Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 11.01.1955) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. Januar 1955 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I.
Der Kläger, der Pflichtmitglied der beklagten Krankenkasse ist, reiste am 14. Januar 1954 besuchsweise in die sowjetische Besatzungszone, wo er am 15. Januar 1954 arbeitsunfähig erkrankte. Die Mitteilung über die Arbeitsunfähigkeit ging mit einem ärztlichen Zeugnis am 18. Januar 1954 bei der Beklagten ein. Am 17. März 1954 kehrte der Kläger in die Bundesrepublik zurück und nahm seine Arbeit am 22. März 1954 wieder auf. Die Beklagte gewährte ihm für die Zeit nach seiner Rückkehr vom 18. März 1954 bis einschließlich 21. März 1954 Krankengeld in Höhe von 7,27 DM täglich, während sie ihm für die Zeit vom 18. Januar bis 17. März 1954 nur einen Betrag von 96,39 DM unter Zugrundelegung des amtlichen Umrechnungskurses (1 DM-West = 4,45 DM-Ost) als Krankengeld zahlte mit dem Hinweis, sie leiste diese Zahlung aus Entgegenkommen, weil der Kläger für die Zeit seines Aufenthaltes in der Sowjetzone grundsätzlich keinen Anspruch auf Krankengeld habe. Den gegen die Gewährung des geminderten Krankengeldes erhobenen Widerspruch lehnte der Beschwerdeausschuß durch Bescheid vom 8. Mai 1954 mit der Begründung ab, daß ein Sozialversicherungsabkommen der Bundesrepublik mit der Deutschen Demokratischen Republik nicht bestehe und daß der Kläger deshalb für die Zeit seines Aufenthaltes in der Sowjetzone jedenfalls keinen Anspruch auf das volle Krankengeld habe.
Das Sozialgericht Düsseldorf wies die Klage, mit welcher der Kläger die Zahlung des Krankengeldes von täglich 7,27 DM-West für die Zeit vom 18. Januar bis zum 17. März 1954 begehrte, durch Urteil vom 28. August 1954 ab. Der dem Kläger am 7. September 1954 zugestellten Urteilsausfertigung war eine von dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Sozialgerichts unterzeichnete „Rechtsmittelbelehrung” angeheftet, in der es hieß, daß den Beteiligten gegen das Urteil die Berufung an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zustehe. Durch Beschluß vom 23. Dezember 1954 berichtigte der Urkundsbeamte die „Rechtsmittelbelehrung” dahin, daß gegen das Urteil gemäß § 144 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Berufung nicht zulässig sei. Der Kläger legte gegen das Urteil schon vor Berichtigung der „Rechtsmittelbelehrung” Berufung beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen ein. Er wies selbst darauf hin, daß die Berufung nach § 144 SGG nicht zulässig sei, weil es sich um einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von weniger als dreizehn Wochen handele; die Berufung sei jedoch nach § 150 Nr. 2 SGG als zulässig anzusehen, weil das Urteil sich mit der Vorschrift des § 150 Nr. 1 SGG nicht auseinandergesetzt habe und deshalb ein wesentlicher Mangel des Verfahrens vorliege; sowohl die Frage, ob die Sowjetzone versicherungsrechtlich wie Ausland zu behandeln sei als auch die weitere Frage, ob ein Versicherungsträger Leistungen in einer anderen Währung auszahlen könne, seien von grundsätzlicher Bedeutung; das Sozialgericht wäre verpflichtet gewesen, zu der zwingenden Vorschrift des § 150 Nr. 1 SGG Stellung zu nehmen.
Das Landessozialgericht hat die Berufung durch Urteil vom 11. Januar 1955 als unzulässig verworfen und die Revision zugelassen: Die Berufung sei nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG ausgeschlossen, weil die Gewährung von Krankengeld für einen Zeitraum von weniger als dreizehn Wochen streitig sei. Die Zulässigkeit der Berufung könne auch nicht aus § 150 SGG hergeleitet werden, weil das Sozialgericht die Berufung nicht nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen habe und die Nichtzulassung … nicht als wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG angesehen werden könne. Das Urteil enthalte weder in der Urteilsformel noch in den Gründen einen Ausspruch über die Zulassung; ein solcher könne auch nicht aus der ursprünglichen Fassung der dem Urteil beigefügten „Rechtsmittelbelehrung” entnommen werden. Diese sei in der hier vorliegenden Form nicht Bestandteil der richterlichen Entscheidung. Pur die richterliche Entscheidung über die Zulassung sei nur das Sozialgericht zuständig; sie könne nicht durch das Landessozialgericht, das über die Berufung zu entscheiden habe, nachträglich ausgesprochen werden. Auch die Tatsache, daß sich das Urteil des Sozialgerichts nicht ausdrücklich mit der Frage auseinandergesetzt habe, ob die Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung sei, könne nicht als wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG angesehen werden; das Sozialgerichtsgesetz enthalte keine Vorschrift darüber, daß die Nichtzulassung der Berufung im Urteil auszusprechen und zu begründen sei. Es sei durchaus möglich, daß das Sozialgericht die Frage der Zulassung geprüft habe, obgleich das Urteil darüber nichts aussage. Aber salbst wenn eine solche Prüfung unterblieben wäre, würde auch darin kein wesentlicher Mangel des Verfahrens zu sehen sein, denn die Unterlassung der Prüfung über die Zulassung der Berufung sei für das Zustandekommen der Entscheidung des Sozialgerichts nicht von grundlegender Bedeutung.
Der Kläger hat gegen das Urteil, das ihm am 6. April 1955 zugestellt worden ist, mit Schriftsatz vom 15. April 1955 – eingegangen beim Bundessozialgericht am 18. April 1955 – Revision eingelegt und beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Zur Begründung der Revision macht er geltend, die Berufung sei auf Grund der ausdrücklich erhobenen Verfahrensrüge nach § 150 Nr. 2 SGG statthaft gewesen. Da es sich um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung handele, verletze die Nichtzulassung der Berufung eine bindende Verfahrensvorschrift und beschränke widerrechtlich den Rechtsschutzanspruch der Beteiligten. Die Vorschrift des § 150 Nr. 1 Halbs. 2 SGG gebe den Beteiligten ein nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) gesichertes Hecht auf eine weitere Instanz.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist statthaft, da sie das Landessozialgericht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden, konnte jedoch keinen Erfolg haben … Das Landessozialgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts nicht statthaft gewesen ist. Da es sich im vorliegenden Fall um die Gewährung von Krankengeld – also um wiederkehrende Leistungen – für einen Zeitraum von weniger als dreizehn Wochen handelt, ist die Berufung nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG ausgeschlossen …
Die Berufung ist entgegen der Auffassung der Revision auch nicht nach § 150 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG zulässig. Eine Zulässigkeit der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 150 Nr. 1 SGG) scheidet schon deshalb aus, weil das Sozialgericht die Berufung nicht im Urteil zugelassen hat, wie es § 150 Nr. 1 SGG als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Berufung ausdrücklich fordert. Die Nichtzulassung der Berufung durch das Sozialgericht stellt auch keinen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG dar. Ein bestimmtes verfahrensrechtliches Vorgehen ist dem Gericht erster Instanz in § 150 Nr. 1 SGG nur insofern vorgeschrieben, als es über die Zulassung der Berufung zu entscheiden hat, sich also mit dieser Frage befassen muß. Keiner Erörterung bedarf es hier, welche rechtlichen Folgen es hat, wenn das Sozialgericht eine solche Prüfung unterläßt. Es kann insbesondere dahingestellt bleiben, ob eine solche Unterlassung einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG darstellt, denn im vorliegenden Fall kann nicht festgestellt werden, daß die Prüfung über die Zulassung oder Nichtzulassung unterblieben ist. Der Umstand, daß das Sozialgericht weder in der Urteilsformel noch in den schriftlichen Gründen des Urteils zu der Frage der Zulassung eines Rechtsmittels Stellung genommen hat, zwingt nicht zu der Annahme, daß es sich mit dieser Frage überhaupt nicht befaßt hat; denn das Gesetz schreibt – wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat – nicht vor, daß die Nichtzulassung eines Rechtsmittels im Urteil zum Ausdruck kommen müsse (vgl. § 136 SGG). Nur die positive Entscheidung des Sozialgerichts über die Zulassung der Berufung muß im Urteil – sei es im Tenor oder wenigstens in den Gründen (BSG. 2 S. 121 u. S. 245) – ausgesprochen werden (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 20.12.1956 – 3 RK 22/55 –). Enthält das Urteil keinen Ausspruch über die Zulassung, so besagt dies nur, daß die Berufung nicht zugelassen ist; es kann daraus aber nicht geschlossen werden, daß das Sozialgericht eine Entscheidung über die Frage der Zulassung überhaupt nicht getroffen hat. Vielmehr ist – sofern nicht etwa die Rechtsmittelbelehrung zu einem gegenteiligen Schluß zwingt – davon auszugehen, daß in Fällen solcher Art. das Gericht entsprechend der gesetzlichen Regelung die Frage der Zulassung geprüft, die Notwendigkeit der Zulassung aber verneint hat (vgl. Urteil des 4. Senats vom 1.3.1956 – 4 RJ 156/54 – SozR. SGG § 150 Bl. Da 4 Nr. 12 und das oben genannte Urteil des erkennenden Senats vom 20.12.1956). Auch daraus, daß das Sozialgericht dem Urteil keine Rechtsmittelbelehrung beigefügt, dies vielmehr dem hierzu nicht befugten Urkundsbeamten der Geschäftsstelle überlassen hat, kann nicht geschlossen werden, daß es die Prüfung der Frage der Zulassung unterlassen hat.
Falls das Sozialgericht bei Prüfung der Frage, ob die Voraussetzungen für eine Zulassung vorgelegen haben (§ 150 Nr. 1 SGG), zu einem unrichtigen Ergebnis gelangt sein sollte, so würde darin im übrigen kein wesentlicher Mangel des Verfahrens (error in procedendo), sondern eine inhaltlich unzutreffende Entscheidung (error in judicando) über die Frage der Zulassung der Berufung zu sehen sein. Die Berufung wäre also auch in einem solchen Falle nicht wegen der Rüge eines Verfahrensmangels nach § 150 Nr. 2 SGG zulässig.
Der Kläger irrt auch, wenn er meint, § 150 Nr. 1 Halbs. 2 SGG gebe den Beteiligten ein durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gesichertes Hecht auf Prüfung des Streitfalles durch eine weitere Instanz. Nach Art, 101 Abs. 1 Satz 2 GG darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. „Gesetzlicher Richter” für die Entscheidung über die Zulassung der Berufung ist nach § 150 Nr. 1 SGG „das Sozialgericht”. Hat dieses in Fällen, in denen die Berufung nach § 144 bis 149 SGG ausgeschlossen ist, die Berufung nicht zugelassen, so ist das Sozialgericht – sofern nicht die Berufung nach § 150 Nr. 2 oder 3 SGG zulässig ist – auch „gesetzlicher Richter” für die endgültige Entscheidung über den geltend gemachten Klaganspruch; denn wenn das Gesetz, wie es in § 150 Nr. 1 SGG geschehen ist, die Zulässigkeit eines Rechtsmittels nicht von dem Vorliegen bestimmter, vom Rechtsmittelgericht festzustellender Voraussetzungen, sondern von der verbindlichen Entscheidung des Vordergerichts über die Zulassung des Rechtsmittels abhängig macht, so ist das Rechtsmittelgericht nur dann „gesetzlicher Richter”, wenn ein solcher Zulassungsausspruch des Vordergerichts vorliegt. Der „gesetzliche Richter” im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG braucht nicht notwendig unmittelbar durch das Gesetz bestimmt zu werden, vielmehr kann der Gesetzgeber seine Bestimmung auch in die Hand eines anderen, dafür kraft gesetzlicher Regelung zuständigen Richters legen, wie er es in § 150 Nr. 1 SGG getan hat. Es ist nicht zu verkennen, daß einer solchen Regelung eine gewisse Unsicherheit über den Fortgang des Verfahrens anhaftet (vgl. BVerfG. in NJW. 1957 S. 337 und BGH. in NJW. 1957 S. 33). Die Unsicherheit wäre aber kaum geringer, wenn nicht das Vordergericht, sondern das Rechtsmittelgericht selbst – an Hand bestimmter Richtlinien des Gesetzes – über die Zulässigkeit des Rechtsmittels zu entscheiden hätte. Auch dieses wäre bei Anwendung der Vorschriften über die Voraussetzungen, von denen nach dem Gesetz die Zulässigkeit des Rechtsmittels abhängen soll, der Gefahr eines Irrtums ausgesetzt. So wenig ein solcher Irrtum des Rechtsmittelgerichts das Recht der Beteiligten auf den „gesetzlichen Richter” verletzen würde, kann dies bei einer inhaltlich unrichtigen Entscheidung des Vordergerichts – hier des Sozialgerichts bei der Zulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG – angenommen werden (vgl. auch BSG. 2 S. 81 [84]). Dafür, daß das Sozialgericht die Berufung etwa aus Willkür nicht zugelassen habe (vgl. hierzu BVerfG. S. 359 [364] u. BVerfG. in NJW. 1957 S. 337), ist nichts dargetan. Das Landessozialgericht ist demnach bei seiner Entscheidung mit Recht davon ausgegangen, daß die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts auch nach § 150 Nr. 2 SGG nicht zulässig ist. Die Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 926595 |
NJW 1957, 1007 |