Leitsatz (redaktionell)
Voraussetzungen für eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des BVG § 62:
Nach BVG § 62 Abs 1 aF werden die Versorgungsbezüge neu festgestellt, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt (BVG § 62 Abs 1 nF: Tritt in den Verhältnissen, die für die Feststellung des Anspruchs auf Versorgung - BVG § 9 - maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung ein, ist der Anspruch entsprechend neu festzustellen). Danach bedeutet in der KOV ein Bescheid, der wiederkehrende Leistungen wegen einer wesentlichen Änderung in den für die Feststellung der Leistungen maßgebend gewesenen Verhältnissen entzieht, rechtlich zugleich, daß der Bescheid, durch den die Leistungen bewilligt worden sind, von der Wirksamkeit der Entziehung an als rechtswidrig angesehen und deshalb als nunmehr fehlerhaft zurückgenommen wird (vgl BSG vom 1958-02-12 11/9 RV 948/55 = BSGE 7, 8). Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des BVG § 62 Abs 1 liegt jedoch nur vor, wenn sich die Verhältnisse, wie sie bei Erlaß des - zurückgenommenen - Verwaltungsakts in Wirklichkeit (objektiv) vorgelegen haben, geändert haben; es kommt nicht darauf an, von welchen Verhältnissen die Verwaltungsbehörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, ausgegangen ist, dh was subjektiv für sie beim Erlaß des Verwaltungsakts maßgebend gewesen ist (BSG aaO). Denn die Vorschrift des BVG § 62 Abs 1 geht von dem Regelfall aus, daß die Versorgungsverwaltung - nach dem Grundsatz der Amtsermittlungspflicht (KOVVfG § 12) - vor Erlaß des Verwaltungsakts die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse geprüft und die notwendigen Ermittlungen angestellt hat, daß die von ihr festgestellten Verhältnisse der Wirklichkeit entsprochen haben, und daß der Verwaltungsakt deshalb im Zeitpunkt seines Erlasses rechtmäßig gewesen ist. Nur wenn ein ursprünglich rechtmäßiger Verwaltungsakt mit Dauerwirkung durch Änderung der Sach- und Rechtslage nach seinem Erlaß rechtswidrig geworden ist, kann dieser veränderten Sach- und Rechtslage durch Rücknahme des Verwaltungsakts nach BVG § 62 Abs 1 Rechnung getragen werden. Das bedeutet, daß Verwaltungsakte, die schon im Zeitpunkt ihres Erlasses ganz oder für einen Teil rechtswidrig gewesen sind, nicht - ganz oder teilweise - auf Grund der Vorschrift des BVG § 62 Abs 1 zurückgenommen werden können. Das bedeutet gleichzeitig, daß ein Bescheid - als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung - nicht nach BVG § 62 Abs 1 zurückgenommen werden darf, wenn sich später lediglich herausstellt, daß die Verhältnisse früher unzutreffend beurteilt worden sind (vgl BSG vom 1960-10-18 11 RV 52/60 = BSGE 13, 89, 90)...
Normenkette
BVG § 62 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27, Abs. 1 Fassung: 1964-02-21; KOVVfG § 12 Fassung: 1955-05-02
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 8. November 1961 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger erlitt als Soldat während des Rußland-Feldzuges im Jahre 1943 Erfrierungen an beiden Füßen, die bei der nachfolgenden Operation zum Verlust bzw. Teilverlust fast sämtlicher Zehen führten. In der Zeit vom 4. November 1946 bis 16. Januar 1954 befand er sich in der sowjetisch besetzten Zone in Haft (Konzentrationslager Sachsenhausen und Torgau), er erlitt auch dort Gesundheitsschäden. Am 26. Januar 1954 stellte er beim Versorgungsamt (VersorgA) I in Berlin Antrag auf Versorgung.
Mit Bescheid vom 4. Januar 1955 bewilligte das VersorgA dem Kläger mit Wirkung vom 1. Januar 1954 an eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v.H. nach den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Dabei wurden folgende Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen anerkannt:
1. Verlust der rechten Großzehe mit Teilverlust des Mittelfußköpfchens, Teilverlust der 2., 3. und 4. Zehe rechts, Teilverlust der 1. bis 5. Zehe des linken Fußes nach Erfrierung, Teilversteifung des Mittelgelenks des rechten Mittelfingers nach Bruch des Grundgliedes, Funktionsbehinderung des Mittelgelenks des linken Mittelfingers, empfindliche Narben in der Nackengegend,
2. indurierte Oberfeldtuberkulose beiderseits ohne Zeichen von Aktivität,
3. Fehlregulation des vegetativen Nervensystems mit labilem Bluthochdruck,
und zwar zu 1) und 2) im Sinne der Entstehung, zu 3) im Sinne der abgegrenzten Verschlimmerung.
Dieser Erstanerkennungsbescheid nach dem BVG beruhte auf den Gutachten des Chirurgen Dr. B vom 9. August 1954 und des Internisten Dr. W vom 28. Oktober 1954. Zu der unter Nr. 3) angeführten Schädigungsfolge hatte Dr. W ausgeführt, im allgemeinen müsse eine wie beim Kläger vorhandene Fehlregulation des vegetativen Nervensystems als konstitutionsbedingt angesehen werden, im Falle des Klägers sei jedoch die psychische und körperliche Belastung während der durchgemachten 7 1/4-jährigen Haft im Sinne abgrenzbarer Verschlimmerung als Einwirkung auf die Fehlregulation anzunehmen. Der Bescheid vom 4. Januar 1955 wurde rechtsverbindlich.
Am 20. September 1957 wurde der Kläger nachuntersucht. Dabei äußerte der Gutachter Dr. J Zweifel an der Richtigkeit der früheren Diagnose "Fehlregulation des vegetativen Nervensystems mit labilem Bluthochdruck", weil an das Vorliegen eines Phaeochromozytoms (Geschwulst des Nebennierenmarks) gedacht werden müsse. Er schlug deshalb vor, den Kläger durch Prof. Dr. B (Krankenhaus Berlin-Moabit) klinisch untersuchen und begutachten zu lassen. Prof. Dr. B kam - nach Studium der Akten und ambulant durchgeführter eingehender Untersuchung des Klägers - in dem angeforderten fachinternistischen Gutachten vom 27. April 1959 zu dem Ergebnis, daß ein von Dr. J vermutetes Phaeochromozyto m mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könne. Bei den Beschwerden und objektivierten Blutdruckschwankungen des Klägers handele es sich um eine Fehlregulation des vegetativen Nervensystems mit labilem Bluthochdruck, die als konstitutionsbedingt zu bezeichnen sei; diese Veränderungen seien daher nicht durch die Internierung oder den Wehrdienst verursacht oder verschlimmert worden, zumal sie über fünf Jahre nach der Haftentlassung weiterbeständen. Eine MdE durch ein inneres Leiden bestehe nicht, die Gesamt-MdE wegen der im Sinne der Entstehung anerkannten Schädigungsfolgen betrage 30 v.H. Der Versorgungsarzt Dr. W stimmte diesem Gutachten am 13. August 1959 zu und führte aus, die bisherige Beurteilung sei richtig gewesen, es liege aber insofern eine Änderung vor, als die weiterhin bestehende Fehlregulation des vegetativen Nervensystems fünf Jahre nach der Entlassung aus der Haft nur noch als konstitutionsbedingt anzusehen und die 1954 festgestellte abgrenzbare Verschlimmerung abgeklungen sei. Der Grad der Gesamt-MdE betrage entgegen Prof. Dr. B jedoch 40 v.H., weil dieser die Lungentuberkulose des Klägers unberücksichtigt gelassen habe. Entsprechend dieser Beurteilung erteilte das VersorgA am 22. August 1959 einen auf § 62 Abs. 1 BVG gestützten Neufeststellungsbescheid, mit dem die "im Sinne der abgegrenzten Verschlimmerung anerkannte Fehlregulation des vegetativen Nervensystems mit labilem Bluthochdruck als abgeklungen" bezeichnet wurde; die noch bestehende Fehlregulation sei als konstitutionsbedingt anzusehen; wegen der weiter im Sinne der Entstehung anzuerkennenden Schädigungsfolgen betrage die MdE 40 v.H.
Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 5. Februar 1960 zurückgewiesen.
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat mit Urteil vom 23. März 1961 die angefochtenen Verwaltungsbescheide aufgehoben. Die Fehlregulation beim Kläger habe sich gegenüber früher nicht geändert, durch Zeitablauf allein könne aber ein ursprünglich richtiger Bescheid nicht unrichtig werden. Wenn nach der Erteilung des Erstanerkennungsbescheides bessere medizinische Erkenntnismöglichkeiten bestünden, so rechtfertige dies nicht, dem Kläger einen Neufeststellungsbescheid zu erteilen. Im übrigen könne der Neufeststellungsbescheid auch nicht in einen Berichtigungsbescheid umgedeutet werden.
Der Beklagte hat Berufung eingelegt und noch zwei fachärztliche Stellungnahmen des Internisten Dr. P (vom 12. April und 22. Juni 1961) vorgelegt. Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat mit Urteil vom 8. November 1961 das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt: Entgegen der Auffassung des SG sei der Beklagte berechtigt gewesen, den auf § 62 Abs. 1 BVG gestützten Bescheid vom 22. August 1959 zu erteilen. Zwar hätten sich die Auswirkungen der ursprünglich im Sinne der Verschlimmerung anerkannten Gesundheitsstörung "Fehlregulation des vegetativen Nervensystems mit labilem Bluthochdruck" gegenüber dem Zeitpunkt der Erstanerkennung nicht verändert. Trotzdem müsse jedoch eine wesentliche Änderung der für die Feststellung der Versorgungsbezüge maßgebend gewesenen tatsächlichen Verhältnisse angenommen werden. Die vegetative Dystonie gehe nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft auf die ererbte individuelle Labilität und Anpassungsschwäche des vegetativen Systems zurück. Neben dieser in der Struktur der Gesamtpersönlichkeit liegenden Ursache seien auch eine Reihe äußerer Einwirkungen geeignet, den Leidenszustand ungünstig zu beeinflussen. In der Eigenart der vegetativen Dystonie sei es deshalb auch begründet, daß der jetzige Leidenszustand des Klägers durch äußere Einwirkungen aufrechterhalten werde, die "als eine neue Schädlichkeit" außerhalb der Hafteinflüsse zu der bestehenden Anlage hinzugekommen seien. Durch "neue Schädlichkeiten" werde der Umfang des Leidens, der sich von dem zur Zeit der Erstanerkennung bestehenden nicht in erheblichem Maße unterscheide, aufrechterhalten. Es müsse aber angenommen werden, daß die durch die Haft bedingte damalige Verschlimmerung durch Zeitablauf abgeklungen sei und andere äußere Schädlichkeiten oder die Anlage allein oder überwiegend die wesentliche Bedingung für den jetzt bestehenden Leidenszustand seien. Im Wegfall des anerkannten Verschlimmerungsanteils liege deshalb die wesentliche Änderung der für die Feststellung maßgebend gewesenen Verhältnisse. Im Falle des Klägers werde die nach wie vor bestehende Fehlregulation nicht mehr von den über fünf Jahre zurückliegenden Einflüssen der Haft, sondern durch inzwischen neu hinzugekommene andere Umstände gesteuert. Dieser aus den Stellungnahmen des Dr. P und dem Gutachten des Prof. Dr. B gewonnenen Auffassung, so hat das LSG weiter ausgeführt, stehe auch die Entscheidung des 11. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18. Oktober 1960 (BSG 13, 89) nicht entgegen, nach der in Fällen, in denen ein Leiden (z.B. eine vegetative Dystonie) nach Ansicht der Versorgungsbehörde oder des Gerichts in einem bindend gewordenen Bescheid zu Recht als Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung festgestellt worden sei, bei gleichen Befunden der Bescheid nicht mit Rücksicht auf den Zeitablauf von einem späteren Zeitpunkt an nach § 62 Abs. 1 BVG deshalb zurückgenommen werden dürfe, weil der Leidenszustand nunmehr auf der Anlage beruhe. Denn von diesem vom BSG entschiedenen Fall unterscheide sich der des Klägers schon dadurch, daß hier das in Frage stehende Leiden nur im Sinne der Verschlimmerung, dort aber im Sinne der Entstehung anerkannt worden sei. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt. Mit ihr rügt er die Verletzung der §§ 62 Abs. 1 BVG und 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - und trägt vor: Der Gutachter Prof. Dr. B habe die bestehende Fehlregulation des vegetativen Nervensystems eindeutig als konstitutionsbedingt bezeichnet und ausgeführt, diese Veränderungen seien durch Wehrdienst oder Haft weder verursacht noch verschlimmert worden, zumal sie über fünf Jahre nach der Haftentlassung unverändert weiterbeständen. Damit stehe fest, daß der Beklagte bei Erteilung des Bescheides vom 4. Januar 1955 einen Zusammenhang zwischen der Fehlregulation und der Haft angenommen habe, der in Wirklichkeit nicht vorhanden gewesen sei. Damit entfalle aber die Möglichkeit, § 62 Abs. 1 BVG anzuwenden. Die Ausführungen des Dr. P seien im übrigen nicht geeignet, die überzeugenden und schlüssigen Feststellungen des Prof. Dr. B zu entkräften oder gar darzutun, daß bei der Anerkennung der Fehlregulation im Sinne der Verschlimmerung ein Zusammenhang zwischen ihnen und der Haft bestanden habe. Wenn deshalb das LSG Zweifel an dem Gutachten des Prof. Dr. B gehabt habe, so habe es die nur ärztlich zu beurteilende und zu beantwortende Frage, ob die - an sich unmißverständliche - Feststellung des Prof. Dr. B zutreffe oder nicht, ohne eigene Fachkunde nicht allein entscheiden dürfen, sondern es sei im Rahmen seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung gehalten gewesen, entweder ein weiteres Gutachten einzuholen oder bei Prof. Dr. B Rückfrage über die von ihm getroffenen Feststellungen zu halten. Durch eine solche Sachaufklärung sei jedenfalls dann bestätigt worden, daß die bestehende Fehlregulation des vegetativen Nervensystems weder durch Einflüsse des Wehrdienstes noch durch Auswirkungen der Haft ausgelöst oder verschlimmert worden sei. Die Entscheidung des LSG ohne diese noch erforderliche Sachaufklärung stelle auch eine Verletzung der Regeln der Beweiswürdigung dar. Selbst wenn man aber, so führt die Revision weiter aus, eine Verletzung der §§ 103, 128 Abs. 1 SGG nicht annehmen wolle, könne der Neufeststellungsbescheid vom 22. August 1959 nicht auf § 62 Abs. 1 BVG gestützt werden, da ja der Leidenszustand des Klägers seit Erteilung des Erstfeststellungsbescheides unverändert geblieben sei. Denn wenn das BSG für den Fall der Anerkennung eines Leidens im Sinne der Entstehung entschieden habe (BSG aaO), daß bei gleichen Befunden der Anerkennungsbescheid nicht mit Rücksicht auf den Zeitablauf von einem späteren Zeitpunkt an nach § 62 Abs. 1 BVG deshalb zurückgenommen werden dürfe, weil der Leidenszustand nunmehr auf der Anlage beruhe, so müsse dies auch für ein im Sinne der Verschlimmerung anerkanntes Leiden gelten. Das gehe schon daraus hervor, daß es gar nicht möglich sei, die konstitutionsbedingte Anlage und die auf eine Schädigung zurückzuführende Verschlimmerung einwandfrei voneinander zu trennen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG Berlin vom 8. November 1961 die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Berlin vom 23. März 1961 als unbegründet zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die vom Kläger form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision (§ 164 Abs. 1 Satz 1 SGG) ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG).
Sie ist auch begründet.
Wie bereits dargelegt, ist durch den Erstanerkennungsbescheid vom 4. Januar 1955 beim Kläger neben anderen, im Sinne der Entstehung anerkannten Schädigungsfolgen eine "Fehlregulation des vegetativen Nervensystems mit labilem Bluthochdruck im Sinne der abgegrenzten Verschlimmerung" festgestellt und Rente auch wegen dieses Leidens bewilligt worden. Das LSG ist deshalb zutreffend davon ausgegangen, daß es für die Rechtmäßigkeit des Neufeststellungsbescheides vom 22. August 1959, mit dem die Anerkennung der "Fehlregulation des vegetativen Nervensystems mit labilem Bluthochdruck" als Schädigungsleiden in Wegfall gekommen und - entsprechend - auch die MdE niedriger festgestellt worden ist, darauf ankommt, ob mit dem Neufeststellungsbescheid der Erstanerkennungsbescheid hinsichtlich der "Fehlregulation des vegetativen Nervensystems mit labilem Bluthochdruck" rechtswirksam zurückgenommen worden ist. Denn bei dem Erstanerkennungsbescheid vom 4. Januar 1955 handelt es sich um einen den Kläger begünstigenden Verwaltungsakt, der mit der Zustellung an ihn für die Beteiligten bindend geworden ist (§ 77 SGG, § 24 Verwaltungsverfahrensgesetz - VerwVG -), und der deshalb vom Beklagten ganz oder teilweise nur dann zurückgenommen werden konnte, wenn hierzu eine gesetzliche Ermächtigung vorlag. Als solche gesetzliche Ermächtigung hat der Beklagte § 62 Abs. 1 BVG angesehen und sich bei Erteilung des Neufeststellungsbescheides auf diese Vorschrift gestützt.
Nach § 62 Abs. 1 BVG aF werden die Versorgungsbezüge neu festgestellt, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt (§ 62 Abs. 1 BVG nF: Tritt in den Verhältnissen, die für die Feststellung des Anspruchs auf Versorgung - § 9 BVG - maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung ein, ist der Anspruch entsprechend neu festzustellen). Danach bedeutet in der Kriegsopferversorgung ein Bescheid, der wiederkehrende Leistungen wegen einer wesentlichen Änderung in den für die Feststellung der Leistungen maßgebend gewesenen Verhältnissen entzieht, rechtlich zugleich, daß der Bescheid, durch den die Leistungen bewilligt worden sind, von der Wirksamkeit der Entziehung an als rechtswidrig angesehen und deshalb als nunmehr fehlerhaft zurückgenommen wird (BSG 7, 8). Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG liegt jedoch nur vor, wenn sich die Verhältnisse, wie sie bei Erlaß des - zurückgenommenen - Verwaltungsakts in Wirklichkeit (objektiv) vorgelegen haben, geändert haben; es kommt nicht darauf an, von welchen Verhältnissen die Verwaltungsbehörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, ausgegangen ist, d.h. was subjektiv für sie beim Erlaß des Verwaltungsakts maßgebend gewesen ist (BSG aaO). Denn die Vorschrift des § 62 Abs. 1 BVG geht von dem Regelfall aus, daß die Versorgungsverwaltung - nach dem Grundsatz der Amtsermittlungspflicht (§ 12 VerwVG) - vor Erlaß des Verwaltungsakts die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse geprüft und die notwendigen Ermittlungen angestellt hat, daß die von ihr festgestellten Verhältnisse der Wirklichkeit entsprochen haben, und daß der Verwaltungsakt deshalb im Zeitpunkt seines Erlasses rechtmäßig gewesen ist. Nur wenn ein ursprünglich rechtmäßiger Verwaltungsakt mit Dauerwirkung durch Änderung der Sach- und Rechtslage nach seinem Erlaß rechtswidrig geworden ist, kann dieser veränderten Sach- und Rechtslage durch Rücknahme des Verwaltungsakts nach § 62 Abs. 1 BVG Rechnung getragen werden. Das bedeutet, daß Verwaltungsakte, die schon im Zeitpunkt ihres Erlasses ganz oder für einen Teil rechtswidrig gewesen sind, nicht - ganz oder teilweise - auf Grund der Vorschrift des § 62 Abs. 1 BVG zurückgenommen werden können. Das bedeutet gleichzeitig, daß ein Bescheid - als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung - nicht nach § 62 Abs. 1 BVG zurückgenommen werden darf, wenn sich später lediglich herausstellt, daß die Verhältnisse früher unzutreffend beurteilt worden sind (BSG 13, 89, 90).
Im vorliegenden Falle ist das Berufungsgericht bei der Entscheidung des Rechtsstreits davon ausgegangen, daß die von der Verwaltungsbehörde vor Erlaß des Bescheides vom 4. Januar 1955 festgestellten tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse hinsichtlich der beim Kläger bestehenden "Fehlregulation des vegetativen Nervensystems mit labilem Bluthochdruck" (objektiv) der Wirklichkeit entsprochen haben und zutreffend beurteilt worden sind, daß also die Anerkennung des Leidens im Sinne der abgegrenzten Verschlimmerung rechtmäßig gewesen ist; die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 BVG zur Erteilung des Neufeststellungsbescheides vom 22. August 1959 durch den Beklagten seien wegen der festgestellten Änderung der tatsächlichen Verhältnisse insoweit gegeben gewesen. Diese Feststellung ist jedoch, wie der Kläger zutreffend rügt, unter Verletzung der Vorschriften der §§ 128 Abs. 1, 103 SGG erfolgt, so daß das Revisionsgericht an sie - wegen wesentlicher Mängel des Verfahrens - nicht gebunden ist.
Nach § 128 Abs. 1 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; in seinem Urteil hat es die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugungsbildung leitend gewesen sind. Ein Mangel des Verfahrens in bezug auf die Beweiswürdigung liegt dann vor, wenn das Gericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung überschritten hat. Das ist vorliegend der Fall. Das LSG hat sich in den Entscheidungsgründen seines Urteils sowohl auf die o.a. versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Dr. P als auch auf das Gutachten des Prof. Dr. B gestützt. Dabei hat es verkannt, daß die Stellungnahmen des Dr. P und das Gutachten des Prof. Dr. B sich nicht etwa, wie es offenbar angenommen hat, gegenseitig ergänzen, sondern daß Dr. P und Prof. Dr. B in dem hier entscheidenden Punkt hinsichtlich der beim Kläger bestehenden "Fehlregulation des vegetativen Nervensystems mit labilem Bluthochdruck" zu voneinander abweichenden, ja sogar gegensätzlichen Ergebnissen gelangt sind. Zwar besteht Einmütigkeit darüber, daß die Diagnose "Fehlregulation des vegetativen Nervensystems mit labilem Bluthochdruck" richtig gewesen ist; die Sachverständigen stimmen auch darin überein, daß es sich bei der bestehenden Fehlregulation um ein anlage- und konstitutionsbedingtes Leiden handelt. Während aber Dr. P der Auffassung ist, daß der Ablauf des anlage- und konstitutionsbedingten Leidens seinerzeit durch haftbedingte Einflüsse, d.h. durch schädigende Einwirkungen im Sinne des BVG, ungünstig beeinflußt worden sei, so daß damals auch die Anerkennung im Sinne der abgegrenzten Verschlimmerung rechtmäßig erfolgt sei, hat Prof. Dr. B ausgeführt: "Die Fehlregulationen des vegetativen Nervensystems mit labilem Bluthochdruck (beim Kläger) sind als konstitutionsbedingt zu bezeichnen." Die Veränderungen sind daher nicht durch die Internierung bzw. den Wehrdienst verursacht oder verschlimmert worden, zumal sie über fünf Jahre nach der Haftentlassung unvermindert weiter bestehen. Aus dieser Beurteilung des Prof. Dr. B wie Dr. P kann nicht entnommen werden, die Veränderungen beim Kläger seien "nicht mehr" auf die Internierung bzw. den Wehrdienst zu beziehen, "zumal jetzt konstitutionsbedingte bzw. nachkriegseigentümliche Verhältnisse für die Persistenz der Regulationsstörung verantwortlich zu machen seien". Ebensowenig durfte das Berufungsgericht der Beurteilung des Prof. Dr. B entnehmen, nach dessen Auffassung sei "insoweit eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten, als nach einem Zeitraum von über fünf Jahren die nach wie vor bestehende Fehlregulation des vegetativen Nervensystems nunmehr nicht mehr durch die ursprünglich sich verschlimmernd auswirkenden Einflüsse der Haft, sondern durch inzwischen hinzugekommene andere Umstände gesteuert werde". Denn in diesem Sinne hat sich Prof. Dr. B an keiner Stelle seines umfangreichen Gutachtens geäußert. Seinen Ausführungen, daß die beim Kläger bestehenden konstitutionsbedingten "Fehlregulationen des vegetativen Nervensystems mit labilem Bluthochdruck" nicht durch Internierung oder Wehrdienst verursacht oder verschlimmert worden seien, kann in dieser Form nur entnommen werden, daß er die frühere Diagnose für zutreffend hält; dagegen geht aus ihnen nicht, wie das Berufungsgericht meint, hervor, daß er auch die damalige Anerkennung des Leidens als Schädigungsfolge, wenn auch nur im Sinne der abgegrenzten Verschlimmerung, als richtig ansieht. Vielmehr muß seiner abschließenden Beurteilung der im Streit stehenden Frage entnommen werden, daß nach seiner Auffassung die damalige Anerkennung rechtswidrig gewesen ist und gar nicht hätte erfolgen dürfen. Das aber würde, will man Prof. Dr. B folgen, bedeuten, daß die Versorgungsbehörde bei Erteilung des Bescheides vom 4. Januar 1955 einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der festgestellten Fehlregulation und Einflüssen der Haft angenommen hat, der in Wirklichkeit nicht bestand. Damit würde gleichzeitig die Möglichkeit zur Erteilung eines Neufeststellungsbescheides nach § 62 Abs. 1 BVG entfallen.
Aus alledem ist ersichtlich, daß das LSG die gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung überschritten hat, wenn es glaubte, seine Auffassung, daß die Anerkennung der Fehlregulationen als Schädigungsleiden im Sinne der abgegrenzten Verschlimmerung im Jahre 1955 zu Recht erfolgt sei, gleichermaßen auf die versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Dr. P und auf das Gutachten des Prof. Dr. B stützen zu können. Insbesondere hätte es auch nicht in dem von ihm zu entscheidenden konkreten Rechtsstreit zur Stützung seiner Auffassung auf - den Rechtsstreit als solchen nicht betreffende - allgemeine medizinisch-wissenschaftliche Abhandlungen oder Meinungen ausweichen dürfen, wenn es - aus welchen Gründen auch immer - glaubte, der klaren und unmißverständlichen Äußerung des Prof. Dr. B einen anderen Sinn geben zu müssen. Vielmehr wäre es, wenn es im Hinblick auf die versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Dr. P Zweifel über den wahren Inhalt des Gutachtens des Prof. Dr. B und über den wahren Sinn seiner Beurteilung gehabt hätte, im Rahmen seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung (§ 103 SGG) gehalten gewesen, zu der Frage, ob die Anerkennung der Fehlregulationen im Januar 1955 zu Recht oder zu Unrecht erfolgt ist, entweder ein weiteres ärztliches Gutachten einzuholen oder mindestens Rückfrage bei Prof. Dr. B über die von diesem getroffenen Feststellungen zu halten. Nur auf diese Weise hätte in dem für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlichen Umfang hinseichend geklärt werden können, ob tatsächlich die beim Kläger bestehende Fehlregulation durch Einflüsse der Haft eine - abgegrenzte - Verschlimmerung erfahren hat, ob die bei Erlaß des Bescheides vom 4. Januar 1955 von der Versorgungsbehörde zugrunde gelegten Verhältnisse objektiv vorgelegen haben, und ob insoweit die Möglichkeit zur Anwendung des § 62 Abs. 1 BVG wegen Änderung der Verhältnisse bestand.
Wegen der vom Kläger gerügten und auch vorliegenden wesentlichen Mängel im Verfahren des LSG konnte deshalb das angefochtene Urteil keinen Bestand haben und mußte aufgehoben werden. Eine eigene Entscheidung des erkennenden Senats war wegen der mangelhaften Beweiswürdigung durch das Vordergericht nicht tunlich, sie war, da dem Revisionsgericht eigene Beweiserhebungen verwehrt sind, im Hinblick auf den nicht hinreichend aufgeklärten medizinischen Sachverhalt auch nicht möglich. Die Sache war deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG), ohne daß die Möglichkeit bestand, auch zu der Frage Stellung zu nehmen, wegen der die Revision zugelassen worden ist.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen