Leitsatz (amtlich)

Einer Witwe, die wiedergeheiratet hat, ist als Abfindung auch dann das Fünffache des Jahresbetrages der Witwenrente zu gewähren, wenn die neue Ehe weniger als 5 Jahre gedauert hat und die Abfindung erst nach Auflösung der neuen Ehe beantragt wird.

 

Normenkette

RVO § 1291 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1302 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30. August 1973 und das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28. Februar 1973 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird unter Änderung ihres Bescheides vom 24. Juli 1972 verurteilt, der Klägerin eine Witwenrentenabfindung in Höhe des Fünffachen des Jahresbetrages der bisher bezogenen Rente unter Anrechnung der bereits geleisteten Abfindung zu gewähren.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Gründe

Es ist umstritten, ob bei einer nachträglich gewährten Witwenrentenabfindung auch dann das Fünffache des Jahresbetrages der bisher bezogenen Rente als Abfindung zu zahlen ist, wenn die neue Ehe der Witwe weniger als fünf Jahre bestanden hat.

Die Klägerin, USA-Bürgerin, begehrt von der Beklagten eine Witwenrentenabfindung in Höhe des fünffachen Jahresbetrages der Witwenrente. Ihr erster Ehemann, der Versicherte, starb im November 1960 in den USA. Im März 1966 heiratete sie wieder. Der zweite Ehemann starb im Oktober 1967. Im November 1968 beantragte die Klägerin die Gewährung von Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes. Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 7. August 1970 die Witwenrente für die Zeit von Juli 1965 bis März 1966. Mit Bescheid vom 11. Dezember 1970 stellte sie das Wiederaufleben der Witwenrente für die Zeit seit November 1968 fest, zahlte aber keine Rente, da die Hinterbliebenenrente nach dem zweiten Ehemann aus dessen Versicherung in den USA höher ist. Mit Bescheid vom 24. Juli 1972 gewährte die Beklagte eine Heiratsabfindung nach dem ersten Ehemann der Klägerin und zwar in der Höhe entsprechend einer Witwenrente für die Zeit von April 1966 bis Oktober 1968.

Das Sozialgericht (SG) hat die auf Gewährung der Witwenrentenabfindung in Höhe des fünffachen Jahresbetrages der Witwenrente gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 28. Februar 1973). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen: Die Berechnungsvorschrift des § 1302 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Abfindung müsse in Verbindung mit der Anrechnungsvorschrift des § 1291 Abs. 2 Satz 2 RVO gesehen werden; aus dieser Vorschrift ergebe sich eine Begrenzung der Abfindungssumme der begehrte Abfindungsmehrbetrag würde in einem Fall wie dem vorliegenden ohne Rechtsgrund gezahlt werden. Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 30. August 1973).

Die Klägerin hat Revision eingelegt. Sie beantragt, das angefochtene Urteil und das Urteil des SG aufzuheben sowie die Beklagte unter Änderung ihres Bescheides vom 24. Juli 1972 zu verurteilen, die Abfindung auch unter Berücksichtigung der Zeit vom 1. November 1968 bis zum 31. März 1971 zu berechnen. Die Klägerin rügt eine Verletzung des § 1302 Abs. 1 RVO. Sie meint, für die Höhe des Abfindungsbetrages bedeute es keinen Unterschied, ob die Witwenrentenabfindung bereits bei Eingehung der neuen Ehe oder erst nach deren Auflösung beantragt werde.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist begründet.

Der Klägerin steht eine Witwenrentenabfindung in voller Höhe zu. Dies ergibt sich aus § 1302 Abs. 1 RVO. Danach ist einer Witwe, die wieder heiratet, als Abfindung das Fünffache des Jahresbetrages der bisher bezogenen Rente zu gewähren. Eine Regelung, nach der die Höhe der Abfindung von der Dauer der neuen Ehe abhängig gemacht wird, besteht nicht. Daß § 1302 Abs. 1 RVO als Höhe der Abfindung das Fünffache des Jahresbetrages der bisher bezogenen Rente bestimmt, besagt nicht gleichzeitig, daß dieser Betrag nur gezahlt werden darf, wenn gegen den Versicherungsträger für die Dauer von fünf Jahren kein Witwenrentenanspruch besteht. Wirtschaftlich ist die Witwenrentenabfindung als einmalige Zahlung auf der Grundlage einer Witwenrente für fünf Jahre errechnet. Rechtlich ist sie jedoch nicht, wie etwa die Kapitalabfindungen nach §§ 72 ff des Bundesversorgungsgesetzes oder §§ 603 ff RVO, eine Leistung "für" einen bestimmten Zeitraum in Höhe des voraussichtlichen Rentenaufwandes. Sie tritt nicht an die Stelle derjenigen Rentenansprüche, die dem Berechtigten ohne Abfindung für die Dauer der nächsten fünf Jahre möglicherweise zustehen oder zugestanden hätten (SozR Nr. 8 zu § 1302 RVO). Diese rechtliche Selbständigkeit ist auch dadurch ausgedrückt, daß die Witwenrentenabfindung in § 1235 RVO neben Renten als eigenständige Regelleistung aufgeführt ist.

Der Auffassung des LSG, eine nachträglich beantragte Witwenrentenabfindung könne nur für die Zeit des tatsächlichen Bestehens der neuen Ehe zuzüglich der Zeit bis zum Wiederaufleben der Witwenrente gewährt werden, findet auch in § 1291 Abs. 2 Satz 2 RVO keine Stütze. Danach ist eine bei der Wiederverheiratung gezahlte Abfindung in angemessenen monatlichen Teilbeträgen einzubehalten, soweit sie für die Zeit nach dem Wiederaufleben des Anspruches auf Rente gewährt ist. Durch diese Regelung wird zwar eine Beziehung zwischen Abfindung und dem Zeitabschnitt, für den sonst Rente zu zahlen gewesen wäre, hergestellt. Das Bundessozialgericht (BSG) hat dazu aber bereits entschieden, daß § 1291 Abs. 2 Satz 2 RVO nicht die Voraussetzungen des Abfindungsanspruches, sondern nur die Art und Weise der Verrechnung einer gezahlten Abfindung mit einer wiederaufgelebten Witwenrentenforderung regelt (SozR Nr. 8 zu § 1302 RVO). Aus § 1291 Abs. 2 Satz 2 RVO ist eine unmittelbare Begrenzung des Abfindungsanspruches nach § 1302 Abs. 1 RVO nicht herzuleiten. Die Regelung des § 1291 Abs. 2 Satz 2 RVO macht vielmehr deutlich, daß der Gesetzgeber die Witwenrentenabfindung nicht als Ersatz für die weggefallene Witwenrente angesehen wissen wollte. Im Gesetz ist dem Versicherungsträger nicht ein selbständiger Anspruch auf Rückforderung von Witwenrentenabfindungen eingeräumt, sondern lediglich eine Anrechnungsmöglichkeit geschaffen worden. Anrechnung bedeutet hier nur Minderung des wiederauflebenden Rentenanspruches (BSG 30, 110). Soweit das BSG in der Entscheidung vom 18.9.1973 (SozR Nr. 36 zu § 1291 RVO) im Zusammenhang mit der Regelung in § 1291 Abs. 2 RVO von einer "Rückzahlungsverpflichtung" des Rentenberechtigten spricht, ist damit nicht die rechtstechnische Bezeichnung für eine Verpflichtung, der ein eigener Rückforderungsanspruch des Versicherungsträgers gegenüber steht, gemeint. Vielmehr ist in dieser Entscheidung in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung ausgeführt, daß es in § 1291 Abs. 2 Satz 2 RVO darum geht, vom Abfindungsempfänger den für die Zeit nach Wiederaufleben des Witwenrentenanspruches gewährten Abfindungsanteil zurückzuerhalten; der zahlungstechnische Weg dazu sei die Verrechnung des Abfindungsanteils mit der wiederaufgelebten Witwenrente. Mit der bloßen Möglichkeit einer Verrechnung wird dem Versicherungsträger das Risiko aufgelastet, Witwenrentenabfindungsbeträge allein auf dem Wege der Minderung wiederaufgelebter Witwenrentenansprüche zurückzuerhalten. Dies hat zur Folge, daß dann, wenn die Witwenrente nicht wiederauflebt oder wenn die wiederaufgelebte Witwenrente nicht gezahlt wird, keine Möglichkeit der Einbehaltung von Abfindungsbeträgen besteht. (BSG 30, 110). Mit der Vorschrift des § 1291 Abs. 2 Satz 2 RVO wird lediglich eine Doppelbelastung der Versichertengemeinschaft aus demselben Versicherungsverhältnis und demselben Versicherungsfall vermieden. Aus diesen Gründen ist es rechtlich ohne Bedeutung, ob eine Witwe bei Eingehung einer neuen Ehe sogleich die - fällige - Witwenrentenabfindung beantragt und erhält oder ob sie - wie im vorliegenden Fall - den Antrag erst nach der Auflösung der neuen Ehe stellt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650101

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