Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht oder bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Rückausnahme. fünfjähriger gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet. Meldungen bei der Meldebehörde. Unterbrechungen
Leitsatz (amtlich)
Die Rückausnahme vom Leistungsausschluss für Ausländer aufgrund gewöhnlichen Aufenthalts setzt einen solchen Aufenthalt ohne wesentliche Unterbrechung von fünf Jahren ab der ersten ordnungsbehördlichen Anmeldung im Bundesgebiet voraus, nicht aber die permanente Meldung während dieses Zeitraums.
Orientierungssatz
Eine kurzfristige Inhaftierung von drei Tagen stellt keine wesentliche Unterbrechung der Fünfjahresfrist mit der Folge, dass diese nach der Haftentlassung wieder neu beginnt, dar.
Normenkette
SGB 2 § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, Sätze 4-6; SGB I §§ 30, 37; FreizügG/EU 2004 §§ 2, 4; GG Art. 3
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 26. Januar 2022 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für Januar 2018 bis einschließlich Februar 2019, insbesondere über die Frage eines Leistungsausschlusses des Klägers als Ausländer.
Der 1976 geborene Kläger ist Staatsangehöriger der Republik Polen. Er reiste erstmals 2009 in die Bundesrepublik Deutschland ein und hält sich seitdem im Inland auf. Die erste behördliche Anmeldung hier erfolgte am 21.4.2009; seitdem war er - mit Unterbrechungen - im Inland gemeldet. Vom 30.10. bis zum 1.11.2016 verbüßte er eine Freiheitsstrafe wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe.
Den Leistungsantrag des Klägers vom 17.1.2018 lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 13.2.2018; Widerspruchsbescheid vom 19.6.2018) . Der Kläger habe allein ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche. Ein Daueraufenthaltsrecht sei nicht erkennbar.
Die Ausländerbehörde der Stadt H teilte dem Beklagten mit, dass dem Kläger kein rechtmäßiger Aufenthalt in H und kein Daueraufenthaltsrecht bestätigt werden könne (E-Mail vom 7.9.2018) .
Das SG verpflichtete den Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung, dem Kläger vorläufig ab dem 18.7.2018 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis zum 18.1.2019 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Form des Regelbedarfs zu gewähren (Beschluss vom 2.10.2018 - S 35 AS 3581/18 ER ) . Das LSG wies die vom Beklagten eingelegte Beschwerde zurück (Beschluss vom 9.1.2019 - L 2 AS 1638/18 B ER) . Ausdrücklich in Ausführung des Beschlusses des SG zahlte der Beklagte dem Kläger vorläufig Leistungen für den tenorierten Zeitraum (Bescheid vom 22.1.2019) .
Das SG hat den Bescheid des Beklagten vom 13.2.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.6.2018 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1.1.2018 bis zum 31.12.2018 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II iHv 416 Euro monatlich sowie für die Zeit vom 1.1.2019 bis zum 28.2.2019 iHv 424 Euro monatlich zu gewähren (Urteil vom 26.1.2022) . Der Kläger sei nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen gewesen. Er habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit 2009 im Bundesgebiet. Dass der Kläger seit seiner erstmaligen Meldung im Bundesgebiet nicht durchgängig gemeldet gewesen sei, sei unschädlich.
Hiergegen richtet sich die vom SG zugelassene Revision des Beklagten, der eine Verletzung des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Buchst b, Satz 4 bis 6 SGB II rügt. Der Kläger habe allenfalls ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche und sei deshalb von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Die Rückausnahme des § 7 Abs 1 Satz 4 SGB II greife nicht ein. Sie setze eine durchgehende Meldung in der Bundesrepublik Deutschland voraus. Zudem führten Zeiten der Inhaftierung zu einer "Unterbrechung" des Fünfjahreszeitraums.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 26. Januar 2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Er verteidigt das angegriffene Urteil.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet.
1. Der Senat konnte in Abwesenheit des Bevollmächtigten des Klägers entscheiden, nachdem dieser in der Ladung auf die Möglichkeit der Entscheidung nach Lage der Akten im Fall des Ausbleibens ( § 165 Satz 1 iVm § 153 Abs 1 iVm § 110 Abs 1 Satz 2 SGG ) hingewiesen worden ist. Die Zulässigkeit der Entscheidung nach Lage der Akten ( § 126 SGG ) schließt die Möglichkeit einer Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung in Abwesenheit der Beteiligten oder eines Teils der Beteiligten ein (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 126 RdNr 4) . Der Bevollmächtigte des Klägers hat sich im Übrigen, ohne dass es hierauf ankäme, mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt.
2. Die Sprungrevision des Beklagten ist zulässig.
Gemäß § 161 Abs 1 Satz 1 SGG steht den Beteiligten gegen das Urteil eines SG die Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz zu, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und sie vom SG im Urteil oder auf Antrag durch Beschluss zugelassen worden ist. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag oder, wenn die Revision im Urteil zugelassen ist, der Revisionsschrift beizufügen ( § 161 Abs 1 Satz 3 SGG ) . Wenn die Revision wie hier im Urteil zugelassen ist, setzt die Zulässigkeit der Sprungrevision also voraus, dass der Rechtsmittelgegner der Einlegung des Rechtsmittels schriftlich zugestimmt hat und diese Zustimmungserklärung der Revisionsschrift beigefügt wird; die schriftliche Zustimmungserklärung muss innerhalb der Revisionsfrist vorgelegt werden ( BSG vom 11.4.2022 - B 4 AS 8/21 R - SozR 4-1500 § 161 Nr 6 RdNr 7 mwN) .
Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Das SG hat die Revision zum BSG im Tenor des angefochtenen Urteils ausdrücklich zugelassen. Der Beklagte hat die Revision innerhalb der bis zum 25.3.2022 laufenden Revisionsfrist eingelegt. Er hat zudem die Zustimmungserklärung des Gegners form- und fristgerecht vorgelegt, weil er eine beglaubigte Abschrift des Protokolls der mündlichen Verhandlung vor dem SG, in der der Kläger vor der Urteilsverkündung seine Zustimmung zur Einlegung der Sprungrevision erklärt hat, beigefügt hat (vgl zu dieser Möglichkeit BSG vom 30.6.1960 - GS 1/59 - BSGE 12, 230 = SozR Nr 14 zu § 161 SGG) . Dabei ist unschädlich, dass der Beklagte das beglaubigte Protokoll eingescannt und über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (lediglich) als pdf-Datei übermittelt hat (vgl BSG vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R - BSGE 108, 289 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 13 f; vgl auch BSG vom 11.4.2022 - B 4 AS 8/21 R - SozR 4-1500 § 161 Nr 6 RdNr 8) , zumal für den Beklagten gemäß § 65d SGG seit dem 1.1.2022 sogar die Pflicht besteht, derartige Schriftstücke als elektronisches Dokument einzureichen.
3. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben der vorinstanzlichen Entscheidung der Bescheid vom 13.2.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.6.2018 ( § 95 SGG ) , mit dem der Beklagte den Leistungsantrag des Klägers vom 17.1.2018 abgelehnt hat. Nachdem nur der Beklagte Revision eingelegt hat, ergibt sich der Streitgegenstand in zeitlicher Hinsicht aus dem Umfang der Verurteilung des Beklagten durch das SG; er währt vom 1.1.2018 bis zum 28.2.2019. Der Bescheid vom 22.1.2019 ist hingegen nicht nach § 86 Halbsatz 1 SGG Gegenstand des Vorverfahrens geworden, weil er lediglich zur Umsetzung der einstweiligen Anordnung des SG erlassen worden ist, ihm insoweit daher die Regelungswirkung ( § 31 Satz 1 SGB X ) fehlt (vgl BSG vom 6.6.2023 - B 4 AS 4/22 R - RdNr 14 mwN - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) .
4. Die Sprungrevision des Beklagten ist aber unbegründet und daher zurückzuweisen ( § 170 Abs 1 Satz 1 SGG ) . Das SG hat den Beklagten zu Recht verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1.1.2018 bis zum 31.12.2018 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II iHv 416 Euro monatlich sowie für die Zeit vom 1.1.2019 bis zum 28.2.2019 iHv 424 Euro monatlich zu gewähren.
a) Die Klage ist zulässig. Dass dem Kläger aufgrund der einstweiligen Anordnung des SG vom 2.10.2018 Leistungen des Beklagten für die Zeit vom 18.7.2018 bis zum 18.1.2019 erbracht worden sind, steht seinem Rechtsschutzbedürfnis auch für diesen Zeitraum nicht entgegen. Denn die Wirkung dieser einstweiligen Anordnung würde, nachdem diese nicht bereits im Beschwerdeverfahren aufgehoben worden ist, spätestens mit Bestandskraft des die Leistungsgewährung ablehnenden Bescheids vom 13.2.2018 entfallen (vgl BSG vom 6.6.2023 - B 4 AS 4/22 R - RdNr 17 mwN - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) . In diesem Fall wäre der Kläger ipso iure zur Rückzahlung der erbrachten Leistungen verpflichtet (vgl BSG vom 4.3.2021 - B 11 AL 5/20 R - BSGE 131, 286 = SozR 4-1300 § 50 Nr 7, RdNr 28; BSG vom 6.6.2023 - B 4 AS 4/22 R - RdNr 17 - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) .
Richtige Klageart ist auch in der vorliegenden Konstellation die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage. Zwar hat der Kläger die begehrten Leistungen vom Beklagten aufgrund der einstweiligen Anordnung des SG bereits teilweise erhalten, so dass insofern die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ausreichen würde (vgl BSG vom 6.6.2023 - B 4 AS 4/22 R - RdNr 18 mwN - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) . Da die bereits erbrachten Leistungen aber nicht den gesamten streitbefangenen Zeitraum betreffen, muss dem Kläger insgesamt die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage offenstehen (vgl BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43, RdNr 14) . Der Beklagte ist durch die Verurteilung nicht mit dem Einwand der (teilweisen) Erfüllung ausgeschlossen (vgl BSG vom 6.6.2023 - B 4 AS 4/22 R - RdNr 30 - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) .
Dafür, dass der Kläger während des streitbefangenen Zeitraums einen neuen Leistungsantrag gestellt hätte, der zur Zäsur des Streitgegenstands geführt hätte (dazu BSG vom 6.6.2023 - B 4 AS 4/22 R - RdNr 35 ff - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) , ohne dass über den anschließenden Zeitraum eine Verwaltungsentscheidung getroffen worden wäre, ist nichts ersichtlich.
b) Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 13.2.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.6.2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II in der vom SG zugesprochenen Höhe für Januar 2018 bis Februar 2019.
aa) Aus den Feststellungen des SG, an die der Senat gebunden ist ( § 163 SGG ) , und deren rechtlicher Würdigung, die revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist, ergibt sich, dass der Kläger im streitbefangenen Zeitraum die Voraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II erfüllt hat.
bb) Der Kläger, der Staatsangehöriger der Republik Polen ist, war auch nicht gemäß § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Buchst a und b, Satz 4 bis 7 SGB II (in der hier anzuwendenden, vom 29.12.2016 bis 31.12.2020 geltenden Fassung des Gesetzes vom 22.12.2016, BGBl I 3155) von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Buchst a und b SGB II aF sind "ausgenommen" - erhalten also keine Leistungen nach dem SGB II - Ausländerinnen und Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht haben oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen (zur Vereinbarkeit dieses Leistungsausschlusses mit Verfassungs- und EU-RechtBSG vom 29.3.2022 - B 4 AS 2/21 R - BSGE 134, 45 = SozR 4-1100 Art 1 Nr 20, RdNr 34 ff; BSG vom 6.6.2023 - B 4 AS 4/22 R - RdNr 27 f mwN - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) . Zwar kann der Senat angesichts insofern fehlender Feststellungen des SG nicht beurteilen, ob in der Person des Klägers die Voraussetzungen für einen solchen Leistungsausschluss vorlagen. Jedenfalls greift aber die Rückausnahme des § 7 Abs 1 Satz 4 SGB II zugunsten des Klägers ein.
(1) Nach § 7 Abs 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen abweichend von § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben.
Der Gesetzgeber ist mit dieser Leistungsberechtigung hinter den für das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 2 Abs 2 Nr 7 iVm § 4a Abs 1 Satz 1 FreizügG/EU (vgl Art 16 Abs 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 [Freizügigkeitsrichtlinie]) notwendigen Voraussetzungen zurückgeblieben (vgl Leopold in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 7 RdNr 163). Für das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts ist ein Aufenthalt, der sich allein auf die generelle Freizügigkeitsvermutung stützt, nicht ausreichend ( BSG vom 12.9.2018 - B 14 AS 18/17 R - juris RdNr 26 mwN) . Erforderlich ist vielmehr, dass sich der Unionsbürger ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat und der Aufenthalt im Einklang mit den Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 der Richtlinie 2004/38 stand ( EuGH vom 6.9.2012 - C-147/11 ua - juris RdNr 40; BVerwG vom 16.7.2015 - 1 C 22/14 - Buchholz 402.261 § 4a FreizügG/EU Nr 4 = juris RdNr 16 f mwN zur EuGH-Rechtsprechung) .
Demgegenüber setzt § 7 Abs 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II nur einen ununterbrochenen gewöhnlichen Aufenthalt von fünf Jahren ab erstmaliger behördlicher Anmeldung im Bundesgebiet voraus. Lediglich unwesentliche Unterbrechungen des Aufenthalts - zum Beispiel ein kurzer Heimatbesuch - sind unschädlich; ansonsten beginnt die Frist wieder neu zu laufen ( BSG vom 29.3.2022 - B 4 AS 2/21 R - BSGE 134, 45 = SozR 4-1100 Art 1 Nr 20, RdNr 26 unter Hinweis auf die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, BT-Drucks 18/10211 , S 14) .
Beachtlich sind dabei nur Zeiten eines gewöhnlichen Aufenthalts, die nach einer Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde liegen. Dies ergibt sich aus § 7 Abs 1 Satz 5 SGB II , wonach die Fünfjahresfrist mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde beginnt. Der Gesetzgeber wollte mit der Regelung des § 7 Abs 1 Satz 4 SGB II einem längeren verfestigten Aufenthalt in Deutschland Rechnung tragen und ging dabei davon aus, dass die Betroffenen ihre Verbindung zu Deutschland, die Voraussetzung für eine Aufenthaltsverfestigung sei, durch die Meldung bei der Meldebehörde dokumentierten (Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drucks 18/10211 , S 14) . Die Anmeldung bei der Meldebehörde ist damit nicht nur Beweiserleichterung, sondern ihr kommt konstitutive Wirkung zu (Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider/Busse, SGB XII, 21. Aufl 2023, § 23 RdNr 100; A. Loose in Hohm, SGB II, § 7 RdNr 74.6, Stand November 2018) . Die Meldeobliegenheit nach § 7 Abs 1 Satz 5 SGB II besteht dabei unabhängig von einer ordnungsrechtlichen Meldepflicht (vgl A. Loose in Hohm, SGB II, § 7 RdNr 74.6, Stand November 2018) .
Einen gewöhnlichen Aufenthalt hat gemäß § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I , der gemäß § 37 Satz 1 SGB I auch im SGB II anwendbar ist (vgl BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 18) , jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Erforderlich ist damit eine vorausschauende Betrachtung, also eine Prognose ( BSG vom 17.12.2014 - B 8 SO 19/13 R - juris RdNr 15 ; BSG vom 8.3.2023 - B 7 AS 7/22 R - RdNr 17 - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; ausführlich zum Wesen einer Prognoseentscheidung BSG vom 27.3.2020 - B 10 EG 7/18 R - BSGE 130, 103 = SozR 4-7837 § 1 Nr 9, RdNr 28 ff) , die sich im Laufe der Zeit auch verändern kann (vgl BSG vom 27.3.2020 - B 10 EG 7/18 R - BSGE 130, 103 = SozR 4-7837 § 1 Nr 9, RdNr 28) . Die Prognose hat unter Berücksichtigung aller für die Beurteilung der künftigen Entwicklung im Zeitpunkt des Eintreffens am maßgeblichen Ort erkennbaren Umstände zu erfolgen ( BSG vom 17.12.2014 - B 8 SO 19/13 R - juris RdNr 15 mwN) . Dies gilt auch dann, wenn - wie hier - der gewöhnliche Aufenthalt rückblickend zu ermitteln ist ( BSG vom 17.12.2014 - B 8 SO 19/13 R - juris RdNr 15 ; BSG vom 1.3.2018 - B 8 SO 22/16 R - SozR 4-3250 § 14 Nr 28 RdNr 20; BSG vom 23.2.2023 - B 8 SO 8/21 R - RdNr 23 - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen) . Davon, dass ein gewöhnlicher Aufenthalt bestand, müssen sich die Gerichte die volle Überzeugung verschaffen ( § 128 Abs 1 Satz 1 SGG ; vgl zu den Anforderungen Giesbert in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 128 RdNr 26 ff mwN; Hübschmann in BeckOGK, § 128 SGG RdNr 20 ff mwN, Stand 1.8.2023; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 128 RdNr 3b mwN); derjenige, der Leistungen begehrt, trägt insofern die objektive Beweislast (vglBVerfG [Kammer] vom 1.2.2010 -1 BvR 20/10 - juris RdNr 2;BSG vom 29.11.2022 - B 4 AS 64/21 R - SozR 4-4200 § 41a Nr 7RdNr 34mwN - auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).
Feststellungen zu den tatsächlichen Umständen des Aufenthalts einer Person sind als tatrichterliche Feststellungen für den Senat bindend ( § 163 SGG ) . Die darauf aufbauende Prognose und rechtliche Beurteilung, dass diese Person auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gehabt habe, unterliegt hingegen der Beurteilung des Revisionsgerichts (vgl BSG vom 17.12.2014 - B 8 SO 19/13 R - juris RdNr 16 f; BSG vom 27.3.2020 - B 10 EG 7/18 R - BSGE 130, 103 = SozR 4-7837 § 1 Nr 9, RdNr 32; BSG vom 18.3.2021 - B 10 EG 6/19 R - SozR 4-7837 § 1 Nr 11 RdNr 30) .
(2) Aus der Gesamtschau der Ausführungen des SG ergibt sich noch mit hinreichender Sicherheit, dass das SG aufgrund der von ihm festgestellten tatsächlichen Umstände die (rückschauende) Prognose getroffen hat, dass der Kläger im maßgeblichen Zeitraum - seit der ersten Anmeldung am 21.4.2009 - seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte, ohne dass dies auf revisionsrechtliche Bedenken stößt.
Soweit der Beklagte mit der Revision vorbringt, dass Zeiten der Inhaftierung mangels rechtmäßigen Aufenthalts im Inland den Lauf der Fünfjahresfrist unterbrechen und der Fünfjahreszeitraum nach der Haftentlassung wieder neu beginnt, ist dem jedenfalls für die vorliegende Fallkonstellation nicht beizutreten. Bereits aufgrund der Kurzfristigkeit der Inhaftierung von drei Tagen war der gewöhnliche Aufenthalt in H nicht allein durch diese aufgegeben (vgl zum gewöhnlichen Aufenthalt am Gefängnisort während einer Inhaftierung auch BSG vom 29.5.1991 - 4 RA 38/90 - SozR 3-1200 § 30 Nr 5 S 8 = juris RdNr 22) .
(3) Der Anwendung des § 7 Abs 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II steht nicht entgegen, dass der Kläger seit dem Zeitpunkt seiner ersten Anmeldung am 21.4.2009 nicht durchweg im Inland gemeldet war. Der Senat teilt nicht die Auffassung der Revision, dass als Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nur solche Zeiten zu berücksichtigen sind, in denen der Betroffene zugleich behördlich gemeldet war (ebenso etwa LSG Berlin-Brandenburg vom 11.5.2020 - L 18 AS 1812/19 - juris RdNr 20 ; LSG Nordrhein-Westfalen vom 18.8.2021 - L 21 AS 1016/21 B ER - juris RdNr 9 ; LSG Berlin-Brandenburg vom 1.12.2022 - L 19 AS 929/22 B ER - juris RdNr 28 ; aA LSG Schleswig-Holstein vom 4.5.2018 - L 6 AS 59/18 B ER - juris RdNr 27 ; Hessisches LSG vom 16.10.2019 - L 7 AS 343/19 B ER - juris RdNr 24; LSG Berlin-Brandenburg vom 4.5.2020 - L 31 AS 602/20 B ER - juris RdNr 4 ff; LSG Berlin-Brandenburg vom 31.5.2021 - L 5 AS 457/21 B ER - juris RdNr 7 ) . § 7 Abs 1 Satz 5 SGB II regelt nur die Voraussetzung für den Beginn der Fünfjahresfrist. Der Normwortlaut sagt lediglich, dass die Frist nach Satz 4 mit der Anmeldung beginnt, ohne ausdrücklich anzuordnen, dass die Meldung auch über den gesamten Zeitraum von mindestens fünf Jahren Bestand haben muss. Der Regelung lässt sich damit nicht hinreichend entnehmen, dass neben das Erfordernis des gewöhnlichen Aufenthalts als weitere Voraussetzung die permanente Meldung in der Bundesrepublik Deutschland tritt. Etwas anderes vermag der Senat auch den entstehungsgeschichtlichen Dokumenten nicht zu entnehmen. Dass damit Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts vor der ersten Anmeldung nicht berücksichtigt werden, anschließende Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts ohne gleichzeitige Meldung aber schon, ist Folge der Regelung des § 7 Abs 1 Satz 5 SGB II . Die dahinterstehende, auf die mit der ersten Anmeldung verbundene Dokumentation der Verbindung zu Deutschland abstellende Differenzierung (Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drucks 18/10211 , S 14) des Gesetzes ist wegen dieses hinreichenden Sachgrunds auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz ( Art 3 Abs 1 GG ) vereinbar, sofern Art 3 Abs 1 GG in diesem Kontext überhaupt Maßstabswirkung entfaltet (vgl BSG vom 29.3.2022 - B 4 AS 2/21 R - BSGE 134, 45 = SozR 4-1100 Art 1 Nr 20, RdNr 44 mwN).
(4) Zu Recht ist das SG davon ausgegangen, dass der Anwendung des § 7 Abs 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II im vorliegenden Fall nicht § 7 Abs 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II entgegensteht. Danach gilt Halbsatz 1 nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs 1 FreizügG/EU festgestellt wurde. Diese Einschränkung des § 7 Abs 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II greift dann ein, wenn die zuständige Ausländerbehörde diese Verlustfeststellung durch Verwaltungsakt wirksam ( § 43 VwVfG ) gegenüber dem Ausländer getroffen hat. Daran fehlt es hier. Bei der E-Mail der Mitarbeiterin des Ausländeramts der Stadt H an den Beklagten vom 7.9.2018 handelt es sich ersichtlich nicht um eine eine Regelungs- und Außenwirkung intendierende Verfügung des Ausländeramts.
(5) Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 6 SGB II , wonach Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet werden, gibt es nach den Feststellungen des SG keinen Anhalt.
cc) Die Verurteilung des Beklagten erweist sich auch der Höhe nach als zutreffend. Nach den Feststellungen des SG bestand der Bedarf des Klägers im streitbefangenen Zeitraum zumindest aus dem Regelbedarf. Dieser betrug im Jahr 2018 monatlich 416 Euro ( § 20 Abs 1a SGB II iVm Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2018 vom 8.11.2017, BGBl I 3767) und im Jahr 2019 monatlich 424 Euro ( § 20 Abs 1a SGB II iVm Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2019 vom 19.10.2018, BGBI I 1766) . Weitere Bedarfe wären im Revisionsverfahren schon deshalb irrelevant gewesen, weil lediglich der Beklagte Revision gegen das Urteil des SG eingelegt hat. Zu berücksichtigendes Einkommen oder Vermögen war nach den Feststellungen des SG nicht gegeben, so dass der monatliche Anspruch jeweils in Höhe des Bedarfs bestand.
Fundstellen
FEVS 2024, 456 |
SGb 2023, 690 |
ZfF 2024, 120 |
MigRI 2024, 142 |
info-also 2024, 135 |