Leitsatz (amtlich)
Haben sich die Unfallfolgen im Falle einer einseitigen Linsenlosigkeit, die 1948 mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 15 % bewertet wurde und für die seit längerer Zeit allgemein eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % angenommen wird, später erheblich verschlimmert, so daß nun eine Gesamt-MdE von 25 % besteht, so liegt jedenfalls aus diesem Grunde eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des RVO § 622 Abs 1 vor, die die Wiedergewährung der Rente rechtfertigt.
Normenkette
RVO § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 581 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 23. Oktober 1974 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger wegen Änderung der Verhältnisse eine 1948 entzogene Unfallrente (Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit - MdE - von 15 v. H.) nach einer MdE von 25 v. H. wiederzugewähren ist.
Der 1913 geborene Kläger ist von Beruf Klempner. Er erlitt 1937 einen Arbeitsunfall, der zu einem Verlust der Linse des rechten Auges sowie zu leichten Verwachsungen zwischen Regenbogenhaut und Hornhauthinterwand führte. Die Beklagte gewährte dem Kläger eine vorläufige Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H., die sie mit Bescheid vom 23. Juni 1948 mit der Begründung entzog, durch eine Besserung betrage die MdE nur noch 15 v. H. Dieser Bescheid ist bindend geworden.
Am 28. Januar 1970 beantragte der Kläger die Wiedergewährung seiner Verletztenrente mit der Begründung, in seinem Gesundheitszustand sei eine Verschlimmerung eingetreten, da er ständig an Kopfschmerzen leide. Nach Einholung von Sachverständigengutachten, in denen die MdE zunächst mit 20 v. H. und dann einheitlich mit 25 v. H. eingeschätzt worden war, lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 19. Januar 1971 ab, da eine wesentliche Verschlimmerung nach Auffassung der Beklagten nicht eingetreten sei. Diesen Bescheid hat der Kläger mit der Klage angefochten.
Im Verlauf des Klageverfahrens hat er beantragt, die Rente nach § 627 der Reichsversicherungsordnung (RVO) neu festzustellen, da sie ihm 1948 zu Unrecht entzogen worden sei. Diesen Antrag hat die Beklagte mit Bescheid vom 8. April 1971 und Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 1971 abgelehnt.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Abänderung der beiden zuletzt genannten Bescheide, die jetzt nicht mehr Gegenstand des Verfahrens sind, verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 1966 eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. wiederzugewähren. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 2. Februar 1972). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Anschlußberufung des Klägers hat es als unzulässig angesehen (Urteil vom 28. Juli 1972). Auf die Revision des Klägers hat der erkennende Senat mit Urteil vom 23. August 1973 das Urteil des LSG aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen, da aufgrund der Anschlußberufung des Klägers auch über die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 19. Januar 1971 sachlich-rechtlich entschieden werden müsse.
Das LSG hat die Beklagte am 23. Oktober 1974 unter Aufhebung des Bescheides vom 19. Januar 1971 verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 1966 eine Verletztenrente nach einer MdE von 25 v. H. zu gewähren. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt, seit dem 1. Januar 1966 hätten sich die für die Rentenfestsetzung maßgeblichen Verhältnisse geändert. Einmal hätten sich gegenüber der Zeit von 1948 das Arbeitstempo und die Verkehrsdichte wesentlich erhöht und verstärkt, wodurch der Verlust des räumlichen Sehens zu einer stärkeren Beeinträchtigung der Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt geführt habe. Die MdE wegen einseitiger Linsenlosigkeit werde deshalb seit etwa 1954 allgemein mit 20 v. H. eingeschätzt. Wegen der zusätzlichen Beeinträchtigung des Klägers durch die hinzugetretenen Beschwerden (insbesondere Kopfschmerzen) sei die MdE mit 25 v. H. zu bewerten. Wesentliche Teilbedingung für diese Beschwerden sei die Störung der Sehfunktion. Ohne diese habe es nicht oder zumindest nicht im jetzigen Umfang zu den Kopfschmerzen als Auswirkung des Nachlassens zerebraler Kompensationsfähigkeit kommen können. Selbst wenn aber die Beschwerden allein wesentlich auf den Altersprozeß des Klägers zurückzuführen seien, liege auch insoweit eine Änderung der Verhältnisse vor. Der Kläger sei dann - entsprechend der neueren Rechtsprechung zu § 30 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes - besonders beruflich betroffen, in einem solchen Fall müsse ein unfallunabhängiger Nachschaden Berücksichtigung finden.
Die Beklagte hat die zugelassene Revision eingelegt. Sie ist der Ansicht, das LSG habe zu Unrecht eine wesentliche Änderung der Verhältnisse i. S. von § 622 RVO angenommen. Diese könne nicht in der Änderung der tatsächlichen Lebensverhältnisse gesehen werden. Überlegungen zum Arbeitstempo und zur Verkehrsdichte hätten bei der Einschätzung der MdE im Jahre 1948 keine Rolle gespielt. Es sei aber auch nicht zu einer Verschlimmerung der Unfallfolgen gekommen. Wesentliche Ursache für die Kopfschmerzen sei ein altersbedingtes Nachlassen der Spannkraft. Ein solcher unfallunabhängiger Nachschaden könne nicht zu einer Rentenerhöhung führen. Außerdem könne der Kläger seinen Beruf weiter ausüben.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 23. Oktober 1974 aufzuheben, die Anschlußberufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 2. Februar 1972 zurückzuweisen und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Er meint, die allgemeinen Lebensverhältnisse hätten Einfluß auf die Einschätzung der MdE, ihre Änderung müsse berücksichtigt werden. Bei dem vom LSG festgestellten Kompensationsverlust handele es sich um das Gegenteil von Anpassung, so daß eine zu berücksichtigende Verschlimmerung vorliege.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision kann keinen Erfolg haben. Das angefochtene Urteil des LSG ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Das LSG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 1966 eine Verletztenrente nach einer MdE von 25 v. H. zu gewähren. Gegenüber den für die Entziehung der Rente im Jahre 1948 maßgeblich gewesenen Verhältnissen ist seit dem 1. Januar 1966 eine wesentliche Änderung eingetreten, so daß die Beklagte nach § 622 Abs. 1 RVO zur Neufeststellung der Rente verpflichtet ist.
Zu vergleichen sind die Unfallfolgen, die im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheides vorgelegen haben, mit denjenigen, die Grundlage der Entziehung der Rente im Jahre 1948 waren. Zu der zuletzt genannten Zeit schätzten die Gutachter der Beklagten die MdE wegen der einseitigen Linsenlosigkeit nach operativer Beseitigung einer Nachstarmembran mit 15 v. H. ein. Nach den Feststellungen des LSG beträgt sie jetzt 25 v. H., wobei das LSG davon ausgeht, daß nach einem gefestigten allgemeinen Erfahrungssatz eine einseitige Linsenlosigkeit ohne weitere Komplikationen mit 20 v. H. einzuschätzen sei, beim Kläger kämen wegen zusätzlicher Beschwerden (insbesondere in Form von Kopfschmerzen) noch weitere 5 v. H. hinzu.
Das LSG geht zu Recht davon aus, daß die als Unfallfolge festgestellte einseitige Linsenlosigkeit aufgrund einer allgemeinen Übung seit längerer Zeit mit einer MdE von 20 v. H. eingeschätzt wird. In der medizinischen Wissenschaft ist heute diese Auffassung herrschend, während früher regelmäßig eine MdE von 10 bis 15 v. H. angenommen wurde (vgl. Jaensch: Das augenärztliche Gutachten, 1958, S. 109, 112, 116; Jaensch/Hollwich: Einführung in die Augenheilkunde, 4. Aufl., 1964, S. 271; Marx: Gutachtenfibel, 2. Aufl., 1969, S. 226; Günther/Hymmen: Unfallbegutachtung, 6. Aufl., 1972, S. 69). Die gewerblichen Berufsgenossenschaften gewähren bereits seit 1954 bei unkomplizierter einseitiger Linsenlosigkeit eine Rente nach einer MdE von 20 v. H. (vgl. Jaensch aaO S. 112). Die neuere Rechtsprechung geht ebenfalls von dieser Einschätzung aus (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., Stand Oktober 1975, Anm. 8 c zu § 581 RVO m. w. N.). Das Bundessozialgericht (BSG) hat diese Auffassung schon 1956 nicht beanstandet (BSG 4, 147, 149). Der erkennende Senat ist in seinem in diesem Streitverfahren ergangenen Urteil vom 23. August 1973 ebenfalls von dieser Beurteilung ausgegangen (Bl. 9 des Urteils).
Der Senat hat in der genannten Entscheidung bereits darauf hingewiesen, daß die höhere MdE-Bewertung durch eine Änderung der allgemeinen Lebensverhältnisse bedingt ist (Bl. 11 des Urteils). Das LSG hat dieses ebenfalls angenommen und hierzu ausgeführt, gegenüber 1948 hätten sich das Arbeitstempo und die Verkehrsdichte wesentlich erhöht und verstärkt. Ob eine solche Änderung der allgemeinen Verhältnisse schon ausreicht, um bei der Anwendung des § 622 Abs. 1 RVO eine Änderung derjenigen Verhältnisse annehmen zu können, die für die Feststellung der Leistung maßgebend gewesen sind, konnte hier unentschieden bleiben, zumal es nicht darum geht, ob die Rente bereits seit 1954 zu erhöhen bzw. wiederzugewähren ist. Denn eine Änderung der Verhältnisse liegt jedenfalls darin, daß sich die Unfallfolgen seit 1966 dadurch verschlimmert haben, daß weitere Beschwerden, insbesondere Kopfschmerzen, hinzugetreten sind. Diese Veränderungen sind auch erheblich, wie das LSG im Anschluß an das für die Beklagte erstattete Gutachten der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Hamburg vom 24. November 1970 mit Recht angenommen hat; dort heißt es, daß beim Kläger seit etwa 4 bis 5 Jahren vornehmlich bei feineren Arbeiten, die die Augen anstrengen, Kopfschmerzen aufträten; außerdem sei es ihm seit etwa 10 Jahren nicht mehr möglich, die durch mangelndes Tiefen- und stereoskopisches Sehen erforderlichen Kontrollhandlungen ohne Zeitverlust mit einzubauen, so daß die unfallbedingte MdE mit 25 v. H. zu beurteilen sei. Dem ist die Universitäts-Augenklinik Hamburg im Gutachten vom 17. Dezember 1970 beigetreten. Unter diesen Umständen kann nicht mehr von einer "unkomplizierten" einseitigen Linsenlosigkeit gesprochen werden. Die MdE für diese Beeinträchtigung wurde einheitlich mit 25 v. H. und damit um 10 v. H. höher als früher (1948) beurteilt. Hinsichtlich der Frage der Ursächlichkeit für diese höhere MdE brauchte nicht auf das von der Revision angeführte Problem des unfallunabhängigen Nachschadens eingegangen zu werden. Die Beklagte gibt den Inhalt des angefochtenen Urteils nicht zutreffend wieder, wenn sie ausführt, das LSG habe die Kopfschmerzen als nicht durch den Unfall verursacht angesehen (Bl. 3 Mitte des Schriftsatzes der Beklagten vom 20. Februar 1975). Das LSG nimmt zur Frage des unfallunabhängigen Nachschadens lediglich in einer Hilfsbegründung Stellung, was aus der Formulierung folgt, "selbst dann ..., wenn" (S. 15, 2. Abs. des Urteils). Das LSG geht in seiner Hauptbegründung vielmehr davon aus, daß die Störung der Sehfunktion eine "wesentliche Teilbedingung" für die aufgetretenen Beschwerden sei. Ohne die Unfallfolgen habe es beim Kläger nicht oder nicht in dem jetzigen Umfang zu den angeführten Beschwerden durch mangelnde zerebrale Kompensationsfähigkeit kommen können. An diese tatsächlichen Feststellungen ist der Senat gebunden (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Die Beklagte hat sie nicht in der nach § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG erforderlichen Form angegriffen. Ihre im Revisionsschriftsatz (Bl. 3 oben) aufgestellte Behauptung, die Kopfschmerzen stünden mit dem Unfall in keinem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang, sondern seien altersbedingt, stellt keine ordnungsmäßige Verfahrensrüge dar. Diese Formulierung ist nicht einmal als Rüge im eigentlichen Sinne, sondern als Behauptung zu verstehen, erst recht genügt sie nicht den prozeßrechtlichen Voraussetzungen, wonach die einzelnen Tatsachen für das Vorliegen eines Verfahrensfehlers anzugeben sind und bei Rügen nach § 103 SGG auszuführen ist, aufgrund welcher Umstände das LSG sich hätte gedrängt sehen müssen, weitere Ermittlungen anzustellen (BSG SozR Nr. 14 zu § 103 SGG), oder an welcher Stelle und wodurch sich die Gedankenführung des LSG zu allgemeinen Denkgesetzen in Widerspruch setzt (BSG SozR Nr. 47 zu § 164 SGG). Da der Senat somit an die Feststellungen des LSG gebunden ist, zu der einseitigen Linsenlosigkeit seien als weitere Unfallfolgen die genannten Beschwerden hinzugetreten, weshalb die Gesamt-MdE 25 v. H. betrage, liegt eine Änderung der Verhältnisse vor. Diese ist gegenüber der früheren Feststellung auch wesentlich.
Denn der Grad der MdE im Vergleich zu 1948 hat sich ab 1. Januar 1966 (§ 623 Abs. 1 RVO) insgesamt um 10 v. H. erhöht. Der 2. Senat des BSG hat in seinem auch vom LSG zitierten Urteil vom 2. März 1971 (BSG 32, 245 ff) unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung entschieden, daß eine Änderung nur dann wesentlich i. S. von § 622 Abs. 1 RVO ist, wenn sich hierdurch der Grad der MdE um mehr als 5 v. H. - also in der Regel um mindestens 10 v. H. - vermindert oder erhöht. Eine Abweichung in der Beurteilung der MdE um 5 v. H. liegt nach Ansicht des 2. Senats innerhalb der allen ärztlichen Schätzungen eigenen Schwankungsbreite. Ob dieser Rechtsprechung zuzustimmen ist, hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 21. März 1974 (BSG 37, 177, 179) offengelassen. Auch jetzt kann diese Frage unentschieden bleiben, weil hier die neue Beurteilung der MdE sich von der früheren insgesamt um 10 v. H. unterscheidet.
An diesem "wesentlichen" MdE-Unterschied ändert sich nichts dadurch, daß er sich hier aus zwei Faktoren zusammensetzt, nämlich aus der Bewertung einer medizinisch festgestellten Verschlimmerung der Unfallfolgen und aus einer Höherbewertung der MdE um 5 v. H., die nicht Ausdruck einer gewissen Schwankungsbreite bei der MdE-Schätzung ist, sondern auf einer allgemeinen und gefestigten Übung beruht (vgl. dazu Urteil des 2. Senats vom 17.12.1975 - 2 RU 35/75). Dabei handelt es sich nicht um ein nach Auffassung von Brackmann (aaO S. 570) im Anschluß an eine Entscheidung des LSG Hamburg (BG 1956 S. 536) für unzulässig anzusehendes Zusammenzählen mehrerer unter 10 v. H. liegender MdE-Sätze. Ein solches Zusammenzählen kann begrifflich nur bei der Bewertung von MdE-Sätzen mehrerer Unfälle aktuell werden, wie sich auch aus der genannten Entscheidung des LSG Hamburg ergibt. Hier dagegen sind die Folgen eines einzigen Unfalles einzuschätzen, diese werden unter Berücksichtigung sämtlicher Unfallfolgen mit einem einheitlichen MdE-Grad bewertet, wobei die beiden genannten Kriterien der Begründung dieses MdE-Grades dienen.
Nach alledem ist das angefochtene Urteil nicht zu beanstanden. Die Revision war daher mit der sich aus § 193 SGG ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen.
Fundstellen