Entscheidungsstichwort (Thema)
Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Beginn Zweijahresfrist. Redaktionsversehen des Gesetzgebers
Leitsatz (amtlich)
1. Die Zehnjahresfrist des § 45 Abs 3 S 3 Nr 1 SGB 10 greift nur ein, wenn die Voraussetzungen des Abs 2 S 3 Nr 2 und 3 dieser Bestimmung nebeneinander gegeben sind.
2. Zum Redaktionsversehen.
Leitsatz (redaktionell)
1. Reicht der Bewilligungszeitraum bei Erteilung des Bescheides in die Zukunft, dann ist die Leistungsbewilligung auch hinsichtlich der Vergangenheit ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung.
2. Die Zweijahresfrist des § 45 Abs 3 S 1 SGB 10 rechnet auch dann ab Erlaß des Bewilligungsbescheides, wenn dieser vor Inkrafttreten des SGB 10 am 1.1.1981 ergangen ist (vgl BSG 7.12.1983 9a RV 26/82 = SozR 1300 § 45 Nr 5 und BSG vom 16.2.1984 1 RA 15/83 = SozR 1300 § 45 Nr 6); die Rechtsprechung, daß die einjährige Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB 10 frühestens mit dessen Inkrafttreten am 1.1.1981 beginne (vgl BSG 15.11.1984 7 RAr 69/83 = SozR 1300 § 45 Nr 13), zieht das nicht in Zweifel.
Orientierungssatz
Ein Redaktionsversehen muß, um den Richter zur Gesetzeskorrektur zu ermächtigen, offensichtlich und aus dem Werdegang des Gesetzes zu erklären sein (vgl BSG vom 30.8.1967 4 RJ 43/67 = BSGE 27, 139, 140). Ein dem Wortlaut des Gesetzes entsprechender Wille des Gesetzgebers muß "ausgeschlossen" erscheinen (vgl BFH vom 17.9.1975 II R 42/70 = BFHE 117, 280, 282); erforderlich sind "zwingende Gründe, ein Vergreifen im Ausdruck anzunehmen" (vgl BVerwG vom 29.8.1966 VIII C 360.63 = Buchholz 310 § 40 VwGO Nr 75). Die nach dem Gesetzeswortlaut in § 45 Abs 3 S 3 Nr 1 SGB 10 geforderte Kumulierung ist weder völlig sinnwidrig noch grob unbillig.
Normenkette
SGB 10 § 45 Abs. 3 S. 3 Nr. 1 Fassung: 1980-08-18, Abs. 2 S. 3 Nr. 2 Fassung: 1980-08-18, Nr. 3 Fassung: 1980-08-18, Abs. 3 S. 1 Fassung: 1980-08-18, Abs. 4 S. 2 Fassung: 1980-08-18
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 15.03.1983; Aktenzeichen L 5 Ar 992/82) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 05.04.1982; Aktenzeichen S 1 Ar 2883/81) |
Tatbestand
Streitig ist ein Rücknahme- und Rückforderungsbescheid.
Die Klägerin besuchte ab 15. Dezember 1975 nicht den von der beklagten Bundesanstalt für Arbeit als förderungsfähig anerkannten Fernlehrgang mit dem Abschluß "Staatlich geprüfter Betriebswirt", sondern einen anderen von demselben Maßnahmeträger angebotenen Fernlehrgang mit dem Abschluß "Grad. Betriebswirt", der nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) nicht förderungsfähig ist. Vom Arbeitsamt (AA) erhielt sie bei einer Rücksprache ein Antragsformular, in das als Maßnahmeziel bereits "Grad. Betriebswirt" eingetragen war. Die Klägerin strich das Wort "Grad." aus und schickte das Formular zusammen mit einer vom Maßnahmeträger ausgestellten Bestätigung, daß sie am Fernunterricht des Lehrgangs "Staatlich geprüfter Betriebswirt" teilnehme, an das AA zurück. Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 27. Februar 1976 Lehrgangsgebühren in Höhe von monatlich 60,-- DM. Diesen Bescheid hob sie nach Anhörung der Klägerin mit Bescheid vom 28. Juli 1981, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 17. September 1981, auf und forderte die für die Zeit vom 15. Dezember 1975 bis zum 15. Dezember 1978 in Höhe von 2.220,-- DM überzahlten Lehrgangsgebühren zurück.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) den Rücknahme- und Rückforderungsbescheid aufgehoben (Urteil vom 5. April 1982). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 15. März 1983). Das LSG meint, die Rücknahme sei rechtswidrig, da der Bewilligungsbescheid als ein rechtswidriger, begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nach § 45 Abs 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden könne und diese Frist nicht eingehalten sei. Die von der Beklagten in Anspruch genommene Zehnjahresfrist des Absatzes 3 Satz 3 Nr 1 greife nur ein, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 3 Nr 2 und 3 des § 45 SGB X kumulativ nebeneinander gegeben seien. Hier seien zwar die Voraussetzungen der Nr 2 erfüllt: die Klägerin habe die unrichtige Angabe gemacht, an dem Lehrgang zum Staatlich geprüften Betriebswirt teilzunehmen, und zwar grob fahrlässig. Auf diesem Verhalten beruhe der rechtswidrige Bescheid. Es fehle jedoch an den Voraussetzungen der Nr 3. Es könne nicht festgestellt werden, daß die Klägerin die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides gekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe.
Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzung des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X. Nach dieser Vorschrift sei die Rücknahme bis zum Ablauf von zehn Jahren nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes zulässig, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 3 Nr 2und3gegeben seien; das sei jedoch dahin auszulegen, daß die Voraussetzungen der Nummern 2 und 3 lediglich alternativ, nicht aber kumulativ vorliegen müßten. Die Formulierung "und" anstatt "oder" sei ein Redaktionsversehen.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten war zurückzuweisen. Der angefochtene Rücknahme- und Rückforderungsbescheid war als rechtswidrig aufzuheben, da die für die Rücknahme geltende Frist nicht eingehalten ist.
Die Rechtmäßigkeit des nach Inkrafttreten des SGB X am 1. Januar 1981 ergangenen Rücknahmebescheides vom 28. Juli 1981 richtet sich gemäß Art 2 § 40 Abs 2 des SGB X vom 18. August 1980 nach § 45 SGB X, obgleich der zurückgenommene Verwaltungsakt vor dem 1. Januar 1981 ergangen ist. In Übereinstimmung mit dem angefochtenen Urteil und den Beteiligten ist davon auszugehen, daß der Bescheid über die Bewilligung der monatlich zu zahlenden Lehrgangsgebühr ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung im Sinne der Fristbestimmungen des § 45 Abs 3 SGB X ist. Die Lehrgangsgebühren waren im Bescheid vom Februar 1976 als laufende Leistung in Höhe von 60,-- DM monatlich für 36 volle Monate ab Dezember 1975 bewilligt worden. Der Bewilligungszeitraum reichte somit bei Bescheiderteilung in die Zukunft. In einem solchen Fall ist die Leistungsbewilligung auch hinsichtlich der Vergangenheit ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung.
Dem LSG ist auch darin zuzustimmen, daß die Zweijahresfrist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X nicht eingehalten ist. Der zurückgenommene Bewilligungsbescheid ist im Februar 1976, der Rücknahmebescheid aber erst im Juli 1981 ergangen. Die Zweijahresfrist rechnet auch dann ab Erlaß des Bewilligungsbescheides, wenn dieser - wie hier - vor dem Inkrafttreten des SGB X am 1. Januar 1981 ergangen ist (BSG SozR 1300 § 45 Nrn 5 und 6); die Rechtsprechung, daß die einjährige Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X frühestens mit dessen Inkrafttreten am 1. Januar 1981 beginne (SozR 1300 § 45 Nr 13), zieht das nicht in Zweifel.
Dem angefochtenen Urteil ist entgegen der Ansicht der Revision auch darin beizutreten, daß die Voraussetzungen des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X nicht vorliegen. Nach dieser Vorschrift kann der Verwaltungsakt bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 3 Nr 2 und 3 gegeben sind, oder, was hier nicht der Fall ist, wenn der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Vorbehalt des Widerrufes erlassen wurde.
Das LSG hat die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X schon deswegen als erfüllt angesehen, weil die Klägerin grobfahrlässig einen anderen als den besuchten Lehrgang im Antrag bezeichnet habe und weil bei Angabe des besuchten Lehrgangs die Leistung nicht bewilligt worden wäre. Dabei hat es nicht näher erörtert, daß die Angabe der Klägerin nach der Nr 2 "in wesentlicher Beziehung" unrichtig sein mußte, was wohl zu bejahen ist, und vor allem, ob die grobe Fahrlässigkeit der Klägerin diese wesentliche Beziehung einschließen mußte und, wenn ja, eingeschlossen hat. Das kann indes auf sich beruhen, da sich die Revision der Beklagten auch dann als unbegründet erweist, wenn der Tatbestand der Nr 2 als gegeben unterstellt wird.
Das Berufungsgericht hat die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X verneint, da nicht festgestellt werden könne, daß die Klägerin die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides gekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe; sie habe zwar gewußt, daß es sich um zwei verschiedene Lehrgänge gehandelt habe, aber nicht, daß der eine förderungsfähig, der andere aber nicht förderungsfähig gewesen sei. Die von der Revision nicht angegriffenen Ausführungen lassen einen Rechtsfehler nicht erkennen.
Die Revision wendet sich vielmehr ausschließlich gegen die Rechtsansicht des LSG, nach § 45 Abs 3 Satz 3 Nr 1 SGB X könne ein begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nur dann bis zum Ablauf von zehn Jahren zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 3 Nrn 2 "und" 3 gegeben seien. Die Revision meint, der Gesetzgeber habe die Tatbestände der Nrn 2 und 3 nicht kumulativ fordern, sondern alternativ genügen lassen wollen; die Wahl des Wortes "und" anstatt des Wortes "oder" sei ein Redaktionsversehen.
Ein Redaktionsversehen muß jedoch, um den Richter zur Gesetzeskorrektur zu ermächtigen, offensichtlich und aus dem Werdegang des Gesetzes zu erklären sein (BSGE 27, 139, 140). Ein dem Wortlaut des Gesetzes entsprechender Wille des Gesetzgebers muß "ausgeschlossen" erscheinen (BFHE 131, 532, 533 unter Hinweis auf BFHE 17, 280, 282); erforderlich sind "zwingende Gründe, ein Vergreifen im Ausdruck anzunehmen" (BVerwG Buchholz 310 § 40 VwGO Nr 75). Die nach dem Gesetzeswortlaut in § 45 Abs 3 Satz 3 Nr 1 SGB X geforderte Kumulierung ist weder völlig sinnwidrig noch grob unbillig. Während nach Abs 2 für den Ausschluß des Vertrauensschutzes bei einer Rücknahme innerhalb der Zweijahresfrist das Vorliegen eines der beiden Tatbestände alternativ ausreicht, soll beim Vorliegen beider Tatbestände kumulativ darüber hinaus die Rücknahme bis zum Ablauf der Zehnjahresfrist möglich sein. Es ist auch nicht grob unbillig, daß selbst bei Kenntnis der Rechtswidrigkeit die längere Zehnjahresfrist nur dann eingreift, wenn unrichtige Angaben im Sinne der Nrn 2 hinzukommen; denn beim Fehlen unrichtiger Angaben ist die Behörde regelmäßig in der Lage, die kürzere Rücknahmefrist von zwei Jahren einzuhalten. Auch dem Werdegang des Gesetzes ist ein für die Annahme eines Redaktionsversehens ausreichender Anhaltspunkt nicht zu entnehmen. Die dem § 45 Abs 3 des Gesetzes entsprechende Vorschrift des § 43 Abs 3 des Regierungsentwurfes (BT-Drucks 8/2034) ist in der Ausschußberatung (BT-Drucks 8/4022) wesentlich umgestaltet worden. Der Regierungsentwurf sah eine Dreijahresfrist für den Regelfall vor; daneben war eine fristfreie Rücknahme beim Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes und bei den einen Vertrauensschutz nach Abs 2 ausschließenden Tatbeständen möglich, wobei diese mit "oder" verknüpft waren, also nicht kumulativ vorliegen mußten. Nach der Ausschußbegründung hatte die Änderung von Abs 3 "Satz 3" (gemeint der damalige Satz 2) zum Ziel, die Rücknahme von Verwaltungsakten ab einer gewissen Zeit im Interesse der Rechtssicherheit nicht mehr zuzulassen; der neue Satz 3 lege deshalb fest, daß in den dort genannten Fällen nach Ablauf von zehn Jahren der Verwaltungsakt in seinem Bestand nicht mehr angegriffen werden könne (BT-Drucks 8/4022 S 83). Es trifft zwar zu, daß die Ersetzung des "oder" durch "und" eine erhebliche Erschwerung der Rücknahme bedeutet, und daß diese Änderung in der Ausschußbegründung keinen Niederschlag gefunden hat; das kann jedoch für sich allein nicht für die Feststellung eines gerichtlich zu behebenden Redaktionsversehens ausreichen. Die in der Ausschußbegründung hervorgehobenen Änderungen hatten insgesamt das Ziel, den Vertrauensschutz zu stärken. In diese Zielrichtung läßt sich jedenfalls auch die hier streitige Änderung, ungeachtet der Frage nach ihrer inneren Berechtigung, einordnen. Ob die Annahme eines Versehens des Gesetzgebers gerechtfertigt wäre, wenn die übliche drucktechnische Hervorhebung der Änderung durch Fettdruck fehlt (vgl hierzu einerseits BVerwG Buchholz 310 § 40 VwGO Nr 75 und andererseits BVerwGE DRiZ 1964, 143 und BGH DRiZ 1964, 241), bedarf hier keiner Entscheidung, da das Wort "und" in der Ausschußdrucksache fett gedruckt ist, worauf das LSG schon hingewiesen hat. Sollte der Gesetzgeber der Meinung sein, er habe sich doch in der Redaktion des Gesetzes "versehen", dann müßte er das in einem neuen Gesetz beheben.
Damit war der Rücknahme- und Rückforderungsbescheid in vollem Umfang aufzuheben, auch soweit die Rückforderung - wie zuvor die Leistung - von insgesamt 2.220,-- DM über die Bewilligung von 2.160,-- DM hinausgeht.
Die Revision der Beklagten war daher mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.
Fundstellen