachverständigen gestützt. Das Sozialgericht (SG) hat nach Einholung eines weiteren neurologischen Gutachtens von Dr. L… die Klage abgewiesen (Urteil vom 25. Juni 1975). Auch das Landessozialgericht (LSG) hat den Klaganspruch für unbegründet gehalten und ausgeführt: Nach den übereinstimmenden ärztlichen Gutachten sei der Kläger nicht pflegebedürftig. So könne er nach Ansicht von Dr. L… seine persönlichen Bedürfnisse wie Ankleiden, Waschen, Essen, Trinken u. s. w. selbst befriedigen und sei wohl auch noch in der Lage, im Haushalt bei anspruchslosen Verrichtungen mitzuhelfen. Die ärztlichen Gutachten böten auch keine Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger die Verrichtungen des täglichen Lebens infolge einer unfallbedingten Antriebsschwäche ohne ständige Überwachung nicht vornehme. Nach einer Bescheinigung seiner behandelnden Nervenärztin Dr. M… bedürfe er zwar wegen der Anfälle ständiger Aufsicht, "damit schwerer Schaden vermieden werde". Aus diesem Grunde sei er jedoch nicht hilflos, wie das Bundessozialgericht (BSG) zu der entsprechenden Vorschrift in § 35 Bundesversorgungsgesetz (BVG) entschieden habe; die Pflegezulage solle nämlich dem Beschädigten nur die Möglichkeit geben, sich für die gewöhnlichen und regelmäßigen Verrichtungen des täglichen Lebens fremder Hilfe zu bedienen, nicht aber künftige Gefahren abzuwenden. Auch der Umstand, daß die Ehefrau des Klägers ihre Berufstätigkeit aufgegeben habe, sei für die Gewährung der Pflegezulage nicht erheblich.
Die vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften herausgegebenen Anhaltspunkte für die Bemessung von Pflegegeld beträfen in Kategorie E nur Hirnverletzte mit schweren Wesensveränderungen, zu denen der Kläger nicht gehöre. § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG, der für erwerbsunfähige Hirnbeschädigte eine Pflegezulage mindestens nach Stufe I vorsehe, gelte nur im Versorgungsrecht und sei in der Unfallversicherung - trotz eines für beide Rechtsgebiete übereinstimmenden Begriffs der Hilflosigkeit - auch nicht analog anwendbar; dagegen spreche vor allem die Entstehungsgeschichte, ferner der Umstand, daß die Unfallversicherung auf den Einzelfall abstelle, das Versorgungsrecht dagegen einen generalisierten oder pauschalen Schadensausgleich bezwecke (Urteil vom 10. Februar 1976).
Der Kläger hat die zugelassene Revision eingelegt und geltend gemacht: Das LSG habe sich im wesentlichen auf die ärztlichen Gutachten gestützt, der Begriff der Hilflosigkeit sei aber nicht allein aus medizinischer Sicht zu beurteilen. Daß die Ehefrau des Klägers ihre Berufstätigkeit aufgegeben habe, dürfe wegen der damit verbundenen wirtschaftlichen Einbußen nicht unberücksichtigt bleiben. Ferner sei zu Gunsten des Klägers zu unterstellen, daß für ihn ständige Hilfe bereitstehen müsse; ihm fehle der Antrieb zu irgendeiner Verrichtung des täglichen Lebens. Seine psychischen Ausfallserscheinungen seien "eher schwer als leicht" und entsprächen damit den Erfordernissen in den genannten Anhaltspunkten des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften. Schließlich sei entgegen der Ansicht des LSG eine analoge Anwendung des § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG im Recht der Unfallversicherung sehr wohl möglich.
Der Kläger beantragt sinngemäß,die Urteile der Vorinstanzen und die ablehnenden Bescheide der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Pflegegeld zu verurteilen.
Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragtunter Hinweis auf ein von ihr vorgelegtes neues neurologisches Gutachten, die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat einen Rechtsanspruch des Klägers auf Gewährung von Pflege (§ 558 Abs. 1 RVO) in der besonderen Form des Pflegegeldes nach § 558 Abs. 3 RVO (vgl. BSGE 25, 49, 50 und SozR RVO § 558 Nr. 2) mit Recht verneint, weil der Kläger nicht hilflos im Sinne der genannten Vorschriften ist.
Nach § 558 Abs. 1 Satz 1 RVO ist Pflege zu gewähren, solange der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls so hilflos ist, daß er nicht ohne Wartung und Pflege sein kann. Diese - durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl. I, 241) neu gefaßte - Vorschrift entspricht nach ihrem Zweck und weitgehend auch ihrem Wortlaut der Regelung des Versorgungsrechts in § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG; danach ist hilflos, wer für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf. Die Rechtsprechung hat deshalb den Begriff der Hilflosigkeit im Unfallrecht im gleichen Sinne wie im Versorgungsrecht ausgelegt, insbesondere auch hier nicht gefordert, daß die Hilfe tatsächlich fortwährend geleistet wird; es genügt, daß die Hilfskraft ständig in Bereitschaft sein muß (BSGE 20, 66, 67). Im übrigen kommt es allein auf den Leidenszustand des Beschädigten infolge der Schädigung und die hierdurch bedingte persönliche Wartung und Pflege an - An- und Auskleiden, Essen und Trinken, Waschen, Verrichten der Notdurft, die notwendige und mögliche körperliche Bewegung, geistige Erholung usw. -, während diejenigen Verrichtungen außer Betracht zu bleiben haben, die mit der Pflege und Wartung seiner Person nicht unmittelbar zusammenhängen, wie z.B. die Bewirtschaftung des Haushalts (BSGE a.a.O.). Betrifft die Hilflosigkeit eines Hirnverletzten nicht sein körperliches Leistungsvermögen, so liegt Hilflosigkeit auch dann vor, wenn der Verletzte die Verrichtungen des täglichen Lebens infolge einer Antriebsschwäche, in die er durch unfallbedingte psychische Veränderungen verfallen ist, ohne ständige Überwachung nicht vornimmt (SozR RVO § 558 Nr. 2). Unter Anwendung dieser, auch vom erkennenden Senat vertretenen Rechtsgrundsätze hat das LSG den Kläger mit Recht nicht für hilflos gehalten.
Wie das LSG festgestellt hat, ist der Kläger zu den Verrichtungen des täglichen Lebens (Ankleiden, Waschen, Essen, Trinken usw.) noch fähig, ohne insoweit ständiger - tatsächlich zu leistender oder mindestens bereitstehender Hilfe zu bedürfen. Wie das LSG weiter festgestellt hat, leidet er auch nicht an einer unfallbedingten Antriebsschwäche, die ihn, ohne daß seine körperliche Fähigkeit zur Vornahme der genannten Verrichtungen beeinträchtigt ist, aus psychischen Gründen hilflos macht. Diese Feststellungen beruhen auf den im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten ärztlichen Gutachten. Formelle Verfahrensrügen hat der Kläger dagegen nicht erhoben. Seine den Feststellungen des LSG widersprechende Behauptung, ihm fehle der Antrieb zu irgendeiner Verrichtung des täglichen Lebens, ist deshalb unbeachtlich, wenn sie dahin zu verstehen sein sollte, daß er diese Verrichtungen infolge einer Antriebsschwäche selbständig, d.h. ohne ständige Überwachung durch Dritte, nicht vornehmen würde. Das gleiche gilt für das Vorbringen des Klägers, zu seinen Gunsten sei zu unterstellen, daß für ihn ständig Hilfe bereitstehen müsse. Auch eine solche Unterstellung wäre, soweit es sich um die Verrichtungen des täglichen Lebens handelt, unvereinbar mit den genannten Feststellungen des LSG, an die der Senat gebunden ist, solange gegen sie - wie hier - keine begründeten Verfahrensrügen erhoben worden sind (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Sollte der Kläger aber sagen wollen, er bedürfe wegen seines Anfallsleidens einer ständig bereitstehenden Hilfe, so würde dies zwar einer Bescheinigung seiner behandelnden Ärztin entsprechen, von deren Richtigkeit das LSG bei seiner Entscheidung offenbar ausgegangen ist. Hilflosigkeit im Sinne des § 558 Abs. 1 RVO wäre damit jedoch nicht zu begründen. Wie schon das LSG im Anschluß an ein Urteil des BSG zu § 35 BVG ausgeführt hat, kann einem anfallgefährdeten Beschädigten, der für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens noch nicht dauernd fremder Hilfe bedarf, eine Pflegezulage nicht lediglich zur Verhütung möglicher Gesundheitsstörungen bei künftig auftretenden Anfällen gewährt werden (BSGE 20, 205; ebenso Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.- 8. Auflage, 40. Nachtrag, S. 560 m mit weiteren Nachweisen). Dieser Auffassung tritt der erkennende Senat bei; denn Hilflosigkeit im Sinne des Versorgungs- und des Unfallrechts ist nicht jeder Zustand, in dem der Verletzte ohne Gewährung von Hilfe nicht ungefährdet bestehen kann. Sie setzt vielmehr - wie sich vor allem aus dem Wortlaut des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG ergibt - ein Bedürfnis nach Hilfe bei den täglichen Verrichtungen voraus, wie auch die Gewährung von Pflege oder Pflegegeld - als gesetzliche Anspruchsleistung - dem Verletzten nur die Möglichkeit zur Beschaffung von Hilfe im täglichen Leben geben soll, dagegen nicht der Abwendung sonstiger Not- oder Gefahrenzustände dient. Das schließt nicht aus, daß der Versicherungsträger aufgrund der Kann-Vorschrift des § 558 Abs. 1 Satz 2 RVO mit Zustimmung des Verletzten auch "in anderen Fällen" - auch zum Zweck der Abwehr von gesundheitlichen Gefahren bei anfallgefährdeten Hirnverletzten - Pflege gewährt. Ob er von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, steht indessen - ähnlich wie die Anwendung der Härteklausel des § 89 BVG (vgl. dazu BSGE 20, 205, 209) - in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Da eine entsprechende Verwaltungsentscheidung bisher nicht ergangen ist, hat der Senat diese Frage nicht näher geprüft.
Nicht zu berücksichtigen ist bei der Prüfung der Hilflosigkeit des Klägers ferner der Umstand, daß seine Ehefrau nach dem Unfall ihre Berufstätigkeit aufgegeben hat und der Familie dadurch wirtschaftliche Nachteile entstanden sind. Solche - nur mittelbaren - Folgen einer Unfallverletzung sind - wie auch andere, nicht unmittelbar mit der persönlichen Wartung und Pflege des Verletzten zusammenhängende Bedürfnisse (BSGE 20, 66, 67: Bewirtschaftung des Haushalts; vgl. auch BSGE 8, 97) - durch die Gewährung von Pflege oder Pflegegeld nicht auszugleichen, wie das LSG zutreffend entschieden hat.
Nicht zu beanstanden sind weiterhin seine Ausführungen zur Anwendung der vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften herausgegebenen "Anhaltspunkte für die Bemessung von Pflegegeld" (abgedruckt bei Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., § 558 Anm. 17). Zu den dort in Kategorie E Nr. 4 genannten Personen (Hirnverletzte mit Lähmungen oder Anfällen oder organischen Hirnleistungsstörungen und schweren Wesensveränderungen) gehört der Kläger nicht.
Entgegen seiner Ansicht ist schließlich eine Sondervorschrift des Versorgungsrechts, nach der erwerbsunfähige Hirnbeschädigte eine Pflegezulage mindestens nach Stufe I erhalten (§ 35 Abs. 1 Satz 4 BVG), in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht analog anwendbar. Die genannte, schon in der ersten Fassung des BVG vom 20. Dezember 1950 in § 35 Abs. 1 Satz 3 enthalten gewesene Vorschrift, erweitert den Kreis der Empfänger der Pflegezulage insofern, als bei erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten die gesetzlichen Voraussetzungen der Hilflosigkeit nicht zu prüfen sind, so daß im Ergebnis auch Personen, die im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG nicht hilflos sind, in den Genuß der Pflegezulage kommen können (zur Entstehungsgeschichte der - ursprünglich allein für "Hirnverletzte" erlassenen - Vorschrift vgl. BSGE 8, 130, 135 und 22, 82, 85). Eine solche Erweiterung des begünstigten Personenkreises bedarf - unabhängig davon, auf welchen Erwägungen des Gesetzgebers, die Vorschrift beruht (vgl. dazu BSGE 20, 205, 208 und 22, 82, 85 f.) - nach Auffassung des Senats einer gesetzlichen Grundlage. Daran fehlt es aber im Recht der Unfallversicherung, obwohl bei Erlaß des UVNG, das die früheren Vorschriften über die Gewährung von Pflege und Pflegegeld in §§ 558 c und d RVO a.F. neu gefaßt hat, die Sondervorschrift des § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG bereits bestanden hat. Wie dieses Schweigen des Gesetzgebers zu deuten ist, läßt sich den Materialien des UVNG nicht entnehmen (vgl. Bundestags-Drucks. IV/120 S. 55 zu § 558, IV/938 (neu) S. 8 zu § 558). Nicht auszuschließen ist, daß der Gesetzgeber die Sonderregelung des Versorgungsrechts für erwerbsunfähige Hirnbeschädigte ebenso wie die vorhergehende für Blinde (§ 35 Abs. 1 Satz BVG) - in das Unfallrecht nicht hat übernehmen wollen. Schon diese Ungewißheit macht eine analoge Anwendung des § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG im Rahmen des § 558 RVO unmöglich. Daran ändert es nichts, daß zwischen der Pflege(geld)regelung im Versorgungs- und im Unfallrecht enge Zusammenhänge bestehen; gerade diese Zusammenhänge hätten den Gesetzgeber bei entsprechender Willensrichtung zu einer ausdrücklichen Übernahme der genannten Vorschrift in das Unfallrecht der RVO veranlassen können. Wenn dies nicht geschehen ist, so kann die Unterlassung des Gesetzgebers vom Richter nicht korrigiert werden, sofern dieser nicht aus einem Vergleich der gesetzlichen Vorschriften unter Berücksichtigung der ihnen zugrunde liegenden Wertungen die sichere Überzeugung gewinnen kann, daß der Gesetzgeber die (vermeintliche) Regelungslücke, hätte er sie erkannt, nur im Sinne einer Übernahme der fraglichen Vorschrift in die RVO geschlossen hätte. Da der Senat eine solche Überzeugung hier nicht hat gewinnen können, hat er sich nicht für befugt gehalten, § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG innerhalb des § 558 RVO analog anzuwenden (die Frage ist offen geblieben in SozR RVO § 558 Nr. 2).
Da das LSG somit einen Rechtsanspruch des Klägers auf Gewährung von Pflege in Gestalt eines Pflegegeldes ( § 558 Absätze 1 und 3 RVO) zutreffend für unbegründet gehalten hat, ist seine Revision vom Senat zurückgewiesen worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen