Entscheidungsstichwort (Thema)
Studentischer Ausgleichsdienst keine Ersatzzeit. Unterschied zum Reichsarbeitsdienst. kein Verstoß gegen Art 3, 12 GG
Orientierungssatz
1. Die Zeit des studentischen Ausgleichsdienstes ist keine Ersatzzeit iS von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 1), weil es an einem militärischen oder militärähnlichen Dienst iS der §§ 2, 3 BVG fehlt. Auch für eine Berücksichtigung im Wege der Analogie ist kein Raum (vgl BSG 1977-02-03 11 RA 46/76 = SozR 2200 § 1251 Nr 32).
2. Die Differenzierung zwischen dem Reichsarbeitsdienst und dem studentischen Ausgleichsdienst steht nicht im Widerspruch zu Art 3 Abs 1 GG.
3. Auch wenn die freie Wahl des Studiums durch die Ableistung des Ausgleichsdienstes in einer Weise erschwert worden ist, die heute als Art 12 GG widersprechend beurteilt werden muß, kann sich daraus nicht ergeben, daß der Gesetzgeber nach dem Erlaß des Grundgesetzes aufgrund des Art 12 den Ausgleichsdienst in die Ersatzzeiten des Rentenversicherungsrechts hätte aufnehmen müssen.
Normenkette
AVG § 28 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1965-06-09; BVG §§ 2-3; GG Art 3 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 12 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 06.11.1981; Aktenzeichen L 1 An 72/81) |
SG Berlin (Entscheidung vom 24.03.1981; Aktenzeichen S 16 An 1613/80) |
Tatbestand
Streitig ist die Vormerkung einer Zeit studentischen Ausgleichsdienstes vom 15. April 1943 bis 30. März 1944 als Ersatzzeit.
Die 1925 geborene Klägerin wurde wegen Untauglichkeit nicht zum Reichsarbeitsdienst (RAD) herangezogen. Im März 1943 legte sie die Reifeprüfung ab. Vom 15. April 1943 bis 30. März 1944 leistete sie bei der Gauamtsleitung der NSV Sachsen einen Ausgleichsdienst für arbeitsdienstuntaugliche studierwillige Abiturienten ab. Im Juni 1944 nahm sie das Studium der Volkswirtschaft an der Technischen Hochschule Dresden auf.
Die Beklagte lehnte eine Vormerkung der Zeit des Ausgleichsdienstes als Ersatzzeit ab. Der nach erfolglosem Widerspruch erhobenen Klage gab das Sozialgericht (SG) statt, das Landessozialgericht (LSG) wies sie ab. Seine Entscheidung hat das LSG damit begründet, daß der Ausgleichsdienst weder militärischer noch militärähnlicher Dienst gewesen sei und auch nicht im Wege der Analogie einem solchen Dienst gleichgestellt werden könne. Er habe insbesondere nicht der Erfüllung der Arbeitsdienstpflicht gedient, vielmehr sei durch ihn nur das Fehlen einer Arbeitsdienstpflicht ausgeglichen worden. Eine Pflicht, den Ausgleichsdienst abzuleisten, habe zu keiner Zeit bestanden; die Ableistung dieses Dienstes sei lediglich Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums gewesen. Auch Art und Umstände des geleisteten Dienstes rechtfertigten nicht eine analoge Anwendung.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 28 Abs 1 Nr 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG). Sie hält eine analoge Anwendung von § 3 Abs 1 Buchst i Bundesversorgungsgesetz (BVG) auf den studentischen Ausgleichsdienst für geboten. Mit seiner Erwägung, daß eine gesetzliche Verpflichtung zur Ableistung des Ausgleichsdienstes nicht bestanden habe, gehe das LSG an den tatsächlichen Verhältnissen der damaligen Zeit vorbei. Sie sei ebenso wie eine Arbeitsdienstpflichtige in der Zeit ihres Ausgleichsdienstes gehindert gewesen, zu studieren. Die Ansicht des LSG laufe auf eine gegen Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) verstoßende Diskriminierung der Behinderten hinaus. Wolle man ihr entgegenhalten, sie hätte, um dem Ausgleichsdienst zu entgehen, auf ihr Studium verzichten können, so stehe das in Widerspruch zu Art 12 Abs 1 GG. Ein Verzicht auf das Studium wäre ihr im Hinblick auf ihre überdurchschnittlichen Abiturnoten auch nicht zumutbar gewesen; sie habe durch ihr Studium von Sozialleistungen unabhängig werden und sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen wollen.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß), das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet; die Klägerin hat keinen Anspruch auf Vormerkung der Zeit des studentischen Ausgleichsdienstes als Ersatzzeit iS des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG.
Nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG sind Ersatzzeiten ua Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes iS der §§ 2 und 3 BVG, der aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist. Militärischer Dienst iS von § 2 BVG ist der studentische Ausgleichsdienst unzweifelhaft nicht gewesen. Er war aber auch kein militärähnlicher Dienst iS des § 3 BVG. Der studentische Ausgleichsdienst fällt unter keinen der in § 3 Abs 1 BVG aufgeführten Dienste; insbesondere war er kein RAD (§ 3 Abs 1 Buchst i BVG).
Der Senat hat des weiteren im Urteil vom 3. Februar 1977 (BSGE 43, 192 ff = SozR 2200 § 1251 Nr 32) dargelegt, daß auch eine analoge Anwendung der §§ 28 Abs 1 Nr 1 AVG, 3 BVG auf den studentischen Ausgleichsdienst nicht möglich ist. Dabei kann dahinstehen, ob § 3 BVG die Fälle des militärähnlichen Dienstes erschöpfend aufzählt und schon deshalb keine Analogie auf andere Dienste ähnlicher Art gestattet (so SozR Nr 9 zu § 3 BVG). Selbst wenn man eine Analogie nicht gänzlich ausschließt, kann sie weder aus den vom 12. Senat im Urteil vom 1. März 1974 (SozR 2200 § 1251 Nr 3) erörterten noch unter anderen Gesichtspunkten erfolgen. Im Falle des 12. Senats galt die Arbeitsdienstpflicht durch die Ableistung eines freiwilligen Arbeitsdienstes als erfüllt; eine solche Wirkung hat der studentische Ausgleichsdienst - auch "inzident", wie die Klägerin meint - nicht gehabt. Durch ihn wurde die Arbeitsdienstpflicht nicht erfüllt, sondern nur das Fehlen einer Arbeitsdienstpflicht ausgeglichen. Der studentische Ausgleichsdienst hat ferner in Art und Umständen bei generalisierender Betrachtung keinen militärähnlichen Charakter getragen (BSGE 43, 193 f).
Dieses Ergebnis begegnet keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Differenzierung zwischen dem Reichsarbeitsdienst und dem studentischen Ausgleichsdienst steht nicht im Widerspruch zu Art 3 Abs 1 GG. Ebenso wie der erkennende Senat hat auch der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) eine Anerkennung von Zeiten des studentischen Ausgleichsdienstes als Ersatzzeit mehrfach abgelehnt. In seinem Urteil vom 14. März 1979 (SozR 2200 § 1251 Nr 61), das einen 1935 geleisteten Ausgleichsdienst betraf, hat er sich dabei auf die Erwägung gestützt, daß dieser Dienst jedenfalls nicht aufgrund gesetzlicher Dienstpflicht geleistet worden sei. Diesen Gedanken hat der 1. Senat in seinem nicht veröffentlichten Urteil vom 23. April 1981 - 1 RA 45/80 - aber auch auf den Fall übertragen, daß der Ausgleichsdienst 1942/43, also "während eines Krieges" geleistet worden ist; in einem solchen Fall kommt es in der Tat allein darauf an, ob es sich um einen militärischen oder militärähnlichen Dienst gehandelt hat. Der 1. Senat hat hier eine Anwendbarkeit des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG mit der Begründung verneint, daß der Ausgleichsdienstleistende nicht "von hoher Hand" durch staatlichen Zugriff zu einer gesetzlich festgelegten Dienstleistung herangezogen worden sei; die Dienstleistung sei leichter hinnehmbar als der gesetzliche Dienst im RAD oder in der Wehrmacht und mit dem Vorteil der Aufnahme oder Weiterführung eines akademischen Studiums verbunden gewesen. Die Verfassungsbeschwerde gegen dieses Urteil hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit der Begründung nicht angenommen, daß es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, wenn der Gesetzgeber danach differenziere, ob eine Dienstleistung auf gesetzlicher Verpflichtung beruht habe (Beschluß vom 10. August 1981 - 1 BvR 772/81 -). Auch der erkennende Senat ist der Auffassung, daß es nicht zuletzt wegen dieses auch im Kriege bestehenden Unterschiedes zwischen dem RAD und dem Ausgleichsdienst nicht verfassungsrechtlich geboten ist, Zeiten der Ableistung des letzteren als Ersatzzeit anzuerkennen; gehört es doch zu den seinen militärähnlichen Charakter wesentlich prägenden Merkmalen des RAD, daß er aufgrund einer gesetzlichen Dienstpflicht, deren Erfüllung unmittelbar erzwungen werden konnte, geleistet wurde.
Dabei kann offen bleiben, inwieweit die Leistung eines studentischen Ausgleichsdienstes gegenüber der Dienstleistung im RAD "vorteilhaft" war; der Senat verkennt auch nicht, daß auf Studierwillige ein durchaus wirksamer mittelbarer Zwang ausgeübt wurde und daß der Ausgleichsdienst für das Entfallen der Arbeitsdienstpflicht einen "Ausgleich" schaffen sollte. Das ändert jedoch nichts daran, daß - worauf es unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes allein ankommt - die Dienstleistung nicht auf gesetzlicher Verpflichtung beruhte und deshalb kein "Eingriff von hoher Hand" vorlag. Art 3 Abs 1 GG ist auch nicht wegen der von der Klägerin behaupteten angeblichen "Diskriminierung Behinderter" verletzt. Der Ausgleichsdienst wurde von allen Studierwilligen gefordert, die keinen RAD leisten mußten. Die Klägerin wird damit nicht wegen ihrer Behinderung ungünstiger gestellt; sie steht allen anderen gleich, die, aus welchen Gründen auch immer, den gesetzlichen Tatbestand des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG iVm den §§ 2 und 3 BVG nicht erfüllen. Davon abgesehen ist der Gesetzgeber unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes nicht gehalten, alle Nachteile, die sich aus Behinderungen oder aus Diensten einer in den §§ 2 und 3 BVG nicht genannten Art ergeben haben, durch Gewährung von Ersatzzeiten auszugleichen. Ob eine den gegebenen Sachverhalt miterfassende gesetzliche Regelung der Gerechtigkeit besser entsprechen würde als das geltende Recht, ist hier nicht zu entscheiden. Ebensowenig ist Art 12 Abs 1 GG entgegen der Ansicht der Klägerin verletzt. Für die Entscheidung des Rechtsstreits bedarf es schon nicht des Arguments, daß der Klägerin eine damalige Abstandnahme vom Studium hätte zugemutet werden können. Auch wenn der Klägerin damals die freie Wahl des Studiums in einer Weise erschwert worden ist, die heute als Art 12 GG widersprechend beurteilt werden müßte, könnte sich daraus nicht ergeben, daß der Gesetzgeber nach dem Erlaß des Grundgesetzes aufgrund des Art 12 den Ausgleichsdienst in die Ersatzzeiten des Rentenversicherungsrechts hätte aufnehmen müssen.
Nach alledem war die Revision mit der sich aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 SGG).
Fundstellen