Orientierungssatz

Berufung bei Sperrfristurteilen - Berufungsausschluß nach SGG § 144 Abs 1 S 2 - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand:

1. Bei Sperrfristurteilen ist die Berufung wegen des besonderen Charakters der Sperrfrist uneingeschränkt zulässig.

2. Auch wenn ein Entziehungsbescheid der Alfu im Zusammenhang mit einer Sperrfristverhängung ausgesprochen worden ist, so ändert dies nichts an der Tatsache, daß es sich hierbei um einen Streit über wiederkehrende Leistungen bis zu 13 Wochen handelt, bei dem die Berufung gemäß SGG § 144 Abs 1 Nr 2 ausgeschlossen ist.

3. Eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung setzt die Rechtsmittelfrist nicht in Gang.

 

Normenkette

SGG § 143; AVAVG § 93c; SGG §§ 67, 144 Abs. 1 Nr. 2

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 09.12.1958)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 25.03.1958)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Dezember 1958 aufgehoben, soweit es den Sperrfristbescheid vom 19. September 1955 betrifft. Insoweit wird die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger bezog Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu). Mit Bescheid vom 19. September 1955 verhängte das Arbeitsamt (ArbA) gegen ihn eine Sperrfrist von sechs Wochen mit der Begründung, er habe die Arbeitsaufnahme bei einer Firma vereitelt. Nachdem der Kläger nach Auffassung des ArbA alsdann seine Einstellung auch bei einer anderen Firma vereitelt hatte, stellte es die Alfu-Zahlungen durch Bescheid vom 28. September 1955 mit Wirkung vom 22. September 1955 gemäß § 93c des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) a.F. ganz ein. Beide Widersprüche des Klägers wurden durch Bescheid vom 13. Oktober 1955 zurückgewiesen. Am 7. Oktober 1955 hat der Kläger Arbeit aufgenommen.

Das Sozialgericht (SG) ermäßigte durch Urteil vom 25. März 1958 die Sperrfrist auf vier Wochen und wies im übrigen die Klage ab. In der Rechtsmittelbelehrung dieses Urteils heißt es, Berufung sei nicht zulässig, es sei denn, daß ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt werde.

Der Kläger legte gegen das am 24. Mai 1958 zugestellte Urteil mit Schreiben vom 19. Juni 1958 - gerichtet an das SG und dort eingegangen am 21. Juni 1958 - Berufung ein. Dieses Schreiben gelangte am 27. Juni 1958 an das Landessozialgericht (LSG).

Das LSG Nordrhein-Westfalen verwarf die Berufung durch Urteil vom 9. Dezember 1958 als unzulässig. Es war der Auffassung, der Kläger habe die einmonatige Frist für die Einlegung der Berufung (§ 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) versäumt, da ihm eine zutreffende Rechtsmittelbelehrung erteilt worden sei. Der Hinweis, eine Berufung sei unzulässig, sofern nicht ein wesentlicher Fehler gerügt würde, sei zutreffend. Bei einer Sperrfriststreitigkeit sei die Berufung nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG ausgeschlossen, weil es sich hierbei um Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen handele. Es könne bei Anwendung dieser Vorschrift nicht darauf ankommen, ob der Kläger eine Aufhebungs- oder Leistungsklage erhebe; denn in der Sozialversicherung gehe der Klage in der Regel ein Verwaltungsakt voraus. Daher müsse in diesen Fällen immer eine Anfechtungs- bzw. Aufhebungsklage erhoben werden. § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG stelle nicht auf die prozessuale Klageart, sondern auf das Ziel ab, das der Kläger mit seiner Klage sachlich verfolge. Es könne auch nicht darauf ankommen, ob die Verhängung einer Sperrfrist als Folge einer Arbeitsunwilligkeit aus der Sicht des Betroffenen ein Mehr bedeute gegenüber der bloßen Verweigerung oder Beschränkung der Leistung. Insbesondere sei es ohne Bedeutung, daß der Betroffene dadurch "diskriminiert" würde; denn die subjektiven Vorstellungen über den Grund der Leistungsverweigerung seien unerheblich, weil dieser Grund von dem Prozeßanspruch nicht erfaßt werde. Auch soweit die Entziehung der Alfu im Streit sei, sei die Berufung ausgeschlossen, weil im vorliegenden Falle der Bescheid nur den Zeitraum vom 22. September bis 6. Oktober 1955 umfaßt habe. Da somit die Rechtsmittelbelehrung richtig erteilt wurde, sei die Frist zur Einlegung der Berufung vom Kläger versäumt worden. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hätten nicht vorgelegen, weil der Kläger die Rechtsmittelbelehrung nicht befolgt und schuldhaft gehandelt habe, indem er die Berufungsschrift an das SG und nicht an das LSG gerichtet habe. Revision wurde zugelassen. Das Urteil wurde dem Kläger am 27. Februar 1959 zugestellt.

Am 9. März 1959 beantragte der Kläger, ihm das Armenrecht für das Revisionsverfahren zu bewilligen. Mit Beschluß vom 2. Juli 1959 - zugestellt am 4. Juli 1959 - wurde diesem Antrag entsprochen und dem Kläger ein Rechtsanwalt als Prozeßbevollmächtigter beigeordnet. Dieser legte am 15. Juli 1959 Revision ein, beantragte wegen der Fristversäumnis Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und begründete die Revision.

Er trägt vor, die Berufung sei rechtzeitig erfolgt, weil die Rechtsmittelbelehrung des LSG unrichtig gewesen sei. Denn in Sperrfristfällen sei nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) wegen des besonderen Charakters der Sperrfrist die Berufung uneingeschränkt nach § 143 SGG zulässig. Das gleiche müsse für die Entziehung der Alfu nach § 93c AVAVG a.F. gelten, da auch hier der Betreffende als Arbeitsverweigerer hingestellt und damit diskriminiert werde; hinzukomme im vorliegenden Falle noch, daß die Entziehung der Alfu auch mit der Verhängung der Sperrfrist begründet worden sei. Zum mindesten habe aber das LSG wegen der Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen, da der rechtsunkundige Kläger sich darauf habe verlassen können, daß die frühzeitig beim SG eingereichte Berufungsschrift sofort an das LSG weitergeleitet werde.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 9. Dezember 1958 und des SG Düsseldorf vom 25. März 1958 sowie die Bescheide der Beklagten vom 19. September, 28. September und 13. Oktober 1955 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Unterstützung für die Dauer der Sperrfrist und für die Zeit vom 22. September bis 6. Oktober 1955 zu zahlen,

hilfsweise,

die Sache zur Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, die Berufung des Klägers sei zwar fristgerecht eingelegt, weil die Rechtsmittelbelehrung unrichtig gewesen sei; denn in Sperrfristfällen sei die Berufung zulässig. Die Klage sei aber insoweit sachlich unbegründet. Dagegen sei die Berufung bei der Entziehung der Leistung unzulässig, da es sich hierbei um einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen bis zu 13 Wochen handele.

II

Dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war stattzugeben (§ 67 SGG). Der Kläger war durch Armut und demnach ohne sein Verschulden verhindert, einen Prozeßbevollmächtigten zu bestellen und die Revisions- und Revisionsbegründungsfrist (§ 164 Abs. 1 SGG) einzuhalten. Die versäumten Rechtshandlungen sind innerhalb der Frist von einem Monat nach Wegfall des Hindernisses (§ 67 Abs. 2 SGG) nachgeholt worden. Innerhalb dieser Frist ist auch der Wiedereinsetzungsantrag gestellt worden.

Die Revision ist daher form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist statthaft, weil das LSG sie ausdrücklich zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist auch teilweise begründet. Es handelte sich bei dem Streitverfahren des Klägers um ein solches mit objektiver Klagehäufung; denn er machte damit zugleich die Anfechtung des Sperrfristbescheides und des Entziehungsbescheides geltend. Bei diesen Klagebegehren handelt es sich um selbständige prozessuale Ansprüche, die nur wegen ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge in einer Klage zusammengefaßt worden sind. Bei solchen selbständigen prozessualen Ansprüchen sind die Prozeßvoraussetzungen - hier die Zulässigkeit der Berufung - gesondert zu prüfen (vgl. BSG Bd. 3 S. 135 ff. (139); BSG Bd. 5 S. 222 ff. (225)).

Entgegen der Ansicht des LSG war die Berufung rechtzeitig. Denn der Kläger hat die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels nicht versäumt, weil die Rechtsmittelbelehrung im Urteil des SG unrichtig und die Einlegung der Berufung daher gemäß § 67 Abs. 2 SGG noch innerhalb eines Jahres nach Zustellung des Urteils zulässig war. Die Rechtsmittelbelehrung des SG war unrichtig, weil die Berufung gegen das Urteil des SG nach § 143 SGG uneingeschränkt zulässig war, soweit es den Sperrfristbescheid betraf. Denn die Berufung ist bei Sperrfristurteilen alten Rechts grundsätzlich zulässig, wie der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat (vgl. BSG Bd. 3 S. 298 ff.; Bd. 5 S. 87 ff.; Bd. 6 S. 80 ff.; Bd. 7 S. 29 ff.; BSG in SGb. 1958 S. 390 ff. und in SozR § 144 SGG Bl. Da 4 Nr. 15; Urteil vom 20.9.1960 - 7 RAr 120/57 -). Entgegen der vom LSG vertretenen Auffassung handelt es sich bei der Klage gegen einen Sperrfristbescheid nicht um eine bloße Leistungsklage; mit diesem Bescheid wird nicht nur die Leistung für einen bestimmten Zeitraum verweigert, sondern es handelt sich bei dem Institut der Sperrfrist um ein "Mehr". Damit wird die Substanz des Anspruchs berührt, wie vom Senat bereits ausgeführt worden ist. Durch die Sperrfrist-Vorschriften wird der Begriff der Arbeitswilligkeit, der in § 87 AVAVG a.F. nur programmatisch aufgeführt ist, ausgefüllt, und eine Entscheidung über die Sperrfrist betrifft dann immer auch diese Leistungsvoraussetzung, ganz abgesehen von der darin liegenden Diskriminierung des Arbeitslosen.

War somit die Berufung nach § 143 SGG zulässig, dann hat der Kläger die Frist zur Einlegung der Berufung nicht versäumt. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung und dem Nichteinhalten der Berufungsfrist ist nicht notwendig (vgl. BSG, Urteil vom 28.6.1955, Die Sozialgerichtsbarkeit 1955 S. 269; Haueisen, Wege zur Sozialversicherung, 1954 S. 374 ff.). Das LSG durfte die Berufung insoweit nicht als unzulässig verwerfen. Es hätte vielmehr ein Sachurteil erlassen müssen. Sein Urteil mußte daher insofern aufgehoben werden.

Da das LSG die für ein Sachurteil notwendigen tatsächlichen Feststellungen nicht getroffen hat, das BSG diese Feststellungen aber nicht treffen kann, mußte der Rechtsstreit, soweit er den Sperrfristbescheid betraf, zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Soweit der Kläger Aufhebung des Entziehungsbescheids und Weiterzahlung der Alfu für die Zeit vom 22. September bis 6. Oktober 1955 begehrt, ist die Berufung nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG ausgeschlossen, weil es sich hier um einen Streit über Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen bis zu 13 Wochen handelt. Dies hat der Senat bereits in anderem Zusammenhang entschieden (vgl. BSG 2 S. 124). Wenn der Kläger meint, die Entziehung sei im Zusammenhang mit einer Sperrfristverhängung ausgesprochen worden, auch durch einen Entziehungsbescheid nach § 93c AVAVG a.F. werde der Arbeitslose als arbeitsunwillig hingestellt und damit diskriminiert, so daß derartige Fälle wie die Verhängung einer Sperrfrist zu behandeln seien, so vermag dies eine andere rechtliche Beurteilung nicht zu rechtfertigen. Denn der Tatbestand einer Entziehung der Unterstützung hat im Gegensatz zur Sperrfrist keine weiteren Folgen; er betrifft auch nicht die Auszahlung der an sich zu gewährenden Unterstützung, sondern beseitigt diesen Anspruch schon dem Grunde nach. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, daß zur Begründung für die Entziehung der Alfu die frühere Verhängung einer Sperrfrist mit herangezogen worden war, da es auf den Grund der Ablehnung bei § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht ankommt.

Insoweit war daher die Revision zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil überlassen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325512

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