Leitsatz (redaktionell)
1. Gegen die Versäumung der Antragsfrist des ArVNG Art 2 § 44 S 4 ist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gegeben.
2. Die in ArVNG Art 2 § 44 getroffene Regelung verstößt nicht gegen das GG.
Normenkette
ArVNG Art. 2 § 44 S. 4 Fassung: 1957-02-23; GG
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 9. Februar 1961 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die am 13. Januar 1906 geborene Klägerin hatte nach dem Tode ihres Ehemannes (18. Januar 1953) die Gewährung von Witwenrente aus der Invalidenversicherung des Verstorbenen beantragt. Der Antrag wurde von der Beklagten durch Bescheid vom 21. Mai 1953 abgelehnt, weil die Anwartschaft aus den nachgewiesenen 749 Versicherungswochen erloschen war. Es fehlten Beiträge für die Jahre 1949 bis 1952. Auch die sogenannte Halbdeckung war ausweislich der vollständig vorhandenen Quittungskarten nicht erreicht, weil statt der erforderlichen 770 Wochenbeiträge nur 521 vorlagen.
Am 21. Mai 1959 beantragte die Klägerin erneut die Gewährung von Witwenrente. Mit Bescheid vom 30. September 1959 wies die Beklagte den Anspruch wiederum ab. Sie berief sich darauf, daß der Bescheid vom 21. Mai 1953 bindend geworden sei. Eine Überprüfung nach Art. 2 § 44 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23. Februar 1957 wäre nur zulässig, wenn ein entsprechender Antrag bis zum 31. Dezember 1958 gestellt worden wäre. Der neue Witwenrentenantrag komme einem Nachprüfungsantrag gleich. Er sei jedoch erst am 21. Mai 1959 gestellt worden. Somit müsse es bei der Ablehnung bleiben.
Die dagegen fristgerecht beim Sozialgericht (SG) Hamburg erhobene Klage ist erfolglos geblieben. Das SG hat sich der Auffassung der Beklagten angeschlossen. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lägen nicht vor, eine solche sei im übrigen bei einer Ausschlußfrist ohnehin nicht möglich.
Hiergegen hat die Klägerin Berufung eingelegt und ausgeführt, nach Art. 2 § 18 ArVNG gelte § 1264 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nF auch für Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1957, mithin auch für sie, nachdem ihr Ehemann 1953 verstorben sei. Die Ausschlußfrist des Art. 2 § 44 ArVNG sei grundgesetzwidrig, weil sie dazu führe, daß erworbene Anwartschaftsrechte auf Leistungen aus der Arbeiterrentenversicherung zum Erlöschen gebracht würden. Im übrigen habe sie, die Klägerin, in den Jahren 1956 bis 1958 wiederholt bei der Beklagten vorgesprochen. Anfänglich sei sie damit vertröstet worden, daß das ArVNG noch nicht ergangen sei. Später, vermutlich im Jahre 1958, sei ihr erklärt worden, sie solle nun einen Antrag einreichen. Es sei ihr aber nicht gesagt worden, daß sie die Ausschlußfrist des Art. 2 § 44 ArVNG beachten müsse. Infolge schwerer Erkrankung habe sie den Antrag dann nicht rechtzeitig stellen können.
Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat die Berufung durch Urteil vom 9. Februar 1961 zurückgewiesen. Es ist ebenfalls der Auffassung, bei einer Ausschlußfrist sei eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht möglich. Abgesehen hiervon habe die Klägerin auch keine Gründe für eine solche Wiedereinsetzung geltend machen können. Bei ihrer eingehenden Anhörung vor dem Senat am 9. Februar 1961 habe sie keine spezifizierten Angaben darüber machen können, warum sie vom März 1957 bis zum 31. Dezember 1958 nicht den Nachprüfungsantrag bei der Beklagten gestellt habe. Es würden demnach auch dann, wenn man in Art. 2 § 44 ArVNG eine Verfahrensfrist sehen würde, keine Gründe vorliegen, die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen könnten.
Das LSG hat in seinem Urteil die Revision zugelassen. Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrag,
den Bescheid der Beklagten vom 30. September 1959 und die Urteile des SG Hamburg vom 6. Juli 1960 und des LSG Hamburg vom 9. Februar 1961 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Witwenrente aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemannes zu gewähren.
Sie rügt unrichtige Anwendung des Art. 2 § 44 ArVNG. Bei dieser Vorschrift handle es sich um eine reine Verfahrensfrist i. S. des § 131 RVO, so daß eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand möglich sein müsse. Die Verfahrensfrist sei ohne ihr Verschulden versäumt worden, weil sie, die Klägerin, von ihrem Lauf überhaupt nichts gewußt habe.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Zur Begründung führt sie aus, nach Art. 2 § 44 ArVNG sei in den dort vorgesehenen Fällen auf Antrag zu überprüfen, ob die neuen Vorschriften des Gesetzes günstiger sind. Dieser Antrag sei jedoch nur bis zum 31. Dezember 1958 zulässig gewesen. Zu Recht hätten die Vorinstanzen aus Wortlaut und Inhalt dieser Vorschrift geschlossen, daß es sich um eine gesetzliche Ausschlußfrist handele. Für solche Fristen gelte der Grundsatz, daß bei einer Versäumung eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausgeschlossen sei, soweit gesetzlich nicht etwas anderes vorgesehen sei. Eine solche Ausnahme müsse jedoch ausdrücklich vorgesehen sein, wie zB in § 58 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). In Art. 2 § 44 ArVNG fehle es aber an einer entsprechenden Regelung. Da die Klägerin bis zum 31. Dezember 1958 die Überprüfung nicht beantragt habe, sei damit ihr Antragsrecht erloschen.
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete sowie nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision konnte keinen Erfolg haben. Zu Recht haben die Vorinstanzen dem Klagebegehren nicht entsprochen. Wie der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil 4 RJ 63/61 vom 14. Juni 1962 ausgesprochen hat, ist die zur Nachprüfung rechtskräftig oder bindend abgelehnter Leistungsanträge in Art. 2 § 44 Satz 4 ArVNG gesetzte und am 31. Dezember 1958 abgelaufene Frist eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist (§ 131 Abs. 1 RVO). Dem durch ihre Versäumnis hervorgerufenen Rechtsnachteil kann nicht im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgeholfen werden. Für Billigkeitserwägungen oder ein Verwaltungsermessen bietet Art. 2 § 44 keinen Raum.
Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat an. Der erste Witwenantrag der Klägerin war durch den unanfechtbar gewordenen Bescheid vom 21. Mai 1953 abgelehnt worden. Nach Art. 2 § 44 ArVNG hätte sie nur bis zum 31. Dezember 1958 die Überprüfung des früheren Bescheides beantragen können. Diese Frist hat die Klägerin versäumt. Hierdurch hat sie das Recht auf Nachprüfung, ob die Vorschriften des ArVNG für sie günstiger sind, vorbehaltlos verloren. Unerheblich ist, ob sie die Frist zur Anbringung des Überprüfungsantrags aus Unkenntnis der neuen Bestimmungen oder aus sonstigen Gründen ohne ihr Verschulden versäumt hat. Allgemeine Billigkeitserwägungen rechtfertigen kein Abweichen von der zwingenden Vorschrift des Art. 2 § 44 ArVNG. Die Entscheidung des Großen Senats des BSG vom 9. Juni 1961 (BSG 14, 246) gestattet keine andere Beurteilung. Dort ist lediglich für die frühere Fristvorschrift des § 58 Abs. 1 BVG aF ausgeführt, daß die dort vorgesehene und von Amts wegen zu beachtende Anmeldefrist nicht für Fälle gilt, in denen die Voraussetzungen des verspätet angemeldeten Anspruchs zweifelsfrei gegeben sind. Die dort entwickelten Grundsätze, wonach dem Inhalt jeder Rechtsvorschrift durch ihre rechtsethische und soziale Funktion Grenzen gesetzt sind, können für die Auslegung des Art. 2 § 44 Satz 4 ArVNG nicht herangezogen werden. Hier handelt es sich im Gegensatz zu den Anmeldefrist-Bestimmungen des § 58 BVG aF und der ähnlich liegenden §§ 1546 ff RVO um rechtskräftig bezw. bindend abgelehnte Rentenansprüche. Hier hat der Gesetzgeber nach dem eindeutigen Wortlaut der genannten Übergangsvorschrift und nach der Überschrift zu § 44 ArVNG, die den Titel trägt: "Nachprüfung ergangener Bescheide", die Achtung vor dem Institut der Rechtskraft bzw. der Bindungswirkung unanfechtbar gewordener Bescheide und damit den Grundsatz der Rechtssicherheit höher bewertet als den Grundsatz höchstmöglicher sozialer Gerechtigkeit und Billigkeit. Zu Unrecht hält die Klägerin die angeordnete Ausschlußfrist für grundgesetzwidrig, weil sie dazu führe, daß erworbene Anwartschaftsrechte auf Leistungen aus der Arbeiterrentenversicherung zum Erlöschen gebracht würden. Ein Witwenrentenanspruch hat nach altem Recht unzweifelhaft nicht bestanden. Das ArVNG hat lediglich davon abgesehen, in den Fällen, in denen der Leistungsantrag zu Recht abgelehnt worden war, eine Überprüfungsmöglichkeit des unanfechtbar gewordenen Bescheides auch dann zuzulassen, wenn der dafür vorgesehene Antrag nicht fristgerecht gestellt worden ist. Ähnliche Fristbestimmungen hatte es schon früher in der Sozialversicherung gegeben. So hatte zB die erste Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945 (RGBl I 41) ebenfalls mit rückwirkender Kraft Vergünstigungen eingeführt, hiervon aber nach ihrem Art. 26 alle diejenigen Versicherungsfälle ausgenommen, für die ein am 31. März 1945 das Versicherungsverhältnis abschließender rechtskräftiger Bescheid bereits ergangen war. In ähnlicher Form hatte ua sodann das Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz vom 7. August 1953 (BGBl I 848) in § 17 Abs. 6 eine Frist, die zum 31. Dezember 1956 ablief, vorgesehen, in welcher der Antrag auf Überprüfung zu stellen war, ob eine bereits rechtskräftig festgestellte Leistung auf Grund der Vorschriften des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes für den Berechtigten günstiger wäre.
Die in Art. 2 § 44 getroffene Regelung verstößt somit nicht gegen das Grundgesetz. Desgleichen vermag § 1300 RVO nicht zu helfen, wie der 4. Senat in dem genannten Urteil ebenfalls bereits ausgeführt hat. Jede andere Auslegung würde im Ergebnis darauf hinauslaufen, daß die Gerichte die Fristbestimmung des Art. 2 § 44 Satz 4 SGG in der Mehrzahl aller Fälle für gegenstandslos erklären und sich über den Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen. Das aber kann nicht angehen, da die gesetzgebende Gewalt allein bei den gesetzgebenden Körperschaften liegt.
Damit mußte die Revision mit der Kostenfolge aus § 193 SGG als unbegründet zurückgewiesen werden.
Fundstellen