Entscheidungsstichwort (Thema)
Invalidenrente aus der Arbeiterrentenversicherung. Erhaltung der Anwartschaft trotz Nichtzahlung von Beiträgen
Orientierungssatz
Eine nach SVAnpG § 4 Abs 2 bzw SVVereinfV 1 Art 19 erhaltene Anwartschaft für eine Invalidenrente aus der Arbeiterrentenversicherung kann wegen der Nichtentrichtung von Beiträgen nicht mehr verloren gehen, wenn der Rentenantragsteller nach Inkrafttreten des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes (SVAnpG) sein 65. Lebensjahr vollendet hat und damit gemäß RVO § 1264 Abs 3 keine Beiträge zur Erhaltung der Anwartschaft mehr zu entrichten brauchte.
Normenkette
SVAnpG § 4 Abs. 2 Fassung: 1949-06-17; RVO § 1264 Abs. 2; SVVereinfV 1 Art. 19 Fassung: 1945-03-17; RVO § 1264 Abs. 3
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 25.11.1954) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 25. November 1954 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Gebühr für die Berufstätigkeit des im Armenrecht bestellten Rechtsanwalts Dr. M. in K vor dem Bundessozialgericht wird auf 80,- DM festgesetzt.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der am 17. Mai 1881 geborene, in seiner Jugend, zwischenzeitlich und nach 1945 wieder laufend in der Landwirtschaft tätige Kläger war bei der Beklagten als Abraum- bzw. Grubenarbeiter mit Unterbrechungen von 1905 bis 1912 und später wieder von 1924 bis April 1925 pflichtversichert; Beiträge zur Invalidenversicherung hatte er mit Unterbrechungen von 1899 bis 1915 und von 1923 bis Mitte 1924 gezahlt; am 1. Weltkrieg hatte er 29 Monate teilgenommen. Insgesamt sind für den Kläger 617 Beitragswochen und 125 auf die Wartezeit anrechenbare Kriegsdienstwochen nachgewiesen.
Am 2. November 1951 beantragte der Kläger die Gewährung der Knappschaftsvollrente wegen Erreichung des 65. Lebensjahres; die Beklagte lehnte diesen Antrag ab, da die Wartezeit von 780 Wochen nicht erfüllt sei. Gleichzeitig lehnte die Beklagte auch den Anspruch auf Gewährung der Knappschaftsvollrente wegen Invalidität ab; Invalidität liege zwar seit der Antragstellung vor, die Anwartschaft des Klägers sei jedoch mangels Beitragszahlung seit 1938 erloschen und auch durch die Halbdeckungsvorschriften nicht erhalten.
Das Sozialgericht (SG.) in München, auf das die an das Knappschaftsoberversicherungsamt München eingelegte Berufung nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übergegangen war, wies die Klage ab.
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) in München hob auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG. und den Bescheid der Beklagten auf und erklärte den Anspruch des Klägers auf eine Gesamtleistung aus der Invalidenversicherung und der knappschaftlichen Rentenversicherung vom 1. Dezember 1951 ab dem Grunde nach für gerechtfertigt.
Das LSG. geht in seiner Entscheidung unter Berufung auf die Grundsätzliche Entscheidung Nr. 107 des früheren Bayerischen Landesversicherungsamts von der Rechtsgültigkeit des Art. 19 der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945 aus und kommt - da es für das Vorliegen von Invalidität schon vor dem 1. April 1945 keinen Anhaltspunkt findet -, dazu, daß die Anwartschaft des Klägers aus allen Beiträgen bis zum 31. Dezember 1948 erhalten sei. Da der Kläger zu diesem Zeitpunkt bereits über 65 Jahre alt und daher nach § 1264 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) beitragsfrei war, habe seine Anwartschaft auch nicht mehr erlöschen können, so daß ihm nach § 1286 RVO die Gesamtleistung vom 1. Dezember 1951 an zustehe.
Wegen des hohen Alters des Klägers hat das LSG. davon abgesehen, die entscheidungsreife Sache entsprechend dem Antrag des Beklagten zu vertagen.
Es hat die Revision gegen sein Urteil zugelassen.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 28. Januar 1955 zugestellte Urteil am 19. Februar 1955 Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet.
Sie rügt einzig die Auffassung des Berufungsgerichts, Art. 19 der Verordnung vom 17. März 1945 habe in Bayern gegolten, als unrichtig und begründet diese Rüge im wesentlichen damit, daß dem Reichsarbeitsminister die Ermächtigung zum wirksamen Erlaß der Verordnung gefehlt habe, die Verordnung vielmehr jeder rechtlichen Grundlage entbehre, daß die Verordnung in Bayern nicht wirksam verkündet sei und daß ihre Anwendbarkeit durch neugebildetes Gewohnheitsrecht ausgeschlossen sei.
Sie beantragt,
das Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger hat demgegenüber die Zurückweisung der Revision beantragt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt worden; sie ist vom LSG. zugelassen und daher statthaft.
Die Revision ist jedoch nicht begründet.
I. Wie das LSG. mit den Vorinstanzen ohne Rechtsirrtum angenommen hat, ist die Wartezeit nur für eine Invalidenrente, die wegen Invalidität, nicht jedoch für eine wegen Erreichung des 65. Lebensjahres zu gewährende Invalidenrente erfüllt. Mit Recht hat das LSG. unter diesen Umständen den Antrag auf Gewährung der Gesamtleistung wegen Erreichung des 65. Lebensjahres in einen gleichzeitig gestellten Antrag auf Gewährung der Gesamtleistung wegen Invalidität umgedeutet.
II. Der Kläger ist, wie vom LSG. bindend festgestellt worden ist, nach dem 1. April 1945 invalide geworden; eine Feststellung des genauen Zeitpunkts des Eintritts der Invalidität ist in dem angefochtenen Urteil nicht getroffen. Jedenfalls aber ergibt sich aus ihm, daß das Vorliegen von Invalidität spätestens für den Zeitpunkt der Antragstellung (November 1951) angenommen wird.
Falls die Invalidität erst nach dem Inkrafttreten des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes (SVAG) eingetreten wäre, rechtfertigte bereits sein § 4 Abs. 2 die Annahme der angefochtenen Entscheidung, die Anwartschaft des Klägers sei bis zum 31. Dezember 1948 erhalten.
Ist dagegen die Invalidität bereits früher eingetreten, so hängt die Entscheidung von der Frage der Rechtsgültigkeit des Art. 19 der Verordnung vom 17. März 1945 in Bayern ab. Wie bereits der 3. Senat des Bundessozialgerichts (BSG.) durch Urteil vom 11. Juli 1956 (3 RJ 128/54) entschieden hat, ist die Anwartschaftsvorschrift des Art. 19 spätestens am 7. Dezember 1949 im ganzen Bundesgebiet wirksam geworden, soweit dieser Artikel infolge des inzwischen eingetretenen Inkrafttretens des SVAG überhaupt noch Bedeutung hatte. Dieser Entscheidung, der sich bereits der 4. Senat des BSG. in seinem Urteil vom 6. September 1956 (4 RJ 111/54) angeschlossen hat, schließt sich der erkennende Senat ebenfalls an. Falls demnach der Versicherungsfall in dieser vor dem Inkrafttreten des SVAG liegenden Zeitspanne eingetreten ist, so gilt die Anwartschaft aus allen Beiträgen nach Art. 19 a. a. O. als erhalten, da der Kläger bis zum 31. März 1945 für die Zeit nach 1923 Beiträge entrichtet hat.
Spätestens seit Vollendung des 65. Lebensjahres im Jahre 1946 brauchte der Kläger nach § 1264 Abs. 3 RVO keine Beiträge zur Erhaltung der Anwartschaft mehr zu entrichten. Die nach § 4 Abs. 2 SVAG bzw. Art. 19 der Verordnung vom 17. März 1945 erhaltene Anwartschaft konnte daher wegen Nichtentrichtung von Beiträgen nicht mehr verloren gehen.
Der Anspruch des Klägers auf Invalidenrente besteht somit zu Recht.
III. Die von dem LSG. gewählte Fassung für das von ihm zulässigerweise erlassene Grundurteil konnte Zweifel offen lassen, ob tatsächlich unter Nr. 2 des Urteilstenors ein Leistungs- oder ein Feststellungsurteil beabsichtigt war. Nach dem Inhalt der angefochtenen Entscheidung ist davon auszugehen, daß ein Leistungsurteil beabsichtigt war, wie dies offenbar von den Beteiligten auch übereinstimmend angenommen wird. Es erübrigte sich somit eine Klarstellung dieses Umstands in dem Urteilsausspruch des BSG. Die Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Festsetzung der Höhe der Gebühr für den Rechtsanwalt auf § 196 SGG.
Fundstellen