Leitsatz (amtlich)
Unterlassung einer beantragten Beweisaufnahme.
In der Unterlassung der vom Kläger beantragten Beweisaufnahme ist eine vorweggenommene und daher unzulässige Beweiswürdigung zu sehen. Diese darf erst vorgenommen werden, nachdem alle für die Entscheidung erheblichen Beweismittel ausgeschöpft sind.
Normenkette
SGG § 103 S. 2 Fassung: 1974-07-30, § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. September 1973 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger bezieht von der beklagten Landesversicherungsanstalt Altersruhegeld aufgrund des Bescheides vom 29. Mai 1972. Er begehrt die Berücksichtigung freiwilliger Beitragszeiten, und zwar für die Zeit vom 1. Januar 1937 bis zum 31. Dezember 1944. Die Beklagte lehnte die Anrechnung dieser Zeit mit der Begründung ab, daß der Beweis für die Entrichtung freiwilliger Beiträge nicht erbracht sei.
Die Klage hatte in beiden Tatsacheninstanzen keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts vom 15. September 1972 und Urteil des Landessozialgerichts - LSG - vom 19. September 1973). In den Gründen seiner Entscheidung hat das LSG u. a. ausgeführt: Es stehe fest, daß der Kläger während der streitigen Zeitspanne keine freiwilligen Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet habe. Insoweit habe es einer weiteren Beweisaufnahme im Berufungsverfahren nicht bedurft. Der Vortrag des Klägers, seine Ehefrau habe während der vorbezeichneten Zeit Versicherungsmarken gekauft und in der damals vorgeschriebenen Weise entwertet, sei unrichtig. Der den Kläger betreffenden Teil des Kartenarchivs sei vollständig erhalten. Er weise nicht aus, daß freiwillige Beiträge erbracht worden seien. Hinzu komme, daß der Kläger ursprünglich auf ausdrückliches Befragen hin stets angegeben habe, während der streitigen Zeit nicht versichert gewesen zu sein. Erst in der letzten Zeit habe er eine andere Sachdarstellung gegeben. Insoweit müsse sein Vorbringen als unglaubhaft bezeichnet werden. Gegen seine Glaubwürdigkeit spreche ferner, daß er im Berufungsverfahren zunächst vorgebracht habe, die von seiner Ehefrau gekauften Versicherungsmarken seien auf "einfache, nicht vorgeschriebene Karten aufgeklebt worden". Später habe er seinen Vortrag dahin umgestellt, die Beitragsmarken seien auf Originalversicherungskarten geklebt worden. Unrichtig sei auch seine Behauptung, daß in der fraglichen Zeit innerhalb der Arbeiterrentenversicherung Monatsbeiträge entrichtet worden seien. Der Beitragszeitraum habe vielmehr eine Woche betragen. Um Monatsmarken zur Angestelltenversicherung könne es sich nicht gehandelt haben. - Unter diesen Umständen - so ist in dem Urteil weiter ausgeführt - sei bewußt davon abgesehen worden, die vom Kläger zu seinem Vortrag benannten Zeugen K, E, B, S sowie seine - des Klägers - Ehefrau zu vernehmen. Nach Lage der Dinge könne dies bestenfalls zu objektiv unrichtigen, auf Erinnerungstäuschung beruhenden Bekundungen führen. Dies gelte auch für den Zeugen K, auf den sich der Kläger in erster Linie berufe. Es sei unbeachtlich, daß der Zeuge in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat eine eidesstattliche Erklärung vorgelegt habe, die dem letzten Sachvortrag des Klägers entspreche. Die Pflicht zur Sachaufklärung nötige das Gericht nicht zu Ermittlungen auch über solche Umstände, deren Vorliegen aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen unmöglich sei.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen, der Kläger das Rechtsmittel gleichwohl eingelegt. Er rügt, daß das angefochtene Urteil unter Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften zustande gekommen sei.
Der Kläger beantragt, unter Änderung des angefochtenen Urteils nach dem Klageantrag zu erkennen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist trotz Nichtzulassung statthaft; das LSG hat wesentliche Verfahrensvorschriften verletzt. Es hat die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten (vgl. § 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und zugleich gegen seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG), verstoßen.
Der Kläger hat in der Berufungsinstanz die oben bezeichneten Zeugen dafür benannt, daß er während der streitigen Zeitspanne ordnungsgemäß freiwillig Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet habe. Es ist zwar richtig, daß er seinen Sachvortrag mehrfach geändert hat. Dies deutet jedoch nicht zwingend darauf hin, daß sein letzter Sachvortrag unrichtig ist. Die von ihm behauptete Beitragsentrichtung liegt viele Jahre zurück. Es ist nicht auszuschließen, daß er die Vorgänge im einzelnen zunächst nicht mehr in Erinnerung hatte, zumal er sich - wie er vorträgt - selbst um seine Rentenversicherung nicht gekümmert, sondern alles, was damit in Zusammenhang stand, seiner Ehefrau überlassen habe. Es mag auch zutreffen, daß die vom LSG in den Gründen seiner Entscheidung dargelegten Umstände zunächst dagegen sprechen, daß für den Kläger freiwillige Beiträge entrichtet wurden. Dies schließt nicht aus, daß aufgrund der Zeugenaussagen ein anderes Ergebnis gewonnen werden kann. Es ist weder aus rechtlichen noch aus tatsächlichen Gründen unmöglich, daß die vom Kläger benannten Zeugen glaubwürdig bekunden werden, während der fraglichen Zeitspanne seien Beiträge ordnungsgemäß entrichtet worden. Unter diesen Umständen ist in der Unterlassung der vom Kläger beantragten Beweisaufnahme eine vorweggenommene und daher unzulässige Beweiswürdigung zu sehen. Diese durfte erst vorgenommen werden, nachdem alle für die Entscheidung erheblichen Beweismittel ausgeschöpft waren. - Der Kläger hat diese Verfahrensmängel dem Gesetz entsprechend gerügt.
Die hiernach zulässige Revision (vgl. §§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 164 SGG) ist auch begründet. Es ist nicht auszuschließen, daß das LSG nach der weiteren Beweisaufnahme unter Abwägung aller Beweisergebnisse zu einem für den Kläger günstigen Ergebnis gelangen kann.
Deshalb muß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung durch das LSG vorbehalten.
Fundstellen